Wenn Radsport-Fans über die größten Fahrer aller Zeiten diskutieren, fiel bisher unweigerlich ein Name: Eddy Merckx. Doch nicht erst mit Tadej Pogačars jüngstem Triumph, dem Sieg bei den Weltmeisterschaften 2025 in Ruanda, rückt die Frage immer näher, ob der Slowene den Belgier nicht bald einholt - oder in einzelnen Aspekten möglicherweise nicht gar schon überholt hat. Der Belgier Merckx, geboren 1945, dominierte den Radsport in den 1960er- und 1970er-Jahren so vollständig, dass er den Spitznamen "Der Kannibale" erhielt – eine Bezeichnung, die sein Teamkollege Christian Raymond prägte, nachdem dessen zwölfjährige Tochter Merckx' unstillbaren Siegeshunger kommentiert haben soll. Mit insgesamt 525 Siegen auf der Straße, 98 auf der Bahn und zwei im Querfeldein-Rennen gilt Merckx als erfolgreichster Radrennfahrer der Geschichte. Pogačar hingegen, Jahrgang 1998, hat mit erst 27 Jahren bereits vier Tour-de-France-Siege, einen Giro-Triumph und neun Monumente des Radsports errungen. Beide Athleten beeindrucken durch ihre Vielseitigkeit: Sie glänzen bei Eintagesrennen und Grand Tours, in den Bergen wie im Zeitfahren. Doch während Merckx' Karriere bereits vollständig in die Geschichtsbücher eingegangen ist, schreibt Pogačar seine Geschichte noch – mit beeindruckendem Tempo und der Chance, einige von Merckx' scheinbar unerreichbaren Rekorden zu brechen.
Betrachtet man die Erfolge bei den dreiwöchigen Landesrundfahrten, zeigt sich Merckx’ außergewöhnliche Bilanz: Fünfmal gewann er die Tour de France (1969–1972, 1974) und ebenso oft den Giro d’Italia (1968, 1970, 1972–1974). Hinzu kommt ein Sieg bei der Vuelta a España (1973). Mit insgesamt elf Grand-Tour-Gesamtsiegen ist er alleiniger Rekordhalter. Pogačar hat mit vier Tour-de-France-Siegen (2020, 2021, 2024, 2025) und einem Giro-Triumph (2024) bereits fünf Grand-Tour-Erfolge vorzuweisen – und das in wesentlich kürzerer Zeit. Bemerkenswert ist zudem, dass Pogačar 2024 als erst achter Fahrer der Geschichte das sogenannte „Grand Tour-Double“ schaffte, indem er Giro und Tour im selben Jahr gewann. Diese Leistung gelang zuvor nur absoluten Ausnahmekönnern wie Fausto Coppi, Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault, Stephen Roche, Miguel Indurain und Marco Pantani. Während Merckx bei seinen Tour-Siegen häufig mit großem Vorsprung triumphierte (1969 beispielsweise mit 17:54 Minuten), gewann Pogačar 2024 mit 6:17 Minuten Vorsprung – in einer Ära, in der die Leistungsdichte im Peloton deutlich höher ist als zu Merckx’ Zeiten.
Bei den fünf Monumenten des Radsports – den prestigeträchtigsten Eintagesrennen – zeigt sich Merckx’ außergewöhnliche Vielseitigkeit: Er gewann Mailand-San Remo siebenmal, Lüttich-Bastogne-Lüttich fünfmal, Paris-Roubaix dreimal sowie Flandern-Rundfahrt und Lombardei-Rundfahrt je zweimal. Mit insgesamt 19 Monument-Siegen ist er unerreicht. Pogačar hingegen hat mit 27 Jahren bereits neun Monumente gewonnen: Die Lombardei-Rundfahrt viermal in Folge (2021–2024), Lüttich-Bastogne-Lüttich dreimal (2021, 2024, 2025) und die Flandern-Rundfahrt zweimal (2023, 2025). Bei Paris-Roubaix wurde er 2025 bei seinem Debüt Zweiter, bei Mailand-San Remo erreichte er dreimal den dritten Platz. Bemerkenswert ist, dass Pogačar bereits bei allen fünf Monumenten auf dem Podium stand – eine Leistung, die selbst Merckx erst im fortgeschrittenen Karriereverlauf gelang. Pogačars Siegesquote bei Monumenten ist beeindruckend: Bei 19 Teilnahmen erreichte er neun Siege, während Merckx für seine 19 Siege deutlich mehr Anläufe benötigte. Allerdings startete Merckx in einer Zeit, in der die besten Fahrer bei nahezu allen wichtigen Rennen antraten, während heute eine stärkere Spezialisierung üblich ist.
Ein weiteres Feld, auf dem beide Ausnahmefahrer glänzten, sind die Weltmeisterschaften. Merckx wurde dreimal Weltmeister im Straßenrennen (1967, 1971, 1974) – ein Rekord, den er sich mit Alfredo Binda, Rik Van Steenbergen, Óscar Freire und Peter Sagan teilt. Pogačar sicherte sich den WM-Titel 2024 mit einer beeindruckenden 51,7 Kilometer langen Solofahrt und verteidigte ihn 2025 erfolgreich. Mit seinem WM-Triumph 2024 vollendete er zudem die sogenannte „Triple Crown“ aus Giro d’Italia, Tour de France und Weltmeisterschaft im selben Jahr – eine Leistung, die zuvor nur Merckx (1974) und Stephen Roche (1987) gelungen war. Während Merckx auch auf der Bahn erfolgreich war und 1972 den Stundenweltrekord aufstellte (49,431 Kilometer), hat sich Pogačar bisher ausschließlich auf den Straßenradsport konzentriert. Die Vielseitigkeit beider Fahrer zeigt sich jedoch in ihrer Fähigkeit, sowohl bei Eintagesrennen als auch bei Grand Tours zu dominieren – eine Qualität, die im modernen Radsport mit zunehmender Spezialisierung immer seltener wird. Pogačar bewies seine Allround-Fähigkeiten eindrucksvoll, als er 2025 als erster Fahrer seit Merckx die Tour de France im Regenbogentrikot des Weltmeisters gewann.
Bei allen Vergleichen zwischen Merckx und Pogačar muss der zeitliche Kontext berücksichtigt werden. Der Radsport hat sich seit Merckx’ aktiver Zeit fundamental verändert. Das Rennprogramm war in den 1960er- und 1970er-Jahren deutlich umfangreicher, mit mehr Renntagen pro Saison. Merckx bestritt oft über 120 Renntage pro Jahr und nahm an nahezu allen wichtigen Rennen teil. Moderne Profis wie Pogačar fahren selektiver, mit etwa 80–90 Renntagen, die gezielt auf Saisonhöhepunkte ausgerichtet sind. Auch die Professionalisierung hat sich gewandelt: Während Merckx mit vergleichsweise einfacher Ausrüstung und ohne wissenschaftlich optimierte Ernährung, Höhentraining und Leistungsdiagnostik auskommen musste, steht Pogačar ein komplettes Team aus Trainern, Ernährungsberatern und Materialspezialisten zur Verfügung. Sein Jahresgehalt wird auf 8,2 Millionen Euro geschätzt – eine Summe, die zu Merckx’ Zeiten undenkbar gewesen wäre. Die Leistungsdichte im Peloton ist heute höher, die Spezialisierung ausgeprägter. Während Merckx gegen andere Allrounder wie Raymond Poulidor, Luis Ocaña oder Joop Zoetemelk antrat, misst sich Pogačar mit Ausnahmekönnern und Spezialisten wie Jonas Vingegaard, Remco Evenepoel und Primož Roglič – in einer Ära, in der marginale Vorteile oft entscheidend sind.
Rein statistisch betrachtet liegt Merckx mit seinen über 525 Siegen auf der Straße weit vor Pogačar, der bislang etwa 100 Profi-Siege verbuchen konnte. Allerdings hat Pogačar seine 100 Siege in wesentlich kürzerer Zeit errungen und könnte bei gleichbleibender Siegesquote und einer ähnlich langen Karriere wie Merckx durchaus in dessen Nähe kommen. Bei den Monument-Siegen führt Merckx mit 19:9, bei Grand-Tour-Gesamtsiegen mit 11:5. Beeindruckend ist jedoch Pogačars Effizienz: Bei seinen bisher fünf Grand-Tour-Teilnahmen mit Gesamtsieg gewann er insgesamt 30 Etappen – eine Quote, die selbst Merckx’ Bilanz (34 Tour-Etappensiege bei fünf Gesamtsiegen) nahekommt. Zudem hat Pogačar bereits neun Monumente gewonnen, während Merckx für seine ersten neun Monument-Siege mehr Saisons benötigte. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt: Pogačar gelang es als erstem Fahrer seit Merckx, sowohl die Flandern-Rundfahrt als auch die Tour de France zu gewinnen – ein Beleg für seine außergewöhnliche Vielseitigkeit. Beide Fahrer dominierten ihre jeweilige Ära: Merckx gewann siebenmal in Folge die Saisonwertung Super Prestige Pernod (1969–1975), während Pogačar in der aktuellen UCI-Weltrangliste seit Jahren die Nummer eins ist.
Eddy Merckx hat den Radsport nachhaltig geprägt und gilt für viele Experten als der größte Rennfahrer aller Zeiten. Seine Dominanz in einer Ära ohne spezialisierte Teams und wissenschaftliche Trainingsmethoden macht seine Leistungen besonders bemerkenswert. Lance Armstrong, Bernard Hinault, Miguel Indurain und die Cycling Hall of Fame bezeichnen ihn als den größten Radsportler der Geschichte. Pogačar hingegen schreibt seine Geschichte noch – mit erst 27 Jahren hat er bereits Außergewöhnliches erreicht, einige von Merckx’ Rekorden könnten in seine Reichweite gelangen. Sein aggressiver Fahrstil, seine Angriffslust und seine Fähigkeit, in verschiedensten Terrains zu dominieren, erinnern viele Beobachter an Merckx. Bemerkenswert ist auch, dass Pogačar wie Merckx nicht nur gewinnt, sondern oft mit beeindruckenden Solofahrten triumphiert – sei es bei der Flandern-Rundfahrt 2023, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich 2024 und 2025 oder bei den Weltmeisterschaften 2024 und 2025. Diese Art zu siegen entspricht Merckx’ Philosophie, der einst sagte: “Wenn ich angreife, ist es ein Messer. Wenn ich folge, ist es Baumwolle.” Beide Fahrer eint der unbändige Siegeswille und die Fähigkeit, Rennen nach ihren Vorstellungen zu gestalten – eine Qualität, die sie von ihren Zeitgenossen abhebt.
Die Frage, wer der größere Champion ist – Merckx oder Pogačar – lässt sich – zumindest Stand heute – nicht eindeutig beantworten. Merckx’ schiere Anzahl an Siegen und seine Dominanz über ein Jahrzehnt hinweg sind historisch einzigartig. Pogačar hingegen beeindruckt durch seine Effizienz und die Geschwindigkeit, mit der er Erfolge sammelt. Zudem gelang ihm als drittem Fahrer der Geschichte die „Triple Crown“ aus Giro, Tour und WM-Titel im selben Jahr. Während Merckx in einer Ära fuhr, in der die besten Fahrer bei nahezu allen Rennen antraten, muss sich Pogačar gegen hochspezialisierte Konkurrenten in einem wissenschaftlich optimierten Umfeld behaupten. Letztlich sind beide Athleten Kinder ihrer Zeit, die den Radsport ihrer Ära geprägt haben und prägen. Merckx’ Vermächtnis ist gesichert, während Pogačars Geschichte noch geschrieben wird – mit der realistischen Chance, einige der scheinbar unerreichbaren Rekorde des „Kannibalen“ zu brechen und sich selbst als einer der größten Radsportler aller Zeiten zu etablieren.