Die Freude über sein Comeback währt nur kurz. Nachdem sich Sep Vanmarcke bei einem Gravel-Rennen Ende April das Handgelenk bricht, kehrt er im Juni, zwei Monate nach seinem bis dato letzten Rennen, Paris-Roubaix, zurück ins Renngeschehen. Doch kaum zwei Wochen später ist er wieder raus - dieses Mal für immer.
Bei den Belgischen Meisterschaften quält sich der da noch 34-Jährige noch ins Ziel. Richtig fit ist er nicht, Herzrhythmusstörungen werden nach dem Rennen diagnostiziert. Und noch viel mehr: Ein Ultraschall zeigt Narbengewebe auf der Oberfläche des Herzens. Eine Fortsetzung der Karriere als Profisportler würde das Risiko eines Herzversagens extrem erhöhen. Also entscheidet sich Vanmarcke für ein sofortiges Ende. Ob es letztlich der Auslöser war, ist ungewiss, doch auch er war zwischenzeitlich an Corona erkrankt.
“Es ist eine sehr schmerzhafte Entscheidung, meine Radsportkarriere so abrupt zu beenden, aber es gibt keine andere Möglichkeit”, schreibt der Belgier bei Instagram. In einer Botschaft seines letzten Teams Israel - Premier Tech heißt es, dass er gerne noch ein paar Jahre rangehängt hätte.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
14 Jahre lang ist Sep Vanmarcke Profi. Seinen ersten Vertrag unterschreibt er 2010 bei Topsport Vlaanderen - Mercator, davor fährt er für das Nachwuchsteam Davitamon Lotto Jong Vlaanderen. Für welches Terrain er Mann aus Kortrijk in Flandern gemacht ist, zeigt sich schnell. Gleich in seiner ersten Saison fährt er bei Gent-Wevelgem aufs Podium, lediglich Bernhard Eisel ist im Sprint einer kleinen Gruppe ein wenig schneller.
Die Klassiker bestimmen die Karriere von Vanmarcke, vor allem die mit Pflastersteinen. Ansonsten ist er in seinem Rennprogramm eher wählerisch. Lüttich-Bastogne-Lüttich fährt er nie - und das als Belgier. Bei Mailand-San Remo steht er nur zweimal am Start, bei der Lombardei-Rundfahrt dreimal. Auch den Giro d’Italia meidet er komplett, zweimal fährt er die Vuelta, fünfmal die Tour de France.
Dafür kennt Vanmarcke jedes Podium der Nordklassiker in- und auswendig. Bis aufs oberste Treppchen schafft er es aber allzu selten für einen Mann seiner Klasse. Insgesamt feiert Vanmarcke Zeit seiner Karriere bescheidene neun Sieg. Der erste ist dabei auch gleich sein größter. 2012 ist der 1,90 Meter große Fahrer beim Omloop Het Nieuwsblad im Sprint schneller als Tom Boonen und Juan Antonio Flecha. Es bleibt der einzige Frühjahrsklassiker, den Vanmarcke gewinnt. Damals fährt er für Garmin.
Ein Kuriosum, denn dabei zählt der Spezialist über ein Jahrzehnt lang eigentlich immer zu den Favoriten, wenn Kopfsteinpflaster im Spiel ist. Davon zeugen mehr als 30 Top-10-Platzierungen bei den wichtigen Klassikern. Gefühlt allerdings auch mindestens so viele Stürze oder Defekte. Denn vom Glück verfolgt ist Sep Vanmarcke nicht gerade. Meistens sind die Unfälle jedoch nicht so schlimm, dass er ein Rennen aufgeben muss geschweige denn ein ganzes Frühjahr gelaufen ist.
Doch das passt ins Bild. Denn auch Talent ist nicht das, womit Vanmarcke in rauen Mengen gesegnet ist, sagt er immer wieder über sich selbst. Er ist der Typ Malocher. Und dafür lieben ihn die Fans. “Mit Hingabe und harter Arbeit war ich in der Lage, mich mit den besten Fahrern in den größten Rennen zu messen”, heißt es in seinem Statement zum Karriereende.
Von diesen besten Fahrern hat Vanmarcke ziemlich viele in seiner Generation, die ebenfalls die Klassiker als eines ihrer Spezialgebiete ansehen. Zu denen, die häufig immer ein kleines bisschen besser - oder letztlich auch glücklicher - sind, zählt vor allem auch Fabian Cancellara. Bei Paris-Roubaix 2013 war der Schweizer der Einzige. Auf die legendäre Radrennbahn biegen beide mir reichlich Vorsprung auf die Konkurrenz ein. Nach Stehversuchen hat Cancellara am Hinterrad von Vanmarcke vor dem Sprint die bessere Position und holt den letzten seiner drei Siege in Roubaix. Eine Radlänge fehlt ihm zum Triumpf bei einem Monument. So nah ist er nie wieder dran.
Bei Vanmarckes beiden dritten Plätzen bei der Flandern-Rundfahrt ist Canellara ebenfalls jeweils vor ihm. 2014 geht es in einer Viergruppe auf die Zielgerade. Wieder wird gelauert, wieder hat Cancellara die beste Position. Er sprintet vorbei an Vanmarcke und Greg van Avermaet zum Sieg. 2016 heißt der Sieger Peter Sagan, der genau wie Van Avermaet ebenfalls in diesem Jahr seine Karriere auf der Straße beendet.
Es sind häufig dieselben Namen, die Vanmarcke im Weg stehen. Und es könnte der Eindruck entstehen, dass es ihm an den erforderlichen Sprintfähigkeiten gefehlt hätte. Doch keinen seiner acht Tagessiege - Nummer neun ist der Gesamtsieg bei der ZLM Tour - entschied Vanmarcke als Solist für sich. Immer gewann er den Sprint kleiner Gruppen, sogar mal gegen den jungen Wout van Aert.
Das erfolgreichste Jahr des Sep Vanmarcke ist 2014. Er gewinnt bei der Tour of Alberta und der Tour of Norway jeweils eine Etappe. Dem dritte Platz bei der Flandern-Rundfahrt folft der Vierte in Roubaix, auch beim Omloop Het Nieuwsblad und bei Gent-Wevelgem wird er Vierter. Ähnlich gut läuft es zwei Jahre später. Die Monumente schließt er genauso ab, dazu kommt noch Platz 2 bei Gent-Wevelgem. In dieser Zeit fährt Vanmarcke für das Team, dass seinerzeit Belkin bzw. LottoNL - Jumbo heißt.
2017 wechselt er dann zu Cannondale, woraus später EF Education wird. Er erhofft sich eine bessere Unterstützung vom Team, denn Jumbo ist seinerzeit vor allem auf Sprints ausgelegt, bevor die Transformation zum Rundfahrer-Team beginnt. Nicht zuletzt sein Bruder Ken, der bei EF als Sportdirektor arbeitet, soll dafür Sorge tragen. Er ist einer von vier älteren Geschwistern, drei Brüder und eine Schwester, die allesamt den Weg in den Radsport fanden.
“Der Radsport trat in mein Leben, als ich sechs Jahre alt war. Meine älteren Brüder und meine Schwester fingen an, Rennen zu fahren, und ich wurde ihr größter Fan”, schreibt Sep Vanmarcke später bei seinem Karriereende. “Als ich mir 2003 als Rookie endlich selbst eine Startnummer zulegte, hätte ich nie gewagt, von einer Profikarriere zu träumen. Am Ende habe ich diesen Traum 14 Jahre lang gelebt, mit Höhen und Tiefen.”
Seine Zeit bei EF zählt zunächst zu den Tiefen und beginnt nicht gerade verheißungsvoll. Er stürzt bei der Strade Bianche und dann auch bei der Flandern-Rundfahrt schwerer, die Klassikersaison ist gelaufen. Ein Jahr später läuft es etwas besser. In Roubaix wird Vanmarcke Sechster, beim Omloop und Dwars door Vlaanderen Dritter. Mit 30 Jahren kratzt er an der Grenze zum Altwerden, doch 2019 wird er mal wieder Vierter im Velodrom.
Ansonsten geht nicht viel im Jahr - abgesehen vom durchaus überraschenden Sieg beim World-Tour-Rennen Bretagne Classic in Plouay im September, denn eigentlich ist das nicht die Jahreszeit, in der Vanmarcke für gewöhnlich liefert. Und außerdem zählte er dann insgeheim doch schon zum alten Eisen.
Den Stempel kann er auch in der Nach-Corona-Saison 2021, der ersten für Israel-Premier Tech, erfolgreich abschütteln, denn nachdem er beim Omloop mal wieder Dritter wird, fährt er auch bei der Flandern-Rundfahrt nochmal auf Rang 5. 2022 ist er im Frühling dauerkrank und verpasst nahezu alle wichtigen Rennen. Seinen Ruf als Pechvogel hat er damit erneut untermauert. Später im Jahr entscheidet er allerdings noch die Maryland Cycling Classic einigermaßen überraschend für sich und feiert damit den letzten Sieg seiner Karriere.
Fürs Aufgeben ist Sep Vanmarcke nicht bekannt. Und so nimmt er 2023 nochmal Anlauf zu seinem dritten oder vierten Karriere-Frühling. Als Dritter bei Gent-Wevelgem ist er Best-of-the-rest hinter dem Jumbo Duo Christophe Laporte und van Aert, das einsam seine Kreise zieht. Die Austragung macht Schlagzeilen, weil der Belgier dem Franzosen den Sieg schenkt.
Ein wenig muss das Rennen auf auf Sep Vanmarcke wie ein Geschenk wirken. Zumindest im Nachhinein. Denn nach anderthalb unglücklichen Jahren zuvor ohne nennenswerte Klassikerresultate konnte er sich so nochmal bei den Fans ins Gedächtnis rufen. Denn durch seine Herzprobleme bekommt Sep Vanmarcke künftig keine Chance mehr, sich so zu verabschieden, wie er es sich vielleicht gerne gewünscht hatte. Dem Peloton bleibt er trotzdem irgendwie erhalten: Als Sportdirektor am Steuer eines Israel-Teamfahrzeugs.