Mittendrin im Leben eines Radprofis. Diese Einblicke gewährt Geraint Thomas mit seinen Gästen regelmäßig in seinem eigenen Podcast “The Geraint Thomas Cycling Club”. Es geht darin um alles, was den Radsport gerade bewegt, gelegentlich auch um Thomas’ Arbeitgeber, das Team Ineos Grenadiers. Also äußerte sich der Waliser im November auch zum Abgang seines Teamchef Rod Ellingworth. “Es war wirklich erschütternd, dass Rod zurücktreten ist”, sagte Thomas unter anderem. Beide kennen sich seit über 20 Jahren. Für ihn sei der Schritt “überraschend” gewesen, so Thomas.
Im erstaunlich kurzen, offiziellen Teamstatement blieb offen, von wem die Trennung ausging. In den ersten Medienmeldungen hieß es, Ellingworth sei freiwillig gegangen, andere Medien berichteten indes, er war bis zuletzt in die Planungen für 2024 vertieft. Was die Aussagen von Thomas jedoch verdeutlichen: Selbst die fahrende Belegschaft scheint momentan nur Zuschauer bei der Entwicklung des Teams zu sein.
In der Führungsebene hat Ineos zuletzt etliche Namensschilder ausgetauscht. Neben Ellingworth verlassen zur neuen Saison Sportdirektor Roger Hammond, Performance Direktor Ben Williams und der Sportliche Leiter Matteo Tosatto das Team, in den Vorjahren trennte man sich bereits vom langjährigen Cheftrainer Tim Kerrison sowie den Sportlichen Leitern Servais Knaven, Gabriel Rasch und Brett Lancaster. Neuer CEO ist seit vergangener Woche John Allert, Steve Cummings steigt zum Director of Racing auf und Scott Drawer ist neuer Performance Director. Ihr Eintrag im Aufgabenheft: Ein ehemaliges wieder in ein zukünftiges Spitzenteam zu formen.
Dabei sind die Zahlen aus 2023 auf den ersten Blick noch gnädig. 36 Siege fuhr Ineos ein, beim Giro d’Italia fehlten Geraint Thomas zudem nur 14 Sekunden zu einem Grand-Tour-Sieg. Wer sich davon aber nicht blenden lässt, der erkennt: Den einzigen bedeutsamen Erfolg auf der World Tour – abgesehen von Tagessiegen bei der Tour und der Vuelta – holte Ineos durch Thomas Pidcock bei der Strade Bianche. Kein einziges World-Tour-Etappenrennen gewann die britische Mannschaft – das gab es bislang nur im Debütjahr 2010.
Im UCI-Fahrerranking der Saison 2023 ist der erste Ineos-Fahrer mit Filippo Ganna derweil auf Rang 15 zu finden. Eine eher mittelmäßige Bilanz. Dieses Bild setzt sich aus den Vorjahren fort und ist aus zweierlei Sicht bemerkenswert: Zum einen, da man mit einem Budget von angeblich 50 Millionen Euro über das meiste Geld im Radsport verfügt, zum anderen, da man bis vor einigen Jahren noch als Maßstab des Sports galt.
Denn Ineos, das war bis 2019 das Team Sky, das nach kurzer Anlaufzeit den Dreh raus hatte und fast eine Dekade lang den Sport dominierte. Siebenmal gewann man zwischen 2012 und 2019 die Tour de France. Dazu etablierte Sky bei Training, Ernährung und Rennvorbereitung neue Denkweisen – zusammengefasst unter dem Schlagwort “marginal gains”, verkörpert durch die kühle, optimierungsgeprägte Haltung von Teamboss David Brailsford. Man polarisierte, erzeugte aber auch Misstrauen. Doch selbst Topfahrer anderer Mannschaften ließen sich bei Sky bereitwillig als Helfer einspannen, bloß um für das Team zu fahren – und nebenbei gutes Geld zu verdienen. Wo hat die britische Mannschaft also den Anschluss verloren?
Den letzten von bislang zwölf Grand-Tour-Siegen holte Ineos 2021 durch Egan Bernal beim Giro d’Italia. Im selben Jahr übernahm Ellingworth das Tagesgeschäft im Team. Brailsford hat zwar beim Rennstall nach wie vor den Hut auf, verantwortet inzwischen jedoch sämtliche Sport-Aktivitäten des Ineos-Imperiums von Milliardär Jim Ratcliffe. Ellingworth war zuvor ab 2010 Trainer und Performance Manager bei Sky, führte 2020 für ein Jahr das Team Bahrain-McLaren, ehe ihn Brailsford in führender Position zurückholte. Andere Teams haben die Arbeitsweise bei Sky in der Zwischenzeit adaptiert und weitergedacht – während Ineos seit zwei Jahren stagniert. Das ernüchternde aus Sicht des Teams: Das Modell Sky funktioniert nach wie vor, findet nun allerdings erfolgreicher denn je Anwendung bei Jumbo-Visma.
Dass mit Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard die beiden gegenwärtigen Ausnahmefahrer blöderweise in anderen Teams gefestigt sind, dafür kann Ellingworth ebenso wenig wie für den lebensbedrohlichen Sturz von Bernal zu Jahresbeginn 2022. Der Kolumbianer, damals Ineos’ große Hoffnung auf Grand-Tour-Erfolge, hat sich davon bis heute nicht ganz erholt. Erschüttert hat das Team zudem der Verlust von Nicolas Portal, der im März 2020 mit 40 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Er galt als begnadeter Sportlicher Leiter und hatte maßgeblichen Anteil an den vier Tour-de-France-Siegen von Chris Froome.
Was indes sehr wohl in Ellingworths Verantwortungsbereich als Teamchef fällt, ist eine verfehlte Kaderplanung – wobei hier die Unstimmigkeiten im Management beginnen. Im Sommer gab es Berichte, wonach sich Brailsford wieder verstärkt in die Teamabläufe einmischt. Das soll dazu geführt haben, dass geplante Transfers offenbar wieder abgeblasen oder wie beim Norweger Tobias Foss erst einmal auf Eis gelegt wurden. Überbringer der schlechten Nachrichten musste demnach stets Ellingworth sein. Bislang hat Ineos lediglich drei Neuzugänge für die kommende Saison vermeldet, einer davon ist Foss.
Diese Bilanz ist umso eklatanter, betrachtet man die Abgangsseite: Im Vorjahr ließ man Dylan van Baarle, Adam Yates, Eddie Dunbar und den früheren Grand-Tour-Sieger Richard Carapaz ziehen, zur neuen Saison gehören Pavel Sivakov, Daniel Martinez und Tao Geoghegan Hart, 2020 Sieger des Giro d’Italia, nicht mehr zum Team. Adäquaten Ersatz holte man nicht.
Öffentlich bemüht das Team stets die Aussage: Man befinde sich im Neuaufbau. Dazu passend verpflichtete Ineos zuletzt in erster Linie Nachwuchstalente, was durchaus eine Teamstrategie sein kann, als Transferschwerpunkt bei Ineos’ Möglichkeiten aber irritierend wirkt. Das ist ungefähr so, als würde Bayern München zahlreiche Leistungsträger verkaufen und dafür nur Jugendspieler holen. Andrew August, Leo Hayter, Magnus Sheffield, Joshua Tarling oder Ben Turner verfügen zwar über großes Potenzial, sind aber Wetten auf die Zukunft. Was den Ansatz zusätzlich konterkariert: Einige dieser Nachwuchshoffnungen zieht es 2024 mit Luke Plapp (Jayco-AlUla) oder dem Briten Ben Tulett (Jumbo-Visma) bereits zu anderen Teams. Die derzeit vielversprechendsten britischen Talente Thomas Gloag (Jumbo-Visma) oder Max Poole (DSM) verpasste man ebenfalls.
Das alles hat die Kaderausrichtung verwässert. Alle Kraft für die Tour de France: Das war in den Sky-Jahren stets das Unternehmensleitbild, dem man alles unterordnete. Mittlerweile bedient der Kader jedes Segment ein bisschen, ob Klassiker, Sprint oder Rundfahrten, aber stellt nirgendwo Weltklasse da – mit Ausnahme im Zeitfahren durch Filippo Ganna. Es fehlt eine Führungsfigur wie einst Bradley Wiggins oder Chris Froome, zumindest laut Thomas: “Natürlich braucht man einen Anführer, um zu gewinnen. Und wenn man eine starke Führung hat, können alle anderen mit ihr mithalten.” Bedeutet: Ein starker Leader hebt das Niveau der gesamten Mannschaft. Ineos hat diesen Effekt im Moment nicht.
Als Gesicht der Zukunft gilt Thomas Pidcock. Der Brite ist ein Mann für die Klassiker, womöglich sogar für die Grand Tours. Er ist allerdings auch noch ein Rohdiamant, der gelegentlich funkelt, aber noch einiges an Schleifarbeit benötigt – zumal er parallel weiterhin Ambitionen im Cross- und Mountainbike-Bereich verfolgt, gerade 2024 mit den Olympischen Spielen. Der 22-jährige Carlos Rodriguez ist womöglich der vielversprechendste Rundfahrer im Kader, kam 2023 auf Platz fünf der Tour. Dennoch fehlt die Fantasie, dass er es in den kommenden Jahren ernsthaft mit Pogacar oder Vingegaard aufnehmen kann.
Bezeichnenderweise kamen die besten Ergebnisse in den vergangenen Jahren durch Geraint Thomas: Platz zwei beim Giro dieses Jahr, Platz drei bei der Tour im Vorjahr. Die Erfolge eines 37-Jährigen können für Ineos allerdings nur ein erfreulicher Bonus, nicht die zentrale Ausrichtung sein.
Die Teamleitung hat das Fehlen einer Führungsfigur zumindest erkannt. Seit einigen Jahren baggert man um die Dienste von Remco Evenepoel, auch Primoz Roglic soll man angelockt haben. Es wären Transfers gewesen, mit denen Ineos sofort aufrechter gestanden hätte. Einzig, jedes Mal handelte man sich ein Korb ein – eines der Grundprobleme der vergangenen Jahre: Auf dem Transfermarkt bleibt Ineos merkwürdig ergebnislos.
Es ist einer der auffälligsten Unterschiede zu den Sky-Jahren: Damals lotste man reihenweise Topfahrer von anderen Teams zu sich, wodurch man die jahrelange Überlegenheit zementierte. Nun greift die Konkurrenz regelmäßig beherzt selbst bei Ineos zu. Die neuen Superteams sind Jumbo-Visma und das Team UAE. Die Gründe sind nur zu mutmaßen. Ist Ineos zu spät bei den Vertragsverhandlungen? Sind die sportlichen Argumente einfach nicht mehr überzeugend? Oder hakt es bei den internen Abläufen und Kompetenzen? Ein souveränes Bild gibt das Team derzeit nicht ab.
Die neue Führung braucht daher nicht nur sportliche Resultate, sondern auf Sicht einen neuen Ansatz und Erfolge auf dem Transfermarkt. Denn der aktuelle Kader ist gut, stellt aber längst keine Spitzenklasse mehr dar – gerade mit Blick auf die großen Events wie der Tour de France. Denn um diese Rennen wird es kurz- bis mittelfristig auch Teambesitzer Jim Ratcliffe mit seinem Millionenengagement gehen. Eine nun wieder größere Rolle von Brailsford ist derweil fraglich. Nach Berichten aus England soll er eine entscheidende Position beim Fußballklub Manchester United erhalten, dem neuen Prestigeprojekt für Ratcliffe, falls dieser dort Anteilseigner wird.
Die Versäumnisse der vergangenen Jahre stehen dem Team womöglich aber noch länger im Weg. Verpflichtungen von Pogacar und Vingegaard scheinen utopisch, selbst in der Schublade darunter dürften Klassementfahrer wie Juan Ayuso (UAE, Vertrag bis 2028), Joao Almeida (UAE, Vertrag bis 2026) oder der aufstrebende Cian Uijtdebroeks (möglicher Wechsel zu Jumbo-Visma) kaum verfügbar sein. Und auch andere Superstars wie Mathieu van der Poel (Alpecin-Deceuninck, Vertrag bis 2025) und Wout Van Aert (Jumbo-Visma, Vertrag bis 2026) scheinen bei ihren Teams gefestigt.
Für die Teamleitung bleibt nur die Hoffnung, dass eines der Talente schnell unerwartete Höhen erreicht – oder den Flirt mit Evenepoel aufrechtzuerhalten. Fällt Ineos sportlich indes weiter zurück, dürfte sich allerdings auch der Belgier überlegen, ob das britische Team für ihn noch das richtige Ziel ist. Denn das Mittelmaß scheint derzeit für Ineos näher als die Rückkehr zum Topteam.