Karriereenden 2023Thibaut Pinot - Der Mann mit den Ziegen, der nie die Tour gewinnen wollte

Sebastian Lindner

 · 18.12.2023

2010 beginnt die Profi Karriere von Thibaut Pinot. Beim Team FDJ. Und damit dort, wo sie 13 Jahre später auch endet.
Foto: DPA Picture Alliance
Das Jahr 2023 sah das Ende vieler großer Namen im Radsport. Vor allem die Klassiker-Fans müssen sich von einigen Helden verabschieden. Zu den Stars, die ihr Rad an den Nagel hängen, gehört auch Thibaut Pinot. TOUR blickt auf seine Karriere zurück.

Im Grunde ergeht es Thibaut Pinot ungefähr so wie jedem Franzosen in den letzten 40 Jahren, der halbwegs gut über die Berge kommt. Liefert er seinen Landsleuten auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer, trägt er die Last der Grand Nation, den ersten Tour-Sieg seit 1985 einzufahren, seit Bernard Hinault. Und auch wenn es in Jean-Christophe Peraud 2014 und Romain Bardet 2016 gleich zwei Blau-Weiß-Rote gibt, die als Zweiter auf dem Papier noch etwas näher an den ganz großen Wurf herankommen als Pinot, so ist es doch immer er, dem dieses historische Ereignis am ehesten zugetraut wird.



Doch auch wenn Pinot an diesem Unterfangen genauso scheitert wie alle anderen auch, zerbricht er nie an der schweren Bürde, auch wenn manchmal nicht viel fehlt. Denn er ist es, der die Liebe der Franzosen auch in der Niederlage spüren darf. Die Sympathien bekommt er zurück, weil er selbst viele davon ausstrahlt, bodenständig ist. “Viele denken, dass ein Sportler eine dicke Karre fährt und in Monaco lebt, aber das stimmt nicht unbedingt”, sagt Pinot der Schweizer Zeitung Le Temps, nachdem er bei der Lombardei-Rundfahrt 2023 sein letztes Rennen als Profi fährt. Auf ihn trifft das absolut nicht zu.

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Thibaut Pinot: “Froh, die Tour nicht gewonnen zu haben”

Pinot wird am Südrand der Vogesen geboren. In seinem Heimatdorf Melisey, wo sein Vater seit 2008 Bürgermeister ist, lebt Pinot Zeit seiner Karriere. Und auch in den kommenden Jahren wird sich daran nicht viel ändern. Mit seiner Partnerin Charlotte Patat hat er einen Bauernhof wieder aufgebaut, es sich in der keine 2000 Einwohner zählenden Gemeinde gemütlich gemacht. Er hält Ziegen, betreibt für sie sogar einen Instagram-Account.

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Die Verbundenheit zu seiner Heimat ist es auch, die Pinot einen Satz sagen lässt, der aus dem Mund eines Franzosen noch absurder klingt als bei jedem anderen Radprofi. “Ich bin froh, die Tour nicht gewonnen zu haben”, sagt er Le Temps. “Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, was sonst losgewesen wäre.” Er verabscheue es, im Mittelpunkt zu stehen, was sich dadurch noch verstärkt hätte. Und dann “hätte ich auf jeden Fall umziehen müssen. Das wäre für mich der größte Schrecken gewesen”, sagt er. “Die Familie, die Tiere auf meinem Bauernhof, den Garten und die Höfe, die ich wieder instand gesetzt habe” zu verlassen, sei keinen Preis wert.

Pinots Tour-de-France-Drama 2019

Und Pinot ist nah dran, die Tour zu gewinnen, auch wenn es sein Palmares kaum zeigt. Das spuckt den 3. Platz aus dem Jahr 2014 als größten Erfolg bei der Frankreich-Rundfahrt aus. 24 Jahre alt ist Pinot da, er gewinnt das Weiße Trikot des besten Jungprofis, muss sich aber Landsmann Peraud und Sieger Vincenzo Nibali geschlagen geben. Der Italiener hat mehr als acht Minuten Vorsprung auf Pinot, wirklich knapp ist das nicht.

Anders ist die Situation 2019. Die Tour de France nimmt erst Ende der zweiten Woche so richtig Fahrt auf. Zuvor kommt Thibaut Pinot gut durch seine heimatlichen Vogesen und auch durchs Zentralmassiv, ist Dritter der Gesamtwertung und rangiert vor allen anderen Topfavoriten auf den Gesamtsieg. Auf einer Übergangsetappe in Richtung Pyrenäen verliert er zwar Zeit und Positionen, doch spätestens mit seinem Sieg am Toumalet auf der 14. Etappe und Platz 2 am Tag darauf in Nimes beweist Pinot die beste Bergform des ganzen Feldes. Auch Egan Bernal, der spätere Sieger, kann nicht folgen. Mit einem kleinen Polster auf den Kolumbianer geht er in die Alpen.

Dann kommt die 18. Etappe. Auf dem Weg über den Col d’Izoard und den Galibier verliert Pinot ein paar Sekunden Zeit und beendet das Teilstück als Fünfter der Gesamtwertung, nur wenige Sekunden hinter den ernsthaften Siegeskandidaten Bernal und Geraint Thomas. Doch das ist nicht das Schlimmste. Er verliert auch seinen Oberschenkelmuskel im linken Bein. Am Tag zuvor war er bei der Vermeidung eines Sturzes so mit dem Quadrizeps gegen den Lenker geknallt, dass er sich dabei einen Muskelfaserriss zuzog.

Auf flachem Terrain war das noch halbwegs zu verkraften, an Alpengipfeln nicht. Derart angeschlagen lässt sich Pinot auf der 19. Etappe hinauf zur Bergankunft nach Tignes früh vom Rennarzt behandeln. Doch es hat keinen Zweck. Seine Helfer schickt er fort, quält sich unter Tränen allein über das permanent ansteigende Profil. Nach 36 Kilometern gibt er auf und steigt unter Tränen ins Teamfahrzeug.

Giro-Aus auf der 20. Etappe als Gesamtdritter

Es ist nicht das erste Mal, das Pinot eine Grand Tour in aussichtsreicher Position aufgeben muss. Nach seinem Tour-Debüt 2012, das er zehntplatziert und mit einem Etappensieg als 22-jähriger Hoffnungsträger beendet, zwingen ihn ein Jahr später Halsschmerzen zur Aufgabe, nachdem sie ihn zuvor schon stark einschränken. 2015 muss er die Tour zwar nicht abbrechen, doch bringt ihn ein früher Sturz auf der 5. Etappe um alle Chancen in der Gesamtwertung. Seine Stärke in diesem Jahr beweist er später noch mit dem prestigeträchtigen Sieg in L’Alpe d’Huez.

2016 lässt ihn eine Virusinfektion die Tour vor der 13. Etappe aufgeben - er fährt in dieser Saison kein weiteres Rennen. 2017 startet er erstmals in seiner Karriere beim Giro d’Italia und beendet ihn als Vierter, unter anderem auch mit einem Etappensieg im Gepäck. Doch die Doppelbelastung aus Giro und Tour ist zu viel. Nachdem er seiner Form in Frankreich zunächst hinterherfährt, beendet er die 17. Etappe im Mannschaftswagen.

Ein weiteres Jahr später fährt Pinot wieder den Giro. Nach der 19. Etappe ist er Dritter der Gesamtwertung. Doch die Rundfahrt beendet er nicht. Auf dem 20. Abschnitt bricht er komplett ein. Dehydriert und mit Fieber und Atemnot wird er sofort nach Zielankunft ins Krankenhaus gebracht, zur letzten Etappe tritt er nicht mehr an. Die folgen spürt Pinot noch bis in den Sommer, denn eine noch nicht auskurierte Lungenentzündung kostet ihn die Tour-Teilnahme.

Wie konkurrenzfähig er hätte sein können, beweist er dann bei der Vuelta. Zwei Etappensiege und Platz 6 in der Endabbrechnung bringt er mit nach Hause. Die Topform konserviert er bis in den Oktober und holt seinen wertvollsten Sieg. Thibaut Pinot gewinnt die Lombardei-Rundfahrt. Il Lombardia ist das einzige Monument, das der Rundfahrt-Spezialist überhaupt mal in Angriff nimmt.

Pinot: “Ich will meine Mannschaft nicht mehr enttäuschen”

In Verbindung mit dem italienischen Klassiker bringen ihn trotzdem die wenigsten. Das gilt auf für seine anderen großen Erfolge. “Die Leute erinnern sich eher an meinen Ausstieg bei der Tour 2019 als an meinen Etappensieg am Tourmalet”, sagt er im Interview nach seinem Karriereende. “Ich gelte als Verlierer, aber das stört mich nicht.”

Dabei weist Pinot Etappensiege bei allen Grand Tours vor, beendet sie mindestens als Sechster und auch alle anderen bedeutenden Rundfahrten in den Top 5, feiert insgesamt 33 Siege als Profi. Und doch scheint das manchmal nicht zu reichen. Vor allem nach der Tour de France 2020 droht auch er dem Druck zu erliegen. Schon auf der 1. Etappe holt ihn das Pech, das ihm in wichtigen Rennen oft treu ist, erneut ein. Er stürzt wie das halbe Feld im verregneten Nizza.

Was zunächst wenig dramatisch aussieht, hat jedoch Folgen. Nicht nur für das Rennen oder den Rest der Saison. 2021 will er wieder beim Giro angreifen, doch Rückenprobleme, die ihn seit jenem Tag in Nizza plagen, verhindern seinen Start bei jeder weiteren großen Rundfahrt in dieser Saison. Schon nach der erfolglosen Tour des Vorjahres sagt er der L’Equipe: “Ich will meine Mannschaft nicht mehr enttäuschen.” Kapitän bei einer großen Rundfahrt will er nicht mehr sein.

Thibaut Pinot “jetzt bereit für das echte Leben”

Anführen, oder viel mehr: ein guter Hirte sein, will Thibaut Pinot nur noch zu Hause bei seinen Ziegen. Ohne Druck und vor allem ohne von der Öffentlichkeit dabei beobachtet zu werden. Doch vorher findet er nochmal in die Erfolgsspur zurück. 2022 gewinnt er bei der Tour of the Alps eine Etappe und feiert damit den ersten Sieg seit fast drei Jahren, seit der Tour-Etappe am Tourmalet. Auch bei der Tour de Suisse schlägt er nochmal zu. Bei der Frankreich-Rundfahrt ist er als Etappenjäger und Helfer für seinen Nachfolger David Gaudu am Start.

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Im Januar 2023 erklärt Pinot: “Ich bin jetzt bereit für das echte Leben.” Mit diesen Worten verkündet er in der L’Equipe das Ende seiner Karriere nach der Saison. Schon früher sagt er dem gleichen Medium mal, dass er sich schon damit beschäftigt, seit er 18 Jahre alt ist. Das Talent war immer da, die Unlust auf das große Leben in der Öffentlichkeit aber auch.

Marc Madiot, sein Teamchef, stellt in diesem Moment Qualitäten als Hellseher unter Beweis. Oder einfach nur eine enorm gute Kenntnis des Fahrers, mit dem ihn ein beinahe schon väterliches Verhältnis verbindet. Madiot sagt: “Ich denke, er wird eine großartige Saison haben. Er muss nichts beweisen. Er muss nur Spaß haben – und das wird er.”

Pinot versetzt Fans in den Vogesen ein letztes Mal in Extase

Und so kommt es. Pinot fährt den Giro. Ein Etappensieg ist ihm zwar nicht mehr vergönnt. Erst bringt ihn der Kolumbianer Einer Rubio bei der Bergankunft auf der 13. Etappe in Crans-Montana um den Sieg, in Palafavera im Val di Zoldo auf dem 18. Abschnitt Filippo Zana. Auf den Ausreißversuchen sammelt Pinot aber so viele Punkte für die Bergwertung, dass er am Ende neben Platz 5 in der Gesamtwertung auch noch das Wertungstrikot mit nach Hause nimmt.

Natürlich fährt Thibaut Pinot auch nochmal die Tour. Als Helfer von Gaudu, der sich aber auf seiner Abschieds-Rundfahrt auch Freiheiten herausnehmen kann, fährt er noch viermal in die Top 10 und wird insgesamt Elfter - sein drittbestes Resultat bei der Tour. Begleitet wird er dabei überall von seinen frenetischen Fans, die ihm auch am Ende seine Karriere verzeihen, dass er die Tour nie gewonnen hat. Dafür liefert er auf der 20. Etappe nochmal einen großen Kampf. Als wäre es extra für Pinot geplant, führt das letzte entscheidende Teilstück durch die Vogesen.

Am Petit Ballon setzt er zum Solo an und fährt als Führender durch Tausende von Menschen, die nur ihm zujubeln. Dass er es nicht an der Spitze des Feldes ins Ziel schafft, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Le Temps sagt er, “die Kraft des Sports ist nicht der Sieg, sondern die gemeinsam geteilten Emotionen - ob sie nun gut oder schlecht sind.”



Das letzte Rennen seiner Karriere bestreitet Thibaut Pinot mit seiner neunten Teilnahme an der Lombardei-Rundfahrt. Genau wie bei seinem ersten als Profi vor fast 13 Jahren, als er mit 19 bei der Tour Down Under an den Start geht, trägt er dabei das Trikot von Madiots (Groupama-)FDJ-Team. Kaum vorstellbar, dass Pinot irgendwann den Drang verspüren wird, in irgendeiner Funktion in den Radsport zurückzukehren. Doch wenn, dann vermutlich in jener Mannschaft, in der auch sein Bruder Julien schon seit zehn Jahren einem Job als Sportlicher Leiter nachgeht.

Die größten Erfolge von Thibaut Pinot

  • Gesamtdritter der Tour de France (2014), dazu 10. bei seinem Debüt (2012)
  • Sieger der Lombardei-Rundfahrt (2018)
  • Gesamtvierter des Giro d’Italia (2017), dazu 5. bei seiner letzten Teilnahme (2023)
  • Gesamtsechster der Vuelta a Espana (2018), dazu 7. bei seiner Premiere (2013)
  • 3x Etappensieger bei der Tour de France (2012, 2015, 2019)
  • 2x Etappensieger bei der Vuelta a Espana (2018)
  • 1x Etappensieger beim Giro d’Italia (2017)
  • Gewinner des Bergtrikots beim Giro d’Italia (2023)
  • Gesamtsieger Tour of the Alps (2018)
  • insgesamt 33 Siege als Profi, 12 davon auf World-Tour-Niveau
  • Gesamtzweiter Criterium du Dauphine (2020)
  • Gesamtzweiter Tour du Romandie (2016), dazu Vierter (2015) und Fünfter (2023)
  • Gesamtdritter Tirreno-Adriatico (2017), dazu Vierter (2015) und Fünfter (2016, 2019)
  • Gesamtvierter Tour de Suisse (2013, 2015)
  • Gesamtfünfter Paris-Nizza (2020)

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