Andreas Kublik
· 25.03.2023
Die Schlagzeilen zu Jahresbeginn zeigen: Beim Team Soudal - Quick-Step hat ein Kampf um die Führungsrolle begonnen. Wird aus den besten Klassikerspezialkräften um Julian Alaphilippe künftig eine Leibgarde für den potenziellen Tour-Sieger Remco Evenepoel?
Die Jahre sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Gebeugt, mit schwerem Schritt kämpft sich der Mann mit dem schlohweißen Haar die wenigen Stufen zur Bühne empor. Patrick Lefevere, der ewige Patron des belgischen Rennstalls, der fast jedes Jahr anders heißt, meist aber den Bestandteil Quick Step im Namen führt, hat mittlerweile 68 Jahre auf den Knochen.
Oben angekommen witzelt er, die beste Zeit für einen Mann sei mit 40, da sei man in der Blüte seines Lebens. Das ist bei ihm eine Weile her. Doch an Ruhestand denkt der Chef auch vor der Saison 2023 nicht. Er mag nicht mehr gut zu Fuß sein, aber er ist immer noch voller Energie und streitbar.
Am Dreikönigstag, als er sein Team Soudal - Quick Step zur Saison 2023 im Vergnügungspark Plopsaland präsentieren ließ, machte er seinen Sponsoren artig Komplimente. Betonte dann aber ausdrücklich: “Ich habe einen schlechten Charakter.” Und es klang, als sei er stolz darauf. Es ist einer seiner Charakterzüge, bei ausbleibendem Erfolg schlechte Laune zu bekommen. Das über Jahre nach Siegen erfolgreichste Ensemble im Profi-Peloton hatte zuletzt die Erwartungen des Chefs nicht in allen Belangen erfüllt - war auf Rang sechs der Team-Weltrangliste abgerutscht.
Und einer stand im Zentrum seiner Rage: Julian Alaphilippe, zweimal Weltmeister, aber im vergangenen Jahr in einer Serie aus Pleiten, Pech und schweren Stürzen ziemlich erfolglos. “Er hat das Gehalt eines Champions, aber er muss auch beweisen, dass er immer noch einer ist”, wetterte Lefevere im Vorfeld der Präsentation. Das war nicht nett - oder zeugte vom angesprochenen schlechten Charakter.
Als Beobachter fragte man sich, ob Alaphilippe während seines Auftritts bei der Präsentation die Coronamaske eventuell nicht wegen der Ansteckungsgefahr trug, sondern um wahlweise die Schames- oder Zornesröte im Gesicht ob der Anwürfe seines Chefs zu kaschieren. Nachdem der zweimalige Weltmeister aus Frankreich schnell wieder verschwunden war und sein Auftritt vor den Journalisten wegen einer vermeintlichen Erkrankung kurzfristig gestrichen wurde, erschien kurz darauf ein Interview mit der französischen Sportzeitung L’Equipe.
Derartige Kritik habe er von seinem Chef noch nie ins Gesicht gesagt bekommen, entgegnete Alaphilippe darin. Aber sonst sei alles bestens, so die Botschaft. Von wegen. Lefevere legte nach, um seinem einstigen Top-Athleten noch mehr Druck zu machen. Nichts gesagt? Er habe das dem Franzosen ausdrücklich und im Beisein von Gattin und Manager mitgeteilt, ließ er seine Replik ebenfalls per Interview verbreiten. Und hat damit den einstigen Dauerleistungsträger und Publikumsliebling desavouiert. Aber warum?
Lefeveres unablässiges Nachtreten bei der Mitarbeiterbeurteilung rund um den Jahreswechsel wirkte besonders hart und wenig empathisch, weil auf der Leinwand des Auditoriums in Plopsaland Ausschnitte einer mitreißenden Dokumentation über das Team Soudal - Quick Step liefen. Darin zu sehen: Eine zitternde, schluchzende Marion Rousse als Co-Kommentatorin des französischen Fernsehens, nachdem sie die fürchterlichen Bilder live gesehen hatte, wie Alaphilippe, ihr Lebensgefährte und Vater des gemeinsamen Sohnes, beim Rennen Lüttich-Bastogne-Lüttich bei Höchstgeschwindigkeit in den Wald geschleudert wurde und regungslos am Fuße eines Baumes liegen blieb.
“Stürze können nicht ewig als Entschuldigung herhalten”, gab sich Lefevere rund um die Präsentation unerbittlich, als sei der folgenreiche Unfall mit mehreren Knochenbrüchen und komplizierter Lungenverletzung Jahre her und nicht erst im vergangenen April geschehen.
Der Tag in den Ardennen war vielleicht der Moment eines Machtwechsels innerhalb des Teams - nicht nur in Bildern gesprochen: Alaphilippe schwer verletzt am Boden, Youngster Remco Evenepoel preschte weiter zum Sieg Richtung Lüttich und ließ sich feiern. Es war der erste Akt der großen Remco-Show 2022. Er ist der neue Liebling des Chefs. Und diese Art des Revirements an der Spitze der Teamhierarchie hat Tradition unter Lefeveres Regime. “Die üblichen Druckstöße”, titelte die französische Sportzeitung L’Equipe nach der Verbalattacke des Patrons gegen den Radsport-Entertainer aus Frankreich.
Liebesentzug und Schmähkritik sind Teil des Führungsstils - wenigstens des Teils, der öffentlich sichtbar wird. Zusammengefasst und spitzzüngig formuliert, könnte man sagen: Lefevere mag Erfolg, die Folgen bezahlen mag er deutlich weniger. Ein Weltmeister kostet nun einmal eine Stange Geld. Aber das reut den Manager von Soudal - Quick Step oft. Das zieht sich durch seine Karriere als Arbeitgeber.
Egal ob Weltmeister und Olympiasieger Paolo Bettini, Flandern-Rundfahrt-Gewinner Stijn Devolder oder Sam Bennett und Mark Cavendish, die beide mehrere Tour-Etappen und das Grüne Trikot gewannen: Nach erfolgreichen Zeiten demontierte er diese Stars öffentlich und wies ihnen die Tür. Gerne begleitet von übler Nachrede - wie bei Bennett, dem er vorwarf, keine Knieprobleme, sondern Kopfprobleme zu haben.
Die Beispiele sind Legion, wie Lefevere mit Zuckerbrot und Peitsche seinen Rennfahrern Beine macht, sie erst hofiert, dann kritisiert und schließlich schasst. Und den nächsten, oft billigeren und/oder jüngeren Rennfahrern die Chance gibt, erfolgreich zu werden. Ein ewiger Kreislauf. Daran muss man erinnern zu Beginn der Radsport-Spielzeit 2023, zu der Soudal - Quick Step mit einem neuen Hauptdarsteller auf die Bühne rollt.
Während Julian Alaphilippe am Tag der Präsentation weitgehend hinter den Kulissen bleibt, nimmt Remco Evenepoel, das Radsport-Wunderkind, die Parade der heimischen Fans im nahen Vergnügungspark Plopsaland ab.
Er hat - anders als Alaphilippe - im vergangenen Jahr herausragende Meisterstücke abgeliefert: In Spanien gewann er die Vuelta als erstes dreiwöchiges Etappenrennen seiner Karriere, kurz darauf fuhr er mit einem beeindruckenden Solo zum Titel des Straßen-Weltmeisters und löste seinen französischen Arbeitskollegen im Regenbogentrikot ab. “Und er kann noch besser werden”, orakelte sein Chef Lefevere. Keine gewagte Aussage - schließlich feierte Evenepoel zu Jahresbeginn seinen erst 23. Geburtstag. Vor wenigen Jahren rückten Rennfahrer in diesem Alter erst zu den Profis auf.
Es könnte das Ende einer Ära sein - vielleicht auch einen Strategiewechsel in dem Team bedeuten, das jahrelang die Avantgarde bei den Frühjahrsklassikern war, vor allem serienweise Tagessiege einfuhr. Für Lefevere waren stets die Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix die wichtigsten Rennen des Jahres - nicht die Tour de France. Das könnte sich ändern. Schließlich verpflichtete er nach einem Ringen mit der Konkurrenz das Supertalent Evenepoel als Teenager vor der Saison 2019 und band ihn langfristig.
Kurz nach seinem schweren Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt 2020 verlängerten die beiden den Kontrakt bis einschließlich 2026 - so eine lange Vertragsdauer gab’s im Hause Lefevere zuvor nie. Und sie war vermutlich teuer. So sind die beiden als Duo zum Erfolg verdammt - und der wird in Zukunft viel Geld kosten. Nicht nur ist ein potenzieller Tour-Sieger wie Evenepoel mit besonderem Star-Potenzial schon teuer, er braucht für die großen Rundfahrten auch eine Leibgarde, die enorm zu Buche schlägt.
Es ist kein Zufall, dass die Gesamtwertungen der großen Etappenrennen zuletzt die Profis der Mannschaften Ineos Grenadiers, Jumbo-Visma und UAE Team Emirates unter sich ausmachten. Das sind die Mannschaften mit den größten Geldschränken.
Gibt es also eine neue Strategie in der Firma Decolef, die den Rennstall Soudal - Quick Step betreibt? Eine Art Transformation von der breit aufgestellten Klassiker-Truppe, die dank Überzahl in den Finals der Eintagesrennen zahlreiche Erfolge eingefahren hat, zu einem Rundfahrerteam rund um den neuen Leader Evenepoel? “Absolut!”, bestätigt Klaas Lodewyck, der die Auswahl rund um Evenepoel beim Giro d’Italia als sportlicher Leiter betreuen soll. “Wir haben nur ein bestimmtes Budget. Die richtig guten Kletterer sind wirklich teuer”, erläutert er.
Oder anders gesagt: Sein Chef Lefevere muss umschichten - irgendwo einsparen, um das nötige Budget freizumachen, um Rennfahrer von der Qualität eines Sepp Kuss, Rafal Majka, Adam Yates oder Brandon McNulty bezahlen zu können, die aktuell Evenepoels Rivalen Jonas Vingegaard oder Tadej Pogacar assistieren.
“Unser Hauptziel wird sein, ein wirklich starkes Team für Remco zusammenzustellen. Es wäre natürlich perfekt, wenn wir beides kombinieren könnten”, bestätigt Lodewyck - beides heißt: Klassiker- und Rundfahrtambitionen. Aber Rennfahrer vom Schlage eines Wout van Aert, Mathieu van der Poel und Tom Pidcock für die Klassiker zusätzlich zu einer Handvoll Weltklasse-Kletterern aus dem gleichbleibenden Gehaltstopf zu bezahlen, dürfte schwierig sein.
“Wir brauchen für das kommende Jahr mindestens zwei neue Rennfahrer für die Berge”, fordert Lodewyck und verweist darauf, dass im aktuellen 29-köpfigen Kader von Soudal - Quick Step bei 20 Rennfahrern die Verträge auslaufen. Gute Chancen für einen Umbau des Teams. Zur aktuellen Saison kam nur der Tscheche Jan Hirt (von Intermarche-Wanty) als neuer Edelhelfer für die Berge dazu - immerhin mit der Empfehlung von Gesamtrang sechs beim Giro d’Italia 2022.
Zusammengefasst: Evenepoels besondere Ambitionen werden in Zukunft viel Geld kosten, das angesichts eines dem Vernehmen nach einigermaßen stabilen Budgets andernorts eingespart werden muss. Voilà, man könnte fast vermuten, dass Lefevere ganz gerne einiges von Alaphilippes Jahressalär umschichten würde - zugunsten des Jungstars, dem aktuell kaum Leistungsgrenzen gesetzt scheinen.
Während niemand weiß, ob Alaphilippe nach seinem schweren Sturz wieder das alte Niveau erreicht. Und selbst wenn: Braucht ihn Lefevere noch als hoch bezahlten Leistungsträger, dessen Ambitionen er mit denen des Herausforderers arrangieren müsste?
Zumal Evenepoel auch Lefeveres Lebenswerk auf einen höheren Sockel heben könnte. Der junge Belgier hat das Zeug zur größten Tat im Radsport - die Tour de France zu gewinnen. Davon sind sie in Belgien überzeugt. Es wäre der erste Sieg eines Radsportlers aus dem radsportverrückten Land seit 1976 - damals triumphierte Lucien Van Impe vor Joop Zoetemelk und Raymond Poulidor. Verdammt lange her.
Für den 30-jährigen Alaphilippe, aktuell noch bis 2024 vertraglich an Lefeveres Firma gebunden, könnte die gerade beginnende Saison schon eine letzte große Chance sein. Er sei motiviert wie eh und je - dazu besonders entspannt, gab der angezählte Anführer rund um den Saisonstart zum Besten. Sein erstes großes Saisonziel: Die Flandern-Rundfahrt. Ob er danach die Ardennenklassiker bestreitet, jahrelang sein Terrain im Frühjahr, ist ungewiss. Auch dort hat ihn der teaminterne Rivale aus der Führungsrolle verdrängt.
Während sich der Franzose seit fast einem Jahrzehnt die Zähne an einem Erfolg bei Lüttich-Bastogne-Lüttich ausbeißt, schnappte sich Newcomer Evenepoel den Sieg bei der Doyenne im Vorjahr im zarten Alter von 22 Jahren.
Die Zeit läuft gegen den alten Leitwolf des Wolfsrudels und für den neuen. Alaphilippe sagt, er sehe keine Transformation. Die diesjährige Tour de France könnte für ihn ein letzter großer Auftritt im Quick-Step-Trikot werden - als Anführer des Teams neben dem Sprinter Fabio Jakobsen. Ohne Evenepoel.
“Ich werde mein Rennen dort genießen, meine Art, die Rennen zu fahren”, betont er - auf heimischem Terrain, offensiv, leidenschaftlich, begleitet von der Euphorie als Publikumsliebling Frankreichs. Ob der Juli 2023 so etwas wie die letzte Chance für ihn sein könnte, weil alle Welt das Debüt Evenepoels beim wichtigsten Radrennen im Jahr darauf erwartet? “Es ist nicht die Frage, über die ich mir gerade Gedanken mache”, sagt er sibyllinisch und ergänzt: “Wenn man unser Team beim Giro und das bei der Tour ansieht, dann ist klar: Wir werden die Rennen nicht gleich fahren.”
In Italien ackern alle für einen - für den möglichen Gesamtsieg von Evenepoel. In Frankreich sollen Sprinter Fabio Jakobsen und Etappenjäger Alaphilippe die Mannschaft variabel anführen. “Remco fährt den Giro für eine gute Gesamtplatzierung. Und er wird sicher das Gleiche nächstes Jahr bei der Tour tun”, betont Alaphilippe. Er hätte auch sagen können: Ab 2024 gehört die Tour voraussichtlich nicht mehr ihm, ist sie nicht mehr seine große Bühne als langjähriger Expressionist des Radsports - zumindest wenn er dann noch im Trikot vom Team Soudal - Quick Step fährt.