Radsport ist eine gefährliche Angelegenheit. In der vergangenen Saison zählte alleine das Online-Portal procyclingstats.com mehr als 200 Verletzungen durch Stürze in Profirennen bei Männern und Frauen, wobei die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Sie enthält zum Beispiel nicht den tragischen Todessturz des Schweizer Profis Gino Mäder bei der Tour de Suisse. Aufgeführt sind aber noch mehr als 50 Verletzte durch Trainingsunfälle. Der bizarrste Vorfall war wohl die Schramme durch einen Hieb mit dem Griff eines Revolvers, den der Kolumbianer Ivan Ramiro Sosa bei einer Trainingsfahrt im Januar 2023 von einem erzürnten Lastwagenfahrer verpasst bekam.
Während diese Episode eher eine zunehmende Gewalt auf den Straßen illustriert, bleibt es ein Problem des Radsports, dass Rennfahrerinnen und Rennfahrer auch und vor allem während der Rennen erheblicher Sturzgefahr ausgesetzt sind. Mal bringen sie sich gegenseitig zu Fall, wie beim spektakulären Crash im Finale der 5. Etappe der Polen-Rundfahrt 2023, mal schaffen die Fahrbahnverhältnisse zusätzliche Gefahren.
Der erste Massencrash der Tour de France 2023 auf der 14. Etappe etwa war durch den Wechsel von nassem und trockenem Asphalt mitverursacht. “Es ist Chaos, die Straße ist trocken, nass, trocken, nass, und die Gefahr besteht darin, dass nach Wochen trockenen Wetters die ersten Regentropfen zusammen mit dem Staub auf der Straße den Belag superglatt machen. Und wenn man dann bremst, ist es wie auf Eis”, beschrieb Eurosport-Kommentator und Ex-Profi Jens Voigt die Szenerie, die zur 25-minütigen Neutralisation der Etappe führte.
Immer wieder verursachen auch Zuschauer Unfälle. Auf der 15. Tour-Etappe provozierte ein Fan beim Selfie-Knipsen mit ausgestrecktem Arm den Sturz von Jumbo-Profi Sepp Kuss. Der US-Amerikaner rauschte bei dem Versuch, die Balance zu halten, ins Peloton und löste den klassischen Domino-Effekt aus. Oft resultieren Stürze aus der Kombination von Umweltbedingungen und Fahrfehlern. Mark Cavendishs Crash auf der 8. Etappe der Tour, der zu Schlüsselbeinbruch und Ausstieg des Briten führte, war nach Einschätzung von Bahrain-Victorious-Profi Pello Bilbao auch von Erschöpfung durch die Hitze beeinflusst.
“Das hat uns allen zugesetzt. Viele waren in den Reaktionen etwas verzögert”, meinte der Baske. Gut also, dass die UCI mit einem modifizierten Maßnahmenkatalog für den Umgang mit großer Hitze reagiert. Es soll übermäßige Belastungen reduzieren und die Gefahr hitzebedingter Stürze eindämmen. Dazu können beispielsweise Startzonen in den Schatten verlegt oder Startzeiten und Strecken verändert werden. Das neue Protokoll sollte Ende Januar offiziell verabschiedet werden.
Dazu gehört auch das sogenannte concussion protocol. Es regelt, dass Rennfahrer nach Stürzen sofort auf Gehirnerschütterungen überprüft werden, bevor sie weiterfahren. Dazu werden unter Rennärzten und Teams kleine Karten verteilt, auf denen die Schritte einer Sofortuntersuchung notiert sind. Wer das Bewusstsein verliert, sich erbricht oder an Krämpfen und Konvulsionen leidet, wird gleich aus dem Rennen genommen; das gilt auch für Athletinnen und Athleten, bei denen zumindest ein Symptom wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Schwächegefühl auftritt und denen zusätzlich kognitive Tests misslingen, wie etwa, bei geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger die Nasenspitze zu berühren.
Hintergrund sind Studien vor allem bei Rugby- und Fußballspielern: Bei Opfern von Gehirnerschütterungen wurde eine statistisch relevante Häufung von Demenz- und Alzheimererkrankungen sowie anderen kognitiven Einschränkungen festgestellt. Wäre dieses Protokoll bei der Rad-WM 2023 schon in Kraft gewesen, hätte beispielsweise Stefan Küng das Einzelzeitfahren nach einem Sturz nicht fortsetzen dürfen. Nach der Kollision mit Absperrgittern erreichte der Schweizer blutüberströmt und mit zerborstenem Helm das Ziel.
Rennfahrer sollen nach Stürzen sofort auf Gehirnerschütterungen überprüft werden, bevor sie weiterfahren.
“Es ist verrückt, dass wir noch Jahre später die gleichen und sogar noch größere Fehler machen”, kommentierte Toms Skujins den Vorfall. Der Lette spielte auf seinen Sturz bei der Kalifornien-Rundfahrt 2017 an. Damals stieg er trotz offensichtlicher Bewusstseinstrübung wieder aufs Rad, stürzte erneut, rannte zu seiner Brille und wäre fast mit weiteren Fahrern kollidiert, die eine Abfahrt herunterjagten. Er hätte gar nicht mehr aufs Rad steigen dürfen. “Radprofis zeichnen sich durch Leidensfähigkeit und starken Willen aus. Aber manchmal muss man sie vor sich selbst schützen”, forderte der frühere Giro-Sieger Tao Geoghegan Hart nach dem Sturz von Stefan Küng.
Diesen Schutz kann die neue Regelung bringen. Bora-Chef Ralph Denk begrüßt den Schritt: “In der Vergangenheit ist man damit viel zu lasch umgegangen. Ich bin kein Mediziner, aber in unserer Medizinabteilung heißt es, dass es Spätfolgen geben kann, wenn man auf den Kopf fällt.” Adam Hansen, Präsident der Fahrergewerkschaft CPA, befürchtet indes Probleme bei der Umsetzung: “Oft dauert es lange im Rennen, bis ein Teamfahrzeug oder der Rennarzt bei einem gestürzten Fahrer ist. Dann ist der längst wieder auf dem Rad. Hinzu kommt die Angst, aus dem Rennen genommen zu werden.” Der Australier, selbst 20 Jahre lang Profi und mit der Erfahrung von 29 Grand-Tours, plädiert für mehr Prävention: “Wir müssen die Sportler besser aufklären und auf die Langzeitfolgen hinweisen.”
Zusätzlich zum neuen Regelwerk für schlechte Wetterbedingungen schlägt Hansen ganz praktische Maßnahmen vor, um Erschöpfungszuständen der Fahrer, die zu Stürzen führen können, vorzubeugen: “Bei kaltem Wetter und Regen, wenn die Fahrer mit ihren erfrierenden Fingern nicht mal richtig die Reißverschlüsse zuziehen können, könnten die Organisatoren warme Rennkleidung ans Peloton verteilen. Dafür könnte das Rennen kurz neutralisiert werden. Das wäre effektiver, als wenn die Sportlichen Leiter jeden Fahrer einzeln versorgen. Das dauert länger, und der Stress ist groß, wieder ins Peloton zurückzukehren.”
Bei großer Hitze sollen zusätzliche Wasserflaschen ausgegeben werden; auch Rennärzte und Kommissäre sollen genug Wasserflaschen im Auto haben, um Rennfahrer zu versorgen. “Mit der Tour Down Under haben wir bereits eine solche Vereinbarung”, erläutert Hansen. Ralph Denk warnt hingegen vor zu strenger Auslegung des Schlechtwetter-Protokolls. “Ich hoffe, dass bei Hitze und Kälte die richtige Balance gefunden wird. Radsport ist ein Outdoorsport. Mit gewissen Gegebenheiten muss man schon zurechtkommen”, sagt er und verweist auf ikonische Etappen wie etwa die Schneefahrt über den Gavia-Pass beim Giro d’Italia 1988. Dort legte der US-Amerikaner Andrew Hampsten die Grundlage für seinen Gesamtsieg, weil sein Team 7 Eleven bei Temperaturen rund um den Gefrierpunkt mit warmer Kleidung und heißem Tee vorgesorgt hatte.
Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Streckenführung selbst. Hier verbot das UCI-Reglement zwar schon bisher abschüssige Zielgeraden für Massensprints. Es wurden aber doch welche befahren, wie etwa beim Horrorsturz von Fabio Jakobsen bei der Polen-Rundfahrt 2020 oder im Finale der 3. Tour-Etappe 2021, als Caleb Ewan und Peter Sagan stürzten. “Da muss einfach das Regelwerk konsequent durchgesetzt werden”, fordert Denk. Für die Veranstalter ist das nicht immer einfach.
Fabian Wegmann, Sportlicher Leiter der Deutschland-Tour, sagt mit Blick auf die kommende Rundfahrt: “Wir mussten genau deshalb einen Zielbereich verändern. Wo wir ursprünglich das Ziel haben wollten, reichte der Platz nicht. Weiter hinten, wo mehr Platz war, hätten wir eine abfallende Zielgerade gehabt. Also fahren wir die letzte Runde in anderer Richtung. Da ist der Anstieg nicht so attraktiv, aber sicherer.”
Das Verbot abschüssiger Zielgeraden ist übrigens nicht gleichbedeutend damit, nach Abfahrten keine Massensprints mehr zuzulassen. Gerade bei Bergetappen halten sowohl Denk als auch Hansen das für machbar: “Liegt das Ziel nach drei Bergen im Tal, kommen die Fahrer ganz vorne in kleinen Gruppen an; das Peloton wird im Sicherheitsmodus herunterfahren”, meint Adam Hansen. Bewährt haben sich im vergangenen Jahr akustische Warnsignale vor Gefahrenstellen. “Menschen mit Warnflaggen sind nicht immer gut postiert. Und gut gesehen werden sie auch nur von den Fahrern, die vorne fahren. Automatische akustische Signale sind besser. Man nimmt sie auch gut wahr, denn sie haben eine Frequenz, die sich von anderen Tönen unterscheidet”, lobt Hansen.
Er ruft Veranstalter und UCI auf, bei allen Rennen das gleiche Signalsystem mit den gleichen Tönen einzusetzen, um eine bessere Erkennbarkeit zu gewährleisten. Weltverband und ASO, Ausrichter unter anderem der Tour de France, äußerten sich auf Nachfrage nicht zu diesem Vorschlag. Ein ungelöstes Problem ist – unverständlicherweise – die Bauart der Absperrgitter. Die UCI schreibt weiterhin keine Variante vor, obwohl sich die Gitter mit den flachen Füßen als die sichersten herausgestellt haben.
Grund für das Zögern dürfte sein, dass die sichereren Barrieren teurer sind und vor allem Ausrichter kleinerer Rennen finanziell überfordert sein könnten. Hansen vermutet zudem, dass die UCI bei einer Festlegung auf bestimmte Barrieren bei Unfällen Schadensersatzklagen zu ihren Lasten fürchtet. Bei Rennen wie der Deutschland-Tour werden zumindest die letzten 300 Meter vor sowie 100 Meter nach dem Ziel mit den sicheren Barrieren abgeschirmt, versichert Fabian Wegmann.
Als wichtigste Änderung für die beginnende Saison sieht Hansen die SafeR-Kommission: “Sie wird im Februar die Arbeit aufnehmen. Es handelt sich um unabhängige Experten, die die Sicherheit bei Rennen der World-Tour, der Women’s World-Tour und der Pro-Tour analysieren und ihre Erkenntnisse in einem neuen Handbuch für Rennorganisatoren zusammenfassen.” Die Kommission wird anteilig von Organisatoren, Teams, Fahrern und der UCI finanziert. Hansen erwartet, dass nicht nur Aspekte wie Absperrungen und Wetterprotokolle berücksichtigt werden, sondern auch klarer festgelegt wird, wie sich Fahrzeuge im Konvoi und im Rennen zu verhalten haben.
Auch da gab es in der vergangenen Saison einige Zwischenfälle. Ein Polizeimotorrad räumte bei der Polen-Rundfahrt Zuschauer ab, Begleitfahrzeuge kollidierten im Konvoi. Bei seiner eigenen Klientel sieht der Fahrervertreter allerdings auch Lernbedarf. “Ich war in der letzten Saison bei Teambesprechungen im Bus mit an Bord. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Sportlichen Leiter sehr gute und präzise Ansagen zu Gefahrenstellen machten. Während die älteren und erfahrenen Profis sich in den Apps ein paar Stellen noch genauer anguckten, waren Jüngere unaufmerksam”, kritisiert er. Die beste Nachricht ist also, dass die Fahrergewerkschaft CPA endlich einen Chef hat, der sich richtig kümmert, der kritisiert und fordert, der aber auch ganz selbstbewusst Teil der Lösung sein will.