Sebastian Lindner
· 13.04.2024
Für ein paar Augenblicke lang fühlt sich das Leben von Nathan Van Hooydonck wie früher an. Er unterhält sich mit Dylan van Baarle und Christophe Laporte, zusammen machen sie Späße am Eingang des Teamhotels. Dann gehen sie zum Mannschaftsbus. Doch während van Baarle und Laporte in dem riesigen, gelben Gefährt verschwinden, verharrt Van Hooydonck davor.
Er geht zu einem kleineren Bus, einem schwarzen Van, gebrandet mit dem Logo von Visma | Lease a Bike. Dort begrüßt er eine Handvoll Menschen. Keine Profisportler, sondern Partner und Sponsoren des Teams sowie wohlhabende Fans. Er selbst setzt sich hinter das Steuer des Wagens, schließt die Tür und folgt seinen ehemaligen Mannschaftskollegen.
Nathan Van Hooydonck gehört zwar immer noch zum Unternehmen Visma | Lease a Bike, ein Teil des Profiteams ist er aber nicht mehr. Aufgrund einer Herzschwäche, die sich im September 2023 bei einem schweren Autounfall auf denkbar ungünstige Weise zeigte, musste der Belgier seine Karriere beenden. Im Alter von 27 Jahren. Jetzt gehört er, wie andere Ex-Profis, unter anderem Maarten Tjallingii oder Theo Eltink, zum Hospitality-Programm und begleitet Gäste des Teams bei den wichtigsten Rennen des Jahres.
Der 12. September markiert einen Wendepunkt im Leben Van Hooydoncks. “Der größte Unterschied zwischen damals und jetzt? Ich habe ein komplett durchstrukturiertes Leben, das auf einem Plan beruhte, verloren und stehe jetzt vor absolut nichts. Es ist verdammt schwer, das zu verkraften.” Der junge Belgier sagt das ruhig und bestimmt. Er wirkt gefestigt, lässt aber durchblicken, dass das nicht immer so ist und war. Es sei schwer, die Situation zu akzeptieren. “Aber es wird jeden Tag einfacher.”
Van Hooydonck ist nicht der einzige Profi, der in den letzten paar Jahren seine Karriere aufgrund von Herzproblemen beenden musste. Allein 2023 beendeten mit Heinrich Haussler (starke Abweichungen bei der jährlichen kardiologischen Untersuchung) und Sep Vanmarcke (Rhythmusstörungen und Narben am Herzgewebe) unfreiwillig ihre Laufbahnen. 2022 brach Sonny Colbrelli nach einem Zielsprint bei der Katalonien-Rundfahrt, den er als Zweiter beendete, zusammen. Herzstillstand. Später wurde ihm ein Defibrillator eingesetzt. Das geplante Comeback blieb für immer aus. Aktuell kämpft Peter Sagan, der seine Straßenkarriere zwar letzte Saison beendete, aber auf dem Mountainbike noch zu den Olympischen Spielen will, mit Herzrhythmusstörungen. Inzwischen wurde der Slowake zweimal am Herzen operiert, um Nervenenden zu veröden, die einen extrem hohen Puls hervorriefen. Anfang April stieg er wieder mit leichtem Training ein.
Meine rechte Herzkammer - oder meine linke? Ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht mehr genau - war zu groß. Und das sorgte für Ärger.
Van Hooydonck ist also nicht allein. Doch sind seine Probleme nochmal anders gelagert als bei den genannten Fällen. “Meine rechte Herzkammer - oder meine linke? Ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht mehr genau - war zu groß. Und das sorgte für Ärger”, sagt er, die Schwierigkeiten der Vergangenheit bewusst oder unbewusst verdrängend. Die Ärzte setzten ihm einen Defibrillator ein. “Ich sehe das als eine Art Lebensversicherung. Wenn irgendetwas nicht stimmt, übernimmt er das Kommando. Das macht das Leben in gewisser Hinsicht ein bisschen leichter.”
Eingeschränkt fühlt sich Van Hooydonck durch das technische Hilfsmittel nicht. “Ich kann nicht mehr trainieren wie früher. Aber das will ich auch gar nicht.” Seinem Leben müsse er nun einen neuen Sinn geben, sagt er kämpferisch. “Auf eine Art und Weise mag ich dieses neue Leben, wie auch immer es künftig aussehen wird, nicht. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss zusehen, dass ich ein glückliches Leben führen kann. Wenn ich aufstehe, die Vorhänge öffne, muss ich etwas aus meinem Leben machen.” Fast klingt es ein wenig wie ein Mantra, das er sich selbst immer wieder eintrichtern muss, um es zu glauben.
Auf dem Weg ins neue Leben hilft ihm seine Frau Alicia Cara. Sie saß mit im Auto, als ihr Ehemann im Auto hinter dem Lenkrad plötzlich das Bewusstsein verlor, einen Herzstillstand erlitt und in der Nähe von Antwerpen, nahe seines Heimatdorfes, mit mehreren Fahrzeugen kollidierte. Wie durch ein Wunder bleibt sie unverletzt. Doch das Wunder wird noch größer. Denn sie ist hochschwanger und bringt eine Woche später den gemeinsamen Sohn Alessio zur Welt. Ende 2022 musste das Paar bereits eine Fehlgeburt verkraften.
An den Unfall kann sich Van Hooydonck nicht mehr erinnern. “Für mich ist er nie passiert.” Deswegen ist Autofahren, was jetzt einen beträchtlichen Teil seiner Aufgabe ausmacht, für ihn weiterhin kein Problem. Seine Frau hingegen habe ab und zu noch zu kämpfen, wenn sie sich auf den Beifahrersitz setzt. “Aber das ist normal, weil sie alles miterlebt hat”, sagt er.
So normal wie für ihn, wenn er mit den alten Kollegen zusammen ist und ihn Wehmut überkommt. Doch gleichsam ist der Umgang mit mit ihnen auch heilsam. Zumindest, wenn er dosiert ist. “Ich hätte nie gedacht, dass ich den Radsport auf meinem Höhepunkt verlassen muss”, erklärt Van Hooydonck. Doch wahrscheinlich war der zum Zeitpunkt des Unfalls 27-Jährige noch gar nicht auf dem Maximum. Ein Rennen konnte er in seiner Profikarriere nicht gewinnen, doch war in seiner letzten Saison nah dran. Beim Kopfsteinklassiker Kuurne-Brüssel-Kuurne schlug ihn nur sein Teamkollege Tiesj Benoot. Bei der Flandern-Rundfahrt und E3-Preis landete er auf Rang elf.
Bei der Tour de France avancierte er zum Edelhelfer von Jonas Vingegaard. Nach dem Unfall würdigte ihn der dänische Toursieger als “lieben Freund und Bodyguard. Ich werde es vermissen, dich im Feld an meiner Seite zu haben.” Vingegaard war da gerade bei der Spanien-Rundfahrt unterwegs. Die Mannschaft dominierte die Vuelta mit Sepp Kuss als Sieger sowie Vingegaard und Primoz Roglic auf den weiteren Podiumsplätzen nach Belieben und präsentierte bei der Siegerehrung ein Trikot, mit dem sie ihrem Teamkollegen die Ehre erwiesen.
Die ganze Radsportwelt nahm Anteil am Schicksalsschlag für Van Hooydonck. Auch die Profis, die Ähnliches durchmachten wie der lange Belgier. Colbrelli teilte über Instgram ein emotionales Posting. “Ich weiß, was dir durch den Kopf geht. Ich weiß, was du fühlst und ich kenne den Schmerz. Ich kenne deine einzige Frage: warum ich? Ich weiß, wie es sich anfühlt, im Krankenhaus zu liegen und zu realisieren, dass deine Karriere zu 90 Prozent vorbei ist, aber du es nicht wahrhaben willst. Aber in diesen Momenten müssen wir stark sein und uns daran erinnern, dass wir leben”, schrieb der Italiener, der seinerzeit als amtierender Europameister und Paris-Roubaix-Sieger abtreten musste.
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Mit warmen Worten verabschiedete sich auch das Team von seinem Fahrer. Doch nur vom Profi Nathan Van Hooydonck. Denn offiziell stand der 2021 von BMC-Nachfolger CCC zur Mannschaft gestoßene Allrounder, der seinen Vertrag 2022 um zwei Jahre verlängerte, noch unter Vertrag. Kurzerhand wurde ein neuer Job im Kosmos von Visma | Lease a Bike für ihn gefunden.
“Das Team hat mir so viel gegeben”, sagt er, dankbar über die Arbeit im Hospitality-Programm des Teams. “Ich kann ab und zu mit den alten Teamkollegen - sie sind ja immer noch meine Freunde - zusammen sein, das bedeutet mir wirklich viel.” Vor allem bleibt so aber auch noch ein bisschen die Verbindung zum Radsport bestehen. “Mit den Gästen des Teams bei den Rennen zu sein, hilft mir auch, mit meiner Situation umzugehen.”
Als Ex-Profi kennt Van Hooydonck die Rennen aus eigener Erfahrung. Er kann den VIPs wertvolle Informationen aus erster Hand liefern, während er seinen Van vor oder hinter dem Peloton zügig und gekonnt über die Strecke steuert. Er kann von Renntaktiken erzählen, kennt die Schlüsselstellen, die Fahrer. Und er weiß, wie er die Kollegen auf dem Rad vom Streckenrand richtig mit einer Flasche Wasser oder einem Ersatzrad versorgen kann, schließlich hat er diese Hilfe oft genug selbst in Anspruch genommen.
Für den Moment gefällt ihm sein Rolle. “So bin ich noch drin im Kreis, aber auch nicht zu sehr. Und wenn ich nicht mehr will, kann ich jederzeit wegbleiben.” Denn die Gefahr, dass ihm doch alles zu viel wird - sie besteht. Mehr als hier und da ein paar Tage im Jahr zu den wichtigsten Rennen mit den Gästen des Teams herumziehen, soll es aktuell nicht sein. “Auf mehr habe ich gerade ehrlich gesagt keine Lust.”
Die mangelnde Muße dürfte dabei jedoch kaum auf klassisches Faulpelztum zurückzuführen, sondern eher als Resultat des schweren Umgestaltungsprozesses seines Lebens zu verstehen sein. Manch einer würde vielleicht von Burnout sprechen, ein anderer von Anzeichen für eine Depression. Van Hooydonck nimmt so etwas nicht in den Mund, sagt lieber: “Sobald ich mich besser fühler, werde ich auch wieder mehr machen.”
Höchstwahrscheinlich aber keinen Vollzeitjob in der Radsportbranche. Sportdirektor oder Trainer? “Eher nicht.” Leicht trotzig fügt er an: “Ich hatte mir gerade eine Karriere aufgebaut, einen Namen gemacht. Aber das Leben ist mehr als nur Radsport. Mein Interessen gehen darüber hinaus. Die will ich erstmal richtig erforschen und schauen, wo sie mich hinführen. Wenn ich mich jetzt nochmal dem Radsport verschreibe, hänge ich da erstmal für mindestens zehn Jahre oder so fest.”
Gerade passt das nicht so richtig in seine Lebensplanung. “Freunde von mir kommen jetzt von der Uni oder beenden ihre Ausbildung, um Anwalt zu werden. Ich dagegen habe schon meine gesamte Karriere beendet.” Was bleibt? Der Sprung ins echte Leben. “Radsport ist zwar ein Teil des Lebens. Aber Radprofi sein, ist nicht das echte Leben. Es ist wie ein Märchen. Es ist dein Hobby. Das Hobby, für das du bezahlt wirst.”
Radsport ist zwar ein Teil des Lebens. Aber Radprofi sein, ist nicht das echte Leben. Es ist wie ein Märchen. Es ist dein Hobby. Das Hobby, für das du bezahlt wirst.
Doch vom Hobby hat Nathan Van Hooydonck erstmal genug. “Ich will herausfinden, was zu mir passt, wo ich performen kann und mir eine zweite Karriere nach der ersten aufbauen kann.” In irgendeiner Form soll das Rad aber doch immer eine Rolle spielen. Im neuen Leben. “In dem zu Hause eine wundervolle Frau und ein Kind auf mich warten, die mir sehr viel Liebe und Freude schenken. Ich werde versuchen, egal was ich tue, so gut zu sein, wie ich kann. Und das wird mich glücklich machen.”