Thomas Goldmann
· 03.09.2022
Die European Championships in und rund um München waren Festtage des Radsports. Im Zeitfahren der Männer war TOUR im Begleitwagen dabei - ein Erlebnisbericht.
“Hopp! Hopp! Hopp!”, hallt es immer wieder aus dem Lautsprecher, der auf dem Begleitwagen montiert ist. Über mangelnde Unterstützung kann sich die Nummer 12 an diesem Tag nicht beklagen. Die Rede ist von Jacob Ahlsson, der für die schwedische Nationalmannschaft beim Zeitfahren der European Championships startet.
TOUR hat an diesem Tag die Möglichkeit, den 24-Jährigen bei seiner Fahrt rund um Fürstenfeldbruck im Teamfahrzeug zu begleiten.
Die schwedische Mannschaft ist im Vergleich zu den Top-Teams wie den Schweizern oder den Italienern mit einer Rumpfausstattung angereist. Auf dem Dach des weiß-blauen Skoda ist nicht einmal ein Zeitfahrrad für den Fall eines Defekts montiert, nur ein Bianchi-Straßenrad. “Würde Jacob um eine Medaille fahren, wäre das sicher anders. Aber bei so einem kurzen Zeitfahren ist es bei einem Defekt sowieso vorbei. Zur Not haben wir noch Ersatzlaufräder auf der Rückbank”, erklärt Lucas Persson, einer der beiden schwedischen Nationaltrainer.
“Die Italiener haben zehn Räder auf dem Dach, aber das ist dazu da, um Luft zu verdrängen. Wir verzichten darauf. Es ist den Aufwand nicht wert für uns.”
Persson, der am Steuer sitzt, sammelt kurz vor dem Start im Innenhof des Zisterzienserklosters in Fürstenfeldbruck noch seinen Trainerkollegen Alexander Wetterhall ein. Vor uns sehen wir noch den Start des Esten Tanel Kangert, ehe Ahlsson das Rennen aufnimmt. Es geht gleich bergauf. Auf dem ersten Kilometer müssen beim Zeitfahren der European Championships 55 Höhenmeter überwunden werden.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Schon hier ist die Begeisterung an der Strecke zu spüren. Fürstenfeldbruck ist im Radsport-Fieber! Dicht gedrängt säumen die Zuschauer den kurzen Anstieg am Straßenrand. Nach rund drei Kilometern hat Ahlsson den höchsten Punkt der Strecke auf 588 Metern erreicht. Hinter der Ortschaft Holzhausen folgt eine Abfahrt nach Schöngeising.
Es ist eine der wenigen Passagen des Parcours, in denen der Schwede nicht im Auflieger seiner Argon-18-Zeitfahrmaschine unterwegs ist. Die Fahrt im Begleitwagen erscheint gemächlich, doch Ahlsson ist schnell in der Abfahrt, fast 80 km/h! Das letzte Risiko in den Kurven geht er aber nicht ein.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Auf dem folgenden Stück nach Landsberied steigt die Straße von Kilometer 7 bis 11 kontinuierlich leicht an. Und ansteigend ist auch die Stimme von Wetterhall, der unentwegt in sein Megafon brüllt: “Ja, ja, ja, hopp, hopp, hopp!”. Um diese Botschaft zu verstehen, muss man kein Schwedisch können. Während sich Wetterhall auf das Anfeuern von Ahlsson fokussiert, ist der Blick von Persson beim Zeitfahren nur auf die Straße gerichtet.
In den wenigen scharfen Kurven heißt es im Begleitwagen festhalten. Schließlich wollen die beiden Nationaltrainer den Anschluss an ihren Schützling nicht verlieren, der so manche Abbiegung mit 40 km/h oder mehr nimmt.
Auch das Auto muss beim Zeitfahren und während der Anreise einiges aushalten. Den Weg aus Schweden nach München haben sie mit dem PKW zurückgelegt, den sie auch als Begleitfahrzeug nutzen. Vergleichsweise ist das aber eine kurze Strecke. Wie Persson berichtet, sind sie erst im Juli zu den U23-Europameisterschaften nach Portugal gefahren, mehr als 3000 Kilometer im Auto für eine Fahrt zum Rennen.
Auf der Strecke rund um Fürstenfeldbruck können sie sich über fehlende Unterstützung nicht beklagen. Es ist an vielen Stellen wie eine Kirmes, eine Fahrt durch ein deutsches Fahnenmeer.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Zwischen Kilometer 15 und 16 erreichen wir die einzige Zwischenzeitmessung, kurz danach droht Ungemach: Ein rot-weißer Express rollt beim Blick von der Rückbank durch die Heckscheibe immer näher auf uns zu. Es ist Stefan Bissegger, der das Zeitfahren anderthalb Minuten nach Ahlsson aufgenommen hat.
Der Schweizer, der sich an diesem Tag mit weniger als einer Sekunde Vorsprung vor Stefan Küng zum Europameister krönt, nähert sich dem schwedischen Teamfahrzeug Meter für Meter. Doch Ahlsson ist zäh. Der Schwede wehrt sich gegen die Einholung. Es dauert bis rund einen Kilometer vor dem Ziel, ehe Bissegger dann doch vorbeifliegt.
Im Ziel erklärt der frisch gebackene Europameister gegenüber TOUR, dass er sich die Einholung von Ahlsson leichter vorgestellt hätte. “Am Anfang hatte ich etwas Mühe damit. Ich kam nicht wirklich näher. Ich habe ihn schon ziemlich früh gesehen. Aber irgendwie blieb er immer da vorne. Es war natürlich trotzdem gut, ihn einzuholen. Es gab einen gewissen Moral-Boost, als ich an ihm vorbeigeflogen bin. Das war ganz gut für den Kopf.”
Und Ahlsson? Eine letzte Anfeuerung hallt aus dem Mikrofon von Wetterhall, dann erreicht auch er das Ziel. Vier Sekunden hinter Bissegger, die Uhr bleibt bei 28:40 Minuten stehen, eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 50,233 km/h. Das macht im Endklassement Rang elf mit 1:34 Rückstand. Ein sehr beachtliches Ergebnis für den schwedischen Meister, der für das drittklassige Team Motala AIF Serneke Allebike fährt.
Er lässt damit unter anderem Jan Tratnik und Mattia Cattaneo - gute Zeitfahrer auf World-Tour-Niveau - und auch die beiden deutschen Starter Miguel Heidemann und Max Walscheid hinter sich.
“Es ist immer hart, in einem Zeitfahren überholt zu werden, aber Bissegger hatte einen Wahnsinnstag”, sagt Wetterhall und zieht zufrieden Bilanz.
“Ich denke Jacob hat es wirklich gut gemacht und ist ein sehr gutes Rennen von Anfang bis Ende gefahren. Er hat sich so präsentiert, wie man das bei einer Europameisterschaft machen sollte. Es sind nur wenige Sekunden bis zu den Top Ten, was noch besser gewesen wäre, aber ein elfter Platz ist auch sehr gut.”