Andreas Kublik
· 15.10.2022
Nach der Saison ist vor der Saison: Gleich nach dem letzten Saisonrennen hat sich Team Bora-Hansgrohe erstmals mit dem Personal für das Jahr 2023 getroffen.
Kennenlernen der Neuen und eine Marschroute für die nahe Zukunft festlegen - das waren die zentralen Aufgaben der ersten Zusammenkunft. “Was ist die Mission und die Vision - der Leitfaden fürs nächste Jahr: Das muss rein in die Köpfe”, sagt Ralph Denk, Teamchef bei Bora-Hansgrohe. Das Motto: Sein Rennstall, zum Saisonschluss Nummer vier der Weltrangliste (Stand: 11.10.2022), soll sich auf hohem Niveau behaupten: “Aufsteigen ist noch relativ einfach, oben bleiben wird deutlich härter”, betont der Rennstall-Manager. Rund 120 Frauen und Männer muss Denk auf diesen Kurs einschwören.
Während Management und Sportliche Leitung schon Mitte Oktober Einsätze und Rennkalender für das kommende Jahr abstimmen, ist es für die Rennfahrer weitgehend Saisonausklang inklusive Saisonabschlussfeier, die im Ötztal mit der Geburtstagsfete von Patrick Konrad zusammenfiel. “Da haben wir ein Opfer”, betonte Teamkollege Nils Politt vor dem 31. des Österreichers augenzwinkernd, ohne Näheres zu verraten, was das genau heißt. “Für die Rennfahrer ist das hier eine Mischung aus etwas für den Sponsor tun (das Ötztal ist Sponsor des Teams; Anm. d. Red.), relaxen, Ski fahren, wandern, mountainbiken und sie in die Pause mit einem Rohkonzept zu verabschieden”, erläutert Denk. So müsse man beispielsweise den Rennfahrern, die bei der Tour Down Under in Australien (17.-22. Januar 2023) für Bora-Hansgrohe starten sollen, das jetzt schon mitteilen.
Der größte Erfog der abgelaufenen Saison, der Gesamtsieg durch Jai Hindley beim Giro d’Italia, kam für alle überraschend und eigentlich zu früh. Es war als langfristiges Projekt des neuen Sportchefs Rolf Aldag geplant gewesen, bei einer dreiwöchigen Landesrundfahrt ganz vorne zu landen - klappte aber mit dem Australier beim Erstversuch.
Insgesamt war 2022 für das einzige World-Tour-Team aus Deutschland ein Jahr mit Highlights, aber trotz insgesamt 30 Saisonsiegen auch durchwachsen: Eine weitere positive Überraschung war der Sieg des Österreichers Marco Haller bei den Cyclassics in Hamburg, bei dem die Mannschaft die von Denk geforderte offensivere Fahrweise wie aus dem Lehrbuch zeigte.
Nils Politt gewann den deutschen Meistertitel, war aber wegen Erkrankungen bei den Frühjahrsklassikern nicht in Topform. Der nach einem Abstecher zu Quick-Step wieder von Bora-Hansgrohe verpflichtete Sam Bennett konnte mit drei Siegen (davon zwei Etappen bei der Vuelta a Espana) im neuen Trikot noch nicht das Potenzial zeigen, das der irische Sprinter mit zwei Etappensiegen und dem Gewinn des Grünen Trikots bei der Tour de France im Jahr 2020 beim vorhergehenden Arbeitgeber zeigte.
Lennard Kämna fuhr einen starken Giro mit einem Etappensieg, zeigte aufsehenerregende Auftritte bei der Tour, musste aber dann mit einer Erkrankung aufgeben und war danach ausgepowert und durch eine Verletzung an der Leiste behindert - er beendete ab Juli kein Rennen mehr. Maximilian Schachmann fehlt seit seinem Tour-Start wegen eines Erschöpfungssyndroms und soll ab November wieder ins Training einsteigen. Emanuel Buchmann kam nach seinem siebten Platz beim Giro auch nicht mehr richtig in Tritt.
Während Teammanagement und Sportliche Leitung von Bora-Hansgrohe berieten, wie es in der kommenden Saison weitergeht und was man besser machen kann, war es für die Rennfahrer ein Kennenlernen mit den neuen Teamkollegen. Die Profis fuhren Mitte Oktober im Söldener Gletscher-Gebiet kurz vor dem Auftakt des Ski-Weltcups an gleicher Stelle Ski - wie Anfänger Hindley oder Politt, der sich Jahre nach Skiurlauben als Kind wieder auf zwei Brettern versuchte. “Es war eher wacklig”, sagte der Rheinländer. Kämna und Marco Haller stürzten sich mit anderen Teamkollegen im noch schneefreien Gelände mit Mountainbikes auf Trails ins Tal.
Die drei Neulinge von Bora-Hansgrohe bekamen ein Bikefitting verpasst: Tour-Etappensieger Bob Jungels aus Luxemburg (von AG2R-Citroën) und die beiden Deutschen Nico Denz (von DSM) und Florian Lipowitz (von Team Tirol). Denz kommt mit der Empfehlung seines Etappensiegs bei der Tour de Suisse. Der 28-Jährige vom Hochrhein hofft von einer Erkenntnis der Vermessung zu profitieren: Er fährt künftig erstmals in seiner Karriere mit einer Distanzscheibe unter einer Pedalplatte, weil er ein kürzeres Bein hat.
Für den Rest des Teams Bora-Hansgrohe war eine Anpassung nicht nötig: Die Profis fahren mehrheitlich auch in der kommenden Saison auf den gleichen Rädern wie bisher - laut TOUR-Informationen soll es Mitte kommenden Jahres einen Materialwechsel geben. Für die Neulinge begann die Integration. “Sie haben hier sehr viel Knowhow. Aber alles passiert sehr ungezwungen. Ich habe das Gefühl, sie wollen hier das Beste aus mir rauskitzeln”, sagt Neuling Denz und betont: “Nach vier Tagen hat es sich angefühlt, als wäre ich schon drei Jahre dabei.”
Das nur geringfügig veränderte Team soll weiter auf das große Ziel Topplatzierung im Gesamtklassement bei Grand Tours wie Tour de France, Giro d’Italia und Vuelta getrimmt werden - rund um die zur Saison 2022 neu verpflichteten Klassementfahrer, den Russen Alexander Wlasow (trotz Sturzverletzungen Gesamtfünfter der Tour), Sergio Higuita aus Kolumbien und Hindley als Leader.
Die Mannschaft verließen die Österreicher Felix Großschartner (zu UAE Team Emirates) und Lukas Pöstlberger (BikeExchange) sowie Wilco Keldermann (Niederlande / zu Jumbo-Visma), und Martin Laas (Estland/Ziel unbekannt). Laut Denk ist der Teamkader für die kommende Saison voraussichtlich komplett und umfasst 29 statt bisher 31 Rennfahrer.
Große Herausforderungen stehen auch im Radsport an. “Die Schere zwischen Arm und Reich geht auch im Radsport massiv auf”, warnt Denk: “Es haben nur fünf Mannschaften ein- bis dreiwöchige World-Tour-Rundfahrten gewonnen - das ist ein Trend. Das sind auch die reichsten Mannschaften.” Die Teams Ineos Grenadiers, UAE Team Emirates, Jumbo-Visma und Soudal-Quick-Step hätten andere finanzielle Möglichkeiten als er mit seinen nach eigenen Worten “mittelständischen” Sponsorpartnern Bora und Hansgrohe.
Bei der zum Saisonende erstmals ausgetragenen Gravel-Weltmeisterschaft, bei der Straßenprofis wie Mathieu van der Poel und Peter Sagan am Start standen, hatte Denk keinen seiner Rennfahrer von Bora-Hansgrohe an den Start geschickt. Auch in Zukunft will er sich vorerst auf Einsätze im Straßenradsport konzentrieren.
An Einsätze seiner Rennfahrer im Gravel-Bereich, auf dem Mountainbike oder im Cyclocross denke er aktuell nicht. Das hatten zuletzt Tom Pidcock, Wout van Aert und Mathieu van der Poel bei anderen Rennställen erfolgreich praktiziert. Auch ein Frauen-Team sei wegen des beschränkten Budgets aktuell nicht machbar. Nach dem Treffen verabschiedeten sich die Radprofis in den Urlaub. Die Vorbereitung im Team wird mit dem Trainingslager ab 7. Dezember fortgesetzt, das auf Mallorca stattfindet.