Neustart von Jan Ullrich - endlich befreit?

Sebastian Moll

 · 03.01.2024

Jan Ullrich: Eine Karriere mit Licht, aber auch sehr viel Schatten
Foto: Getty Images
Im Rahmen einer breit angelegten Medienkampagne hat Jan Ullrich sich in der Öffentlichkeit zurückgemeldet – mit großer Offenheit und tiefen Einblicken in sein Leben.

Es ist schon eine Weile her, dass Jan Ullrich eine derartige Medienpräsenz genoss wie in den letzten Tagen des Novembers 2023. Im Jahr 2018 vielleicht, rund um seinen allzu öffentlichen Absturz in Mallorca, als er von der spanischen Untersuchungshaft in die hessische und weiter in die Entzugsklinik stolperte und sich die Medien von “Bild” bis “Stern” sattsam an der Katastrophe weideten, zu welcher das Leben eines der größten deutschen Sporthelden aller Zeiten geworden war. Die Medienaufmerksamkeit damals war freilich ungewollt, das Resultat war ein Totalschaden der Marke Jan Ullrich oder dem, was davon noch übrig geblieben war.

Die jüngste Offensive sollte das Gegenteil sein: ein orchestriertes Comeback, durchchoreografiert vom ehemaligen Regierungssprecher Bela Anda und dazu gedacht, Ullrich sowohl für eine persönliche wie berufliche Zukunft neu zu positionieren. Das Launch-Event Jan Ullrich 2.0 war von langer Hand geplant. Fünf Jahre lang hatte man Ullrich sorgsam aus der Öffentlichkeit herausgehalten. Selbst an dem ausgiebigen öffentlichen Gedenken an seinen Toursieg anlässlich des 25-jährigen Jubiläums im vergangenen Jahr nahm er nicht Teil. Eine mehrteilige ARD-Dokumentation und zwei Buchbiografien mussten ohne den Protagonisten auskommen.

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Comeback in der Öffentlichkeit: Für Jan Ullrich nur ausgewählte Medien

In diesem November war es dann so weit. Amazon Prime lancierte eine vierteilige Dokumentation, ganz im Stile jener Promi- und Athleten-Dokus auf den einschlägigen Streaming-Plattformen, bei denen sich jene ein Maximum an Kontrolle über ihre eigene Geschichte vertraglich zusichern lassen. Flankiert wurde die Serie von sorgsam platzierten Exklusivinterviews mit handverlesenen Qualitätsmedien, vom “Zeit-Magazin” bis zur Talkshow “3 nach 9”, in der Ullrich neben Außenministerin Annalena Baerbock saß und über seinen Weg zurück ins Leben plauderte.

Die gesamte Kampagne wurde als Lebensbeichte vermarktet. Endlich würde Jan Ullrich der deutschen Öffentlichkeit das geben, was sie seit nunmehr 17 Jahren von ihm fordert: ein volles Geständnis seiner Sünden als Leistungssportler als Bedingung dafür, dass man ihn wieder ins Herz schließen kann. Aus all dem war zumindest schon mal eines herauszulesen: Jan Ullrich hat gelernt, sich von kompetenten Leuten beraten zu lassen. Das ist keine Kleinigkeit. Vieles, das gibt Ullrich in der Doku zu, wäre ihm in seinem Leben mit der richtigen Beratung erspart geblieben. Möglicherweise sogar sein tragischer Absturz und der Verlust von kostbaren Lebensjahren an Drogen und Alkohol, den er heute zutiefst bedauert.

Der ehemalige Radprofi Jan Ullrich stellt seine Dokumentation “Jan Ullrich - Der Gejagte” im Filmtheater Sendlinger Tor vor, neben ihm seine Partnerin Elizabeth Napoles. Seit dem 28. November 2023 ist die mehrteiligen Serie bei Amazon Prime zu sehen.Foto: DPA Picture AllianceDer ehemalige Radprofi Jan Ullrich stellt seine Dokumentation “Jan Ullrich - Der Gejagte” im Filmtheater Sendlinger Tor vor, neben ihm seine Partnerin Elizabeth Napoles. Seit dem 28. November 2023 ist die mehrteiligen Serie bei Amazon Prime zu sehen.

Dieser Absturz, auch das macht er in der Doku und den begleitenden Interviews deutlich, steht in direktem Zusammenhang mit seiner Entscheidung, nach seinem erzwungenen Karriereende im Jahr 2006 nicht reinen Tisch zu machen. Er gibt zu, mit der Situation überfordert gewesen zu sein. “Plötzlich redest du nur noch mit Anwälten”, sagt er und lässt dabei spüren, wie ihm der Kopf schwirrte. Wie schon nach seinem Tour-de-France-Sieg 1997 fand er sich plötzlich in Sphären und Zusammenhängen wieder, mit denen er nicht zurechtkam. Das alles fiel damit zusammen, dass er über Nacht aus dem Umfeld herausgerissen wurde, das ihn sein Leben lang getragen hatte.


Die einzelnen Folgen der Amazon-Doku-Serie in der Übersicht


Gründe für Verschwiegenheit

Mit bemerkenswerter Klarheit artikuliert Ullrich, was es bedeutet hat, von heute auf morgen sowohl seinen Beruf und Lebensinhalt zu verlieren, als auch sein soziales Umfeld. “Ich wurde vor die Tür gehängt wie eine stinkende Socke”, sagt er in dem Zwei-Stunden-Gespräch mit Podcaster Matze Hielscher, dem es mehr als jedem anderen Interviewer gelang, Ullrich aus der Reserve zu locken. So entspannt und offen hat man ihn tatsächlich noch nie erlebt. Bei Matze erzählt er eindringlich und nachvollziehbar, warum er sich letztlich dazu entschloss, zu schweigen. Die Antwort, dass er kein Verräter sein wollte, die ihm in vielen Kommentaren Kritik eintrug, wird bei Matze nicht nur nachvollziehbar, sondern erweckt Verständnis und Mitgefühl.

Ullrich fand sich 2006 in der gleichen Lage wie viele seiner Weggefährten, angefangen bei Armstrong, Pantani und Virenque bis hin zu Floyd Landis. Es war unmöglich zu gestehen, ohne das ganze System auffliegen zu lassen und mit in den Abgrund zu reißen. Den Mut brachte seinerzeit Jörg Jaksche auf, der fortan im Radsport Persona non grata war. Wer, wie Ullrich, insgeheim noch die Hoffnung hegte, wieder in den Betrieb zurückzukehren, der doch ein Leben lang Familie gewesen war, dem war das Geständnis unmöglich. Die Alternative bestand darin, alles auf sich zu laden und für den Radsportbetrieb einen Märtyrertod zu sterben. Auch dazu war Ullrich jedoch nicht bereit: “Es konnte doch nicht sein, dass ich für ein ganzes System verantwortlich gemacht werde, das es schon lange vor mir gab.”

Diesem Schicksal entging er am Ende trotzdem nicht. Jan Ullrichs Tragik besteht darin, dass er alles verlor, obwohl er sich selbst und den Radsportzirkus schützen wollte. Als überführter Doper spie der Radsport ihn aus – mit oder ohne Geständnis. Und in der deutschen Öffentlichkeit wurde er trotz oder gerade wegen seines Schweigens zur Symbolfigur für ein marodes System. Das alles führte ihn in eine tiefe Vereinsamung. Gegenüber Matze beschreibt er eine Schwere, die sich über sein Leben legte. Es war eine Schwere, die er über Phasen immer mal wieder vergessen konnte, die sich aber verlässlich immer wieder zurückmeldete und ihn in Depressionen und Drogen stürzte.

Jan Ullrich: Einer wie du und ich

Als ihm schließlich die Familie als Halt wegbrach, erdrückte diese Schwere ihn beinahe endgültig. Natürlich, erklärt er, habe er immer wieder zwischendurch überlegt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch die Kraft dazu war ihm abhanden gekommen. Diese offenen Worte erwecken unweigerlich Mitgefühl. Wenn Ullrich etwa zugibt, dass seine Sozialisierung ihn daran hinderte, sich Hilfe zu suchen, können das ganz gewiss Millionen von Menschen, vor allem Männer, nachvollziehen, die einmal mit einer seelischen Krise gerungen haben. “Ich war doch stark. Ich hatte doch die Tour de France gewonnen”, sagt Ullrich gegenüber Matze. Erst der Zusammenbruch 2018 ließ bei ihm die Erkenntnis reifen, dass das Leben kein Radrennen ist und manche Dinge mit Härte nicht zu lösen sind.

Es ist keine bahnbrechende Erkenntnis und dennoch eine, die für Jan Ullrich schwer zu erringen war. Sein offenes Reden darüber holt der 50-Jährige aus den entrückten Gefilden des Star-Tums in die Regionen des Menschlichen zurück. Es ist auch diese Nähe zu uns, zum Publikum, die Jan Ullrich in den Interviews herzustellen vermag, welche die Resozialisierung zum Erfolg gemacht hat.

Die Art und Weise, wie er bei Matze oder etwa bei Giovanni di Lorenzo in “3 nach 9” frei und authentisch von seinen Krisen und Kämpfen spricht, macht ihn wieder zu dem, der er für das Publikum 1997 schon einmal war. Einer wie du und ich, mit ähnlichen Nöten und Problemen, auch wenn er sich sowohl im Sport als auch in seinen seelischen Abgründen in Regionen bewegt hat, in welche die meisten von uns niemals vorstoßen werden. Die Tatsache, dass er noch immer bisweilen um Worte ringt und knapp daneben liegt, macht ihn dabei nur noch sympathischer und zugänglicher.

Jan Ullrich in der Talkshow "3 nach 9".Foto: DPA Picture AllianceJan Ullrich in der Talkshow "3 nach 9".

Neues Leben für den Gejagten

Das Geständnis als solches, das als Vorwand für das Coming-out verkauft wurde, verblasst daneben. Dass Ullrich wie die meisten Fahrer seiner Generation gedopt hat, wusste man schon und es aus seinem Mund zu erfahren, fügt dem nicht viel hinzu. Zumal Ullrich noch immer nicht die Hintermänner oder Strukturen innerhalb des Teams aufdeckt. Das sei nicht seine Aufgabe, sagt er wiederholt. Dennoch ist nun der Weg frei für ihn in ein neues Leben in der Öffentlichkeit. Die Türen stehen ihm wieder offen, der Relaunch hat Jan Ullrich mit Deutschland und der Welt versöhnt. Die einzige Skepsis, die bleibt, ist, ob er tatsächlich dazu bereit ist, wieder im Rampenlicht zu stehen, in dem er sich doch Zeit seines Lebens mehrfach übel verbrannt hat.

Es gibt viele Momente in der Dokumentation, die ahnen lassen, dass er bei der Bewältigung seiner seelischen Probleme noch einen weiten Weg zu gehen hat, etwa, wenn er von dem komplizierten Verhältnis zu seinem Vater spricht, das ihn noch immer umtreibt. Nun kann man nur hoffen, dass seine neue, kompetente Beratung ihn so durch die nächsten Schritte leitet, dass sein zartes neues Gleichgewicht dabei keinen Schaden nimmt.

Epilog

Für den Rezensenten war diese Öffnung Ullrichs ganz besonders bewegend. Jahrelang hatte ich mir Ullrichs Einsicht gewünscht, dass das abrupte Karriereende und der damit verbundene, plötzliche Raub des Lebensinhalts für seine tiefe Krise maßgeblich war. Ich konnte diesen massiven Einschnitt in der Biografie als ehemaliger Leistungssportler schon immer gut nachvollziehen und gerade deshalb zog mich Jan Ullrichs Tragödie tief in ihren Bann. So tief, dass ich nach 2018 beschloss, mich in Buchlänge damit zu befassen. Die Tatsache, dass Ullrich sich nun offen damit auseinandersetzt, macht Hoffnung nicht nur für ihn persönlich, sondern auch darauf, dass das Thema des schwierigen Übergangs in ein Leben nach dem Sport nun eine noch breitere Aufmerksamkeit erfährt.

Buchtipp zum Thema Jan Ullrich

Das Buch “Ulle” - Jan Ullrich. Geschichte eines tragischen Helden von Sebastian Moll ist im Delius Klasing Verlag erschienenFoto: Delius Klasing Verlag GmbHDas Buch “Ulle” - Jan Ullrich. Geschichte eines tragischen Helden von Sebastian Moll ist im Delius Klasing Verlag erschienen

Sebastian Moll hat Ullrichs Karriere einst als Radsportjournalist begleitet und in dessen Biografie nach Wegmarken und Zusammenhängen gesucht, die erklären können, warum sich der begnadete Athlet so schwer damit tat, den Erfolg zu verkraften und nach seiner aktiven Zeit in ein erfülltes, zufriedenes Leben zu finden. Moll macht in seinen Betrachtungen einige Dinge anders als andere Sport-Biografen, und das hebt sein Buch heraus. Er begegnet Ullrich gleichermaßen mit Empathie und kritischer Distanz, er urteilt nicht, sondern beschreibt und sucht nach Erklärungen. Für Letzteres blickt er über den Tellerrand des Radsports hinaus, lässt andere Leistungssportler und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zu Wort kommen, zeigt ethische und sportsoziologische Aspekte auf. Außerdem arbeitet er die Verantwortung von Medien, Fans und der Sportöffentlichkeit heraus, die mit ihrem Verhalten nicht wenig dazu beitragen, dass Leistungssportler ­während und nach ihren Karrieren sehr häufig mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Molls Auseinandersetzung mit der Karriere von Jan Ullrich ist eine wertschätzende, und nicht zuletzt diese Qualität macht das sachkundige und detailreiche Buch auch nach Ullrichs jüngster Öffnung sehr lesenswert.

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