Andreas Kublik
· 04.12.2022
Annemiek van Vleuten strickt in Wollongong weiter an ihrer Legende und gewinnt trotz Ellbogenbruch das Straßenrennen bei der Rad-WM in Australien. Die weltmeisterlich fahrende Liane Lippert geht leer aus - ein Rückblick auf das WM-Straßenrennen der Damen.
Am Morgen sah es gar nicht mehr so gut aus für die Top-Favoriten dieser WM. Ein Duell der Italienerinnen um Titelverteidigerin Elisa Balsamo mit den Seriensiegerinnen aus den Niederlanden war erwartet worden. Aber eine Favoritin, die Niederländerin Demi Vollering, Zweite der Tour de France, musste morgens wegen eines positiven Corona-Tests passen.
Und hinter dem Start von Annemiek van Vleuten, die in diesem Jahr die Konkurrentinnen regelmäßig in Grund und Boden gefahren hatte, stand lange ein Fragezeichen. Kurz nach dem Start des Mannschaftszeitfahrens drei Tage zuvor war ihr beim Antritt die Kette vom großen Kettenblatt gefallen - die Weltranglisten-Erste schlug hart auf dem Asphalt auf. Diagnose laut Team-Bulletin: Ellenbogenbruch.
Und so verwunderte es nicht, dass die angeschlagene einstige Top-Favoritin des Rennens auf dem Rundkurs in Wollongong immer wieder abgehängt wurde und in der Unschärfe der Kameras verschwand, als die Polin Katarzyna Niewiadoma und Liane Lippert aus Friedrichshafen an den steilen Rampen die frühe Entscheidung suchten.
800 Meter vor dem Ziel flog van Vleuten mit bandagiertem Arm und mit einem Antritt im Sitzen an der zögernden Spitzengruppe vorbei zu ihrem zweiten WM-Titel im Straßenrennen. “Ich konnte wegen meines Ellenbogens nicht sprinten, ich musste deshalb von hinten attackieren - es war meine einzige Chance. Ich wartete darauf, dass sie mich übersprinten würden - aber sie haben mich nicht mehr gekriegt”, berichtete die Siegerin im Ziel.
“Unfassbar”, urteilte Ex-Profi Claudia Lichtenberg als Expertin am Mikrofon von Eurosport über dieses Comeback. Teamkollegin Marianne Vos, eigentlich an diesem Tag als Kapitänin des niederländischen Teams auserkoren, fuhr kopfschüttelnd über den Zielstrich. “Annemiek ist Annemiek - sie geht nicht kaputt”, sagte sie wenig später im Ziel am Mikrofon des heimischen TV-Senders NOS. Schmerzen scheint Annemiek van Vleuten nicht zu kennen. Gar ein Bluff wurde der Niederländerin angesichts der unglaublichen Wiederauferstehung unterstellt. “Ich hatte höllische Schmerzen”, entgegnete sie auf kritische Nachfragen.
Aber die Siegerin der Tour de France war in diesem WM-Rennen nicht die Stärkste im Feld. Das war die Anführerin des deutschen Nationalteams, Liane Lippert. Der Deutschen war die Strecke an der westaustralischen Küste auf den Leib geschneidert - mit kurzen, giftigen Anstiegen.
Die 24-Jährige wirkte in Australien im Zenit ihres bisherigen Schaffens - war am bis zu 14 Prozent steilen Mount Pleasant die Stärkste, aber fand keine Kooperationspartnerinnen, um Vos, van Vleuten & Co. dauerhaft abzuhängen: Weder die Italienerin Elisa Longo Borghini, mit der sie zwischenzeitlich an der Spitze des Rennens lag, noch die aufschließenden Rennfahrerinnen Niewiadoma, Ashleigh Moolman Pasio (Südafrika) und Cecilie Uttrup Ludwig (Dänemark) konnten oder wollten engagiert mitarbeiten. Mit der zögerlichen Fahrweise spielten sie den Verfolgerinnen inklusive der angeschlagenen van Vleuten in die Karten - aus deren Sturzpech wurde Rennglück.
Am Ende blieb Lippert im Sprint der Verfolgerinnen als Vierte knapp ohne Medaille - hinter der schnellen Belgierin Lotte Kopecky und Silvia Persico aus Italien. “Es ist frustrierend. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Stärkste in der Gruppe war. Ich wollte unbedingt aufs Podium, habe alles gegeben. Aber die anderen haben sich geschont, und die Verfolger konnten aufschließen. Verstehen kann ich das nicht”, meinte Lippert nach dem Rennen.
Im kommenden Jahr wechselt Lippert zu Team Movistar an die Seite der Weltmeisterin van Vleuten. Während van Vleuten im Regenbogen-Trikot auf ihre angeblich letzte Saison und ihr Karriereende zusteuert, weiß Lippert spätestens seit dem Rennen von Wollongong: Die Zukunft gehört ihr.
... 20. Ricarda Bauernfeind (GER), +0:13
Drei WM-Titel im Einzelzeitfahren hat Ellen van Dijk nun in ihrem Palmares stehen. Mit einem weiteren Titelgewinn könnte die 35-jährige Niederländerin mit Rekordweltmeisterin Jeannie Longo (Frankreich) gleichziehen. In Australien siegte van Dijk vor der Australierin Grace Brown (zwölf Sekunden zurück) und Europameisterin Marlen Reusser aus der Schweiz (41 Sekunden zurück). Beste Deutsche: Mieke Kröger auf Rang zwölf.
Erstmals gab es bei einer Straßen-Weltmeisterschaft bei den Frauen Medaillen in der U23-Klasse. Das erste Gold im Straßenrennen ging an die Neuseeländerin Niamh Fisher-Black. Die 22-jährige Eichstätterin Ricarda Bauernfeind holte hinter der Britin Pfeiffer Georgi Bronze.
Allerdings gab es, anders als bei den Männern, kein eigenes Rennen. Es wurde, ähnlich wie bei der Tour de France die Wertung für das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers, der Zieleinlauf des Elite-Rennens der Frauen nach Geburtsjahrgängen ausgewertet.
Bauernfeind und Georgi sprinteten also inmitten des zweiten Verfolgerfelds um die Medaillen. “Es ist keine gute Idee, das so umzusetzen”, kritisierte der deutsche Bundestrainer André Korff dieses Rennen im Rennen schon vor dem Start. Schließlich musste man sich im BDR-Team entscheiden, ob man WM-Neuling Bauernfeind als starke Helferin für Lippert einsetzen würde oder ob man mit einer Doppelstrategie Medaillen in beiden Wettbewerben anstreben sollte.
Sowohl Lippert als auch Bauernfeind sprachen sich für ein eigenes Rennen in der Übergangsklasse zwischen Juniorinnen-Wettbewerb und Eliterennen aus. “Grundsätzlich ist eine U23-Wertung gut, die hat noch gefehlt. Aber es verfälscht das Ergebnis, wenn man es in das Eliterennen integriert”, meinte Bauernfeind vor dem Start. “Es sollte wie bei der EM auch bei der WM klappen, ein eigenes Rennen zu organisieren. Wir stellen uns das in Zukunft anders vor”, betonte Lippert. Der Radsport-Weltverband UCI muss in Sachen Gleichberechtigung noch nachbessern.