Andreas Kublik
· 03.12.2022
Es war die Sensation der Rad-WM in Australien: Tobias Foss gewann das Einzelzeitfahren. In seiner Heimat Norwegen wird an der Zukunft des Radsports gearbeitet, obwohl die Heim-WM 2017 den Verband fast in den Ruin getrieben hätte.
Die Überraschung war groß. Überall. Bei allen. “Sensationelle Goldmedaille, historische Leistung”, schrieb Norwegens größte Zeitung Aftenposten. In der Heimat war man genauso überrascht wie andernorts auch. Die Konkurrenten in Australien, die Weltpresse, der Nationalcoach und selbst der Mann, um den es geht: Tobias Foss, der neue Weltmeister im Einzelzeitfahren. “Kann mich jemand aufwecken”, sagte er, nachdem er sich ungläubig übers Gesicht gewischt hatte.
Auch der letzte Konkurrent war im Ziel - der Schweizer Stefan Küng hatte nach 34 Kilometern Kampf gegen die Uhr die Bestmarke des Norwegers um drei Sekunden verpasst. Foss konnte sich im australischen Wollongong als Sensation der WM feiern lassen, als erster Weltmeister im Einzelzeitfahren der Eliteklasse, der aus Norwegen kommt. Zwölf Jahre, nachdem sich Landsmann Thor Hushovd als Erster aus dem skandinavischen Königreich als Profi-Weltmeister im Straßenrennen hatte feiern lassen, ebenfalls in Australien, in Geelong.
Die Sensation war besonders groß, weil sich Zeitfahrwettbewerbe eigentlich gut kalkulieren lassen - man kennt die Siegkandidaten, es geht nicht um Taktik, sondern um Dauer-Tretleistung und die in cw-Werten erfasste Aerodynamik. Aber an diesem Tag fanden weder der zweimalige Weltmeister Filippo Ganna noch der Schweizer Europameister Stefan Bissegger in den gewohnt kraftvollen Tritt. Und dem letztlich drittplatzierten Überflieger Remco Evenepoel fehlten vielleicht ein bisschen die Reserven - eine Woche nach seinem kräftezehrenden Sieg bei der Vuelta und der strapaziösen Anreise um den halben Globus inklusive Zeitverschiebung.
Und Küng? “Ich könnte heulen”, sagte der Schweizer, zuletzt schon Zweiter und Dritter bei der Rad-WM - alle hatte er geschlagen, die er glaubte, schlagen zu müsssen. Und dann tauchte dieser Norweger auf - vermeintlich aus dem Nirgendwo. Allein dessen Vater Alf Magne hatte laut Medienberichten 50 norwegische Kronen, knapp fünf Euro, auf den Sieg des eigenen Sprosses gesetzt - aber dass der Einsatz nach dem WM-Titel verhundertfacht wurde, konnte er selbst kaum glauben.
Tatsächlich galt der 25-jährige Foss schon lange als großes Talent seiner Generation – ganz ausweislich seines Sieges bei der Tour de l’Avenir 2019, die auch als Tour de France der U23-Klasse bezeichnet wird. Er entwickelte sich nur nicht ganz so rasant wie andere Avenir-Sieger: Nairo Quintana, Egan Bernal, Tadej Pogacar. Bei Foss dauerte es etwas länger - aber immerhin war er im vergangenen Jahr schon Neunter des Giro d’Italia. Aber es ist auch von vielen Zweifeln die Rede, die das Talent plagten und in seiner Leistung lähmten.
Aufgewachsen im 759-Einwohner-Dorf Vingrom am Mjösasee nahe Lillehammer, der Olympia-Stadt von 1994, versuchte sich der Jüngling zunächst als Biathlet - schoss aber nach eigenen Angaben zu oft daneben und landete so im Radsport. Längst versuchen sich Norwegens Ausdauertalente nicht nur im Skilanglauf und verwandten Disziplinen wie dem Biathlon. Foss ist nur Vorreiter einer Entwicklung, die seit den Erfolgen von Thor Hushovd anhält. Große Radsportkarrieren sind nicht mehr Einzelfälle wie bei Knud Knudsen in den 1970er-Jahren oder kein Zufall mehr wie noch bei Dag Otto Lauritzen, der erst nach einem verunglückten Fallschirmsprung als Soldat in den Radsport wechselte und 1984 Olympia-Bronze holte.
Seit einigen Jahren räumen die Skandinavier in den Nachwuchsklassen ab: Sven Erik Byström und Kristoffer Halvorsen gewannen zuletzt die Regenbogentrikots in der U23-Klasse, Per Strand Hagenes im Vorjahr in der Junioren-Kategorie. Tobias Halland Johannessen gewann die Tour de l’Avenir 2021, Landsmann Johannes Staune-Mittet wurde in diesem Jahr Zweiter. Und bei der Rad-WM in Australien holte Sören Waerenskjold erst den U23-Titel im Zeitfahren und dann Bronze im Straßenrennen.
In Norwegen haben sie allerdings auch erlebt, dass so eine WM eine zweischneidige Sache ist - vor allem, wenn man sie selbst ausrichtet. Die Straßen-WM in Bergen 2017 endete mit einem Schuldenberg von 9,5 Millionen norwegischen Kronen (rund 950.000 Euro) für Norges Cykleforbund. Ein Desaster - diese Summe entspricht dem Budget, das der norwegische Radsportverband für rund fünf bis sechs Jahre für die sportlichen Aktivitäten seiner Talente und Top-Sportler zur Verfügung hat. “Ohne das Geld von Uno-X wäre der Radsport in Norwegen tot”, sagt Stig Kristiansen, lange Jahre Norwegens Nationalcoach und jetzt Sportlicher Leiter beim Team Uno-X.
Vier Jahre lang sprang Uno-X als Sponsor der Verbandsaktivitäten ein. Ex-Profi Kurt Asle Arvesen ist Sportchef beim Team und Nationalcoach. Mit dem Geldgeber, der ein Tankstellen-Netz in Norwegen und Dänemark betreibt, ist das Wohl des norwegischen Radsports eng verknüpft. Unter Leitung von Jens Haugland, Geschäftsführer der Firma mit radsportbegeisterten Besitzern, fährt seit 2020 ein Profi-Team unter norwegischer Flagge. Noch wandern die Talente ab - wie Foss, der aus dem Uno-X-Nachwuchsteam zu Jumbo-Visma wechselte. Doch das soll sich ändern - das Ziel des Teams: eine World-Tour-Lizenz.
Auch auf dem Weg zu einem begehrten Profi-Vertrag sind die Bedingungen besser geworden, erläutert Kristiansen. In Norwegen gibt es mittlerweile sieben statt zuvor zwei Sportschulen mit Radsportangeboten. Aus der NTG-Schule in Lillehammer ist Foss hervorgegangen. “Wir schwimmen gerade bei der WM auf einer guten Welle. Aber wir sind immer noch eine kleine Radsportnation, wir haben zu wenige Radsportler auf hohem Niveau. Es ist also alles zerbrechlich”, warnt Nationalcoach Arvesen. Aber die nächste Generation steht schon an der Startlinie. Jörgen Nordhagen, EM-Zweiter und im WM-Rennen der Junioren als 17-Jähriger optisch einer der Stärksten, und Johannes Kulset gelten als Kandidaten für den ersten Tour-Sieg eines Norwegers. Könnte sein, dass sich die Szene dauerhaft an große Erfolge norwegischer Radsportler gewöhnen muss.
... 16. Nikias Arndt (GER), +1:43; ... 20. Miguel Heidemann (GER), +2:01