Andreas Kublik
· 30.12.2022
Vincenzo Nibali bestritt die Lombardei-Rundfahrt als letztes Rennen seiner Profi-Karriere. Beobachtungen vom Abschied des Radsport-Entertainers.
Die Energie verschafft sich über diese riesigen Hände Raum. Der Mann mit der hageren Figur, 65 Kilogramm verteilt auf 1,81 Meter Größe, die dunklen Haare kantig geschnitten, trommelt mit den Fingern auf den Helm in seinem Schoß; ein Geschenk des Sponsors Limar zur kommenden Feier des Tages. Auf der Schale des Kopfschutzes steht: “Vincenzo Nibali - 8.10.2022: Der Hai schließt den Vorhang.”
Es ist das Datum des letzten Rennens für den erfolgreichsten italienischen Radprofi der Gegenwart, der als einer von nur sieben Radsportlern alle drei großen Landesrundfahrten, Tour, Giro und Vuelta, gewonnen hat. Der letzte große Auftritt des Mannes, den sie wegen seiner angriffslustigen Fahrweise und seiner Herkunft aus Sizilien “Lo Squalo di Messina”, den Hai von Messina, getauft haben. Aber Nibali muss noch warten, bis er seine Energie zum letzten Mal einsetzen kann bei dem, was er am besten beherrscht: Radfahren.
Jetzt, am Tag vor dem Rennen, sitzt er etwas angespannt und ungeduldig im Garten von Le Vaccherie, einer Edelgastronomie vor den Toren Bergamos, und soll reden - wenn endlich die Kamera laufen würde. Er soll reden über seine Zeit als Radprofi und seinen letzten Beutezug bei der 116. Auflage der Lombardei-Rundfahrt - dabei sind Interviews eher nicht seine liebste Aufgabe im Job als Radprofi. Und eigentlich, so findet er, ist alles gesagt.
Seine Entscheidung stand schon länger fest: Kurz vor seinem 38. Geburtstag am 14. November sollte es genug sein mit der Plackerei auf dem Rennrad - nach 18 Saisons. Gereift war der Entschluss im vergangenen Winter, verkündet am 11. Mai, nach dem Zieleinlauf der Giro-Etappe in seiner Heimatstadt Messina, mit Tränen in den Augen. Danach folgte beim Giro eine Abschiedstour über den italienischen Stiefel. Seither gab es viele letzte Male als Radprofi, viele Abschiedsinterviews. Jetzt also der Abschied von den Abschiedsreden. Ob er bereit ist für den letzten großen Auftritt? “Prontissimo”, antwortet er. Bereiter geht nicht.
Es ist irgendwie Zufall und doch ein Wink des Schicksals, dass die Lombardei-Rundfahrt, letztes World-Tour-Rennen der Saison, die Bühne bereitet, auf der für Nibali der letzte Vorhang fällt. Hier hat er seinen “Sieg des Herzens” gefeiert, wie er erläutert. Es war in dem für ihn so schweren Jahr 2015, als er, nach seinem Sieg bei der Tour de France 2014, die übergroßen Erwartungen in der Heimat nicht erfüllen konnte.
Der Liebling der Massen wurde zum Opfer seines eigenen Erfolgs. Wer einmal gewinnt, soll immer gewinnen. Doch 2015 wurde er bei der Tour nur Vierter - nach dem Vorjahressieg zu wenig für kritische Beobachter. “Ich kann jetzt zugeben, dass ich unter dem Druck und den Erwartungen gelitten habe”, sagte er in einem Abschiedsinterview auf der Radsport-Website cyclingnews.com. Zudem hatte ihn Konkurrent Chris Froome nach seinem Etappensieg in La Toussuire hart angegangen: Er, Nibali, habe einen Defekt bei ihm, damals im Gelben Trikot, zur Attacke genutzt.
“Ich bin enttäuscht von seiner Wortwahl. Sie war zu hart, um hier wiederholt zu werden”, sagte der Italiener damals. Der Sizilianer war gekränkt. Wenig später wurde er unehrenhaft aus der Vuelta entlassen, nachdem er von Hubschrauberkameras dabei gefilmt worden war, wie er sich am Begleitauto hängend zurück ins Rennen ziehen ließ.
Binnen weniger Wochen war der Ruf des gefeierten Sportsmannes schwer beschädigt. Zumindest empfand es der sensible Radprofi so. “Massacrato” - massakriert - hätten ihn damals die Kritiker. Zu Unrecht, wie er glaubt. Der Mann, der für seine Angriffslust gefeiert wurde, musste seinen Ruf verteidigen. Und das tat er. Nibali stieg aufs Rad, trainierte in seiner sizilianischen Heimat wie ein Verrückter - und triumphierte zum Saisonabschluss 2015 mit seinem Sieg in der Lombardei über seine Kritiker.
In der Abfahrt vom Civiglio hatte er sich wie ein Raubfisch auf Beutezug aus der Spitzengruppe talwärts katapuliert, schmiegte sich - was damals noch erlaubt war - eng aufs Oberrohr und raste in beinahe selbstmörderischer Manier Richtung Sieg. Mehrfach schrammte er mit dem Knie knapp an den Leitplanken vorbei, schoss durch eine kaum lenkerbreite Lücke zwischen Begleitmotorrad und einer Mauer. Beim bergigsten Klassiker des Jahres siegte er mit einer Attacke bergab.
Wieder einmal hatte Nibali überrascht, etwas Neues gezeigt, und die Fans dabei gut unterhalten. Und vor allem: Der stolze Sizilianer sah seine Ehre wiederhergestellt. Vielleicht war die Karriere von Nibali auch ein Kampf um Liebe, um die Herzen - das verrät er, wenn er große Worte seiner Mentoren zitiert.
Landsmann Ivan Basso. Giro-Sieger 2006 und 2010, habe ihm die einprägsamsten Worte im Lauf seiner Karriere eingetrichtert, erzählt Nibali: “Ein Giro-Sieg reicht nicht. Wenn du die Herzen der Menschen gewinnen willst, musst du zweimal gewinnen.” Verbissen und aus fast aussichtsloser Position kämpfte er sich 2016 auf den letzten Etappen ins Rosa Trikot - zum zweiten Mal nach 2013. Und gewann die Herzen zurück.
Valverde und Nibali - das sind zwei sehr große Rennfahrer, die in Rente gehen und Lücken hinterlassen.
Dann öffnet sich der letzte Vorhang für den Liebling der Tifosi: Fast ein bisschen betreten steht der fast 38-Jährige in der Morgensonne auf der kleinen Bühne hinter dem Teatro Donizetti in Bergamo, während der Sprecher ihm noch einmal Audio-Reportagen seiner Erfolge vorspielt. “Die Lombardei-Rundfahrt ist ein Rennen, von dem ich schon als Junge geträumt habe und das mir immense Freude bereitet hat”, sagt der zweimalige Sieger bei der Präsentation.
Derweil drängen sich die Menschen auf den Stufen der Porta Nuova, das Personal des städtischen Nahverkehrsunternehmens kommt aus den Büros; auf den Schultern ihrer Väter sitzend, filmen Kinder mit Smartphones, alle noch nicht geboren, als Nibali seine Karriere als Radprofi 2005 im Trikot von Fassa Bortolo begann. Fast die ganze Stadt Bergamo scheint sich hier und heute versammelt zu haben, für einen Abschiedsgruß am Start.
Freundlicher Applaus Tausender Hände hallt wider von den klassizistischen Fassaden, als Nibali, vorbei am Spalier der Profi-Kollegen, Arm in Arm mit seinem langjährigen Konkurrenten Alejandro Valverde in die erste Startreihe rollt - auch der 42-jährige Spanier dreht seine Abschiedsrunde in der Lombardei. Eher traurig klingt das Klatschen, dem Abschied angemessen, es ist eher Würdigung und Ehrerbietung als Anfeuerung. Eine Ära geht zu Ende.
“Zwei sehr große Rennfahrer, die in Rente gehen. Sie werden sicher eine Lücke hinterlassen in ihren Teams und Nationen”, sagt Simon Geschke, der 36-jährige Radprofi aus Freiburg, zur Szenerie am Start. Dann geht es los auf die 253-Kilometer-Distanz zwischen Bergamo und Como, gespickt mit 4600 Höhenmetern, in etwa das Format der diesjährigen Königsetappe der Tour de France. Das Tempo ist vom Start weg hoch, es wird keine Rücksicht auf ältere Herren genommen beim Bergauf und Bergab im Hinterland von Bergamo und weiter an den Lago di Como, hinauf zur Madonna del Ghisallo.
Seit Stunden sitzen die Menschen entlang der Bergstraße an der Wallfahrtskirche auf dem Mäuerchen in der Sonne und warten auf den Hai. Unterwegs begleiten ihn Abschiedsgrüße. “Danke, Hai!”, “Du bist einmalig, Vincenzo”, steht auf Plakaten, “der letzte Champion” ruft einer. Überall entlang der Strecke poppen aufgeblasene Gummi-Haie aus der Menschenmasse.
Alles wartet auf die letzte Passage des großen Champions. Und auf eine letzte große Überraschung. “Seine größte Fähigkeit: Er ist immer erfinderisch. Er macht unerwartete Sachen wie damals in San Remo - er ist schwer einzuschätzen”, betont Enrico Gasparotto, der mehrmals Nibalis Teamkollege war. 2018 lieferte der instinktsichere Rennfahrer bei Mailand-San Remo sein Meisterstück, als er mit einer verwegenen Attacke den Sprintern ein Schnippchen schlug - in einer Kombination aus Angriffslust bergauf und atemberaubender Abfahrtskunst am Poggio.
Vincenzos größte Fähigkeit: Er ist im Rennen erfinderisch, macht überraschende Sachen und ist schwer einzuschätzen.
Doch bevor für ihn der letzte Vorhang fällt, ist er in eine Nebenrolle gedrängt. Als 20 Kilometer vor dem Ziel Landsmann Matteo Fabbro im Trikot von Bora-Hansgrohe am durchschnittlich fast zehn Prozent steilen Civiglio der Konkurrenz auf den Zahn fühlt, ist die Zeit des Abdankens gekommen. Nibali muss die rund 20-köpfige Spitzengruppe ziehen lassen, in der sich der langjährige Rivale Valverde noch halten kann und schließlich als Sechster ins Ziel sprintet. “Die Spritzigkeit geht wirklich verloren über die Jahre - das kann ich aus eigener Erfahrung mit 36 Jahren sagen”, urteilt Geschke, der Nibali durchaus noch einige gute Jahre als Radprofi zugetraut hätte.
Aber die große Bühne wird von einer neuen Generation geentert: UAE-Profi Davide Formolo verschärft das Tempo in der dauerhaft steilen 400-Höhenmeter-Rampe Civiglio, den Rest erledigt sein Kapitän Tadej Pogacar. Dessen einzig verbliebener Rivale Enric Mas attackiert immer wieder - vergeblich.
Der zweimalige Tour-Sieger aus Slowenien bleibt dem Spanier auf den Fersen und hängt ihn im Zielsprint ab. Der 24-jährige Pogacar bewundert Nibali: “Seine Siege bei Mailand-San Remo und der Tour de France, speziell die Etappe über das Kopfsteinpflaster, waren sehr eindrucksvoll, das sind großartige Erinnerungen für mich. Er hatte eine fantastische Karriere. Es ist schade, dass er den Radsport verlässt.” Nibali bleibt am Ende die Ehrenrunde durch das Menschenspalier am letzten Anstieg nach San Fermo della Battaglia.
Aber selbst unter “ferner liefen” erledigt der Sizilianer seinen letzten Arbeitstag mehr als ordentlich: Mit 2:17 Minuten Rückstand erreicht er das Ziel an der Seepromenade in Como auf Rang 24 - begeistert empfangen wie ein Sieger. “Ich habe das Rennen und das Publikum genossen. Aber die Beine haben mich leider nicht weiter gebracht. Ich möchte wirklich allen danken, die mich verabschiedet und mir entlang der Straße gedankt haben”, sagt er. Und an seinen sportlichen Erben Pogacar gerichtet: “Ich habe noch nie so ein Talent gesehen - immer und überall stark.”
Die Wachablösung ist vollzogen - aber Nibali hat seine Nachfolger bewusst oder unbewusst aufgebaut. “Er hat viele Rennfahrer für den Radsport motiviert. Es war immer spektakulär, wie er die Rennen gefahren ist. Das liebe ich an ihm”, sagt Thibaut Pinot, der sich in den vergangenen Jahren große Duelle mit dem Italiener in der Lombardei lieferte, in einem sportlichen Nachruf der französischen Zeitung L’Equipe.
Alle zeigen sich inspiriert vom scheidenden Berufskollegen und seiner Fahrweise - egal ob Pogacar, Pinot, Andrea Piccolo, mit 21 Jahren auf Rang elf der bestplatzierte Italiener, oder der junge Augsburger Marco Brenner, der in der Lombardei das erste Monument seiner Karriere absolvierte und Seite an Seite mit dem großen Vorbild in den Civiglio stürmte.
Zum Ende eines sehr langen letzten Arbeitstages schlängelt sich Nibali auf dem Rennrad durch das Menschenmeer auf dem Parkplatz der Teamfahrzeuge, begleitet von Hochrufen und kurzen Stopps für ein Foto mit jungen Fans. Am Bus warten auch Kevin Mascetti und Gioele Longhi, zwei 18-jährige Jungs aus Como, mit behaarten Beinen und in Profi-Trikots - ein letztes Foto, ein letztes Autogramm wollen sie von Nibali und haben eigens ein großes Plakat im Hellblau seines aktuellen Team Astana gemalt. 2014 sah Kevin im Fernsehen seinen Landsmann die Tour gewinnen - bis dahin hatte er nie ein Radrennen geschaut.
Von da an war er Radsport-Fan. “Auf dem Rad ist er ein Showman”, sagt Gasparotto über Nibalis Fahrweise. Einer, der junge Rennfahrer und Fans gleichermaßen begeistert. Zwischen seinen radsportlichen Beutezügen war der Hai meist unaufgeregt, tiefenentspannt, bescheiden. “Er spürt nicht so viel Stress und ist immer sehr entspannt. Er kann fünf Minuten vor dem Start einer Tour-de-France-Etappe im Teambus einschlafen - unglaublich!”, erinnert sich Gasparotto.
Zuletzt war der Radprofi aber möglicherweise verspannter als viele bemerkt haben. Schmerzen habe er ertragen, wie Michele Pallini erzählt, der italienische Physiotherapeut, in dessen kundigen Händen der Körper des Hais viele Stunden lag - seit jenem Tag im Juli 2018, als ihn ein unachtsamer Fan auf den letzten Kilometern nach Alpe d’Huez vom Rad gerammt hatte.
Nibali ließ sich aufs Rad heben und kämpfte sich bis ins Ziel zurück zu den Besten. Am nächsten Tag musste er aufgeben, wegen einer Wirbelverletzung. Verzweifelt versuchte er, sich danach für seinen letzten Lebenstraum in Form zu bringen - das Regenbogentrikot auf der schweren WM-Strecke rund um Innsbruck. Drei Wochen nach dem folgenreichen Sturz saß er deshalb bei der Vuelta im Rennsattel. Vergeblich. WM-Rang 49, ein Desaster. Nach dem Sturz bei der Tour sei Nibali nie mehr ganz der Alte geworden, raunt Pallini; jetzt könne er es ja sagen.
Es war der Schlusspunkt von Nibalis Pechsträhne im Nationaltrikot - ein Jahrzehnt lang war er der große Hoffnungsträger der Italiener. Doch 2013 stürzte er als Top-Favorit bei der Heim-WM in Florenz auf regennasser Abfahrt und ging als Vierter im Sprint um Bronze gegen Valverde leer aus. 2016 schleuderte er in der gefährlichen Abfahrt beim Olympischen Straßenrennen im Dschungel von Rio de Janeiro in einer Dreier-Spitzengruppe fahrend vom Rad - die Folge: Schlüsselbeinbruch statt Goldmedaille. Wenn er einen Tag aus seiner Karriere streichen könnte, es wäre jener in Alpe d’Huez, sagte er im Abschiedsinterview mit La Gazzetta dello Sport. Nibali tritt ohne Erfolg im Nationaltrikot ab.
Der Abgang ist folgenreich: “Es ist ein großer Verlust für den italienischen Radsport. Italien wird ihn vermissen. Es kommt kein neuer Nibali nach”, sagt Gasparotto, mittlerweile Sportlicher Leiter bei Bora-Hansgrohe. Wer begeistert künftig die Tifosi, wer gewinnt für Italien? Vielleicht Giulio Ciccone, den sie wegen seiner ebenfalls angriffslustigen Fahrweise lieben, aber der noch lange nicht Nibalis Format hat? Oder Filippo Ganna, der wenige Stunden nach Nibalis letztem Zieleinlauf einen beeindruckenden Stundenweltrekord aufs Parkett der Bahn im schweizerischen Grenchen legt? Kevin und Gioele wissen keine treffende Antwort auf die Frage, wer sie künftig an die Strecke der Lombardei-Rundfahrt ziehen könnte.
Das Schlusswort spricht der Hai selbst. Was er rückblickend über seine Karriere sagen würde, fragt der langjährige Wegbegleiter, Gazzetta-Reporter Claudio Ghisalberti. “Ich habe meine Arbeit gut gemacht”, antwortet Nibali. Punkt. Der Vorhang fällt, ein großer Bühnen-Arbeiter tritt ab.