Sebastian Lindner
· 13.11.2023
Die blonden Strähnen sind Anfang und Mitte der 2000er total der Renner. Besonders dann, wenn sie zur Igelfrisur nach oben gegelt sind. Auch Heinrich Haussler folgt diesem Trend. Doch unter dem Helm war nach einem Rennen davon meist nicht mehr viel zu erkennen.
Auch am 12. Oktober 2002 war das so. Haussler ist 18 Jahre alt und steht am Start des Junioren-Weltmeisterschaftsrennens in Zolder. Um in Belgien für den Bund Deutscher Radfahrer am Start stehen zu können, musste der in Australien geborene Haussler vier Jahre zuvor seine Heimat verlassen. Der Sohn einer Australierin und eines Deutschen tat das, um bessere Chancen zum Erreichen seines Ziels, Radprofi zu werden, zu haben.
Das Rennen bleibt Haussler in Erinnerung. Einerseits stürzt er, einen möglichen Sieg vor Augen, wenige Meter vor dem Ziel im Massensprint, rappelt sich aber schnell wieder auf und wird als 14. noch bester Deutscher. Es zeigt, dass er nicht nur schnelle Beine, sondern auch eine gewisse Härte mitbringt - gute Voraussetzungen für einen Profi. Doch es zählt auch zu den wenigen, die Haussler später im Weg stehen, um sich einen anderen Traum zu erfüllen.
Zunächst aber wird ein anderer wahr. Nach einem halben Jahr als Stagiare bei T-Mobile unterschreibt Haussler für 2005 einen Profivertrag beim zweiten deutschen Team dieser Zeit, Gerolsteiner. Im September feiert er seinen ersten Sieg - direkt bei seiner ersten Grand Tour. Im Sprint einer vierköpfigen Ausreißergruppe gewinnt Haussler die 19. Etappe der Vuelta und ist damit der einzige Deutsche, der in diesem Jahr bei einer Grand Tour erfolgreich ist.
Haussler ist da 21 Jahre alt, wird fortan an diesem Erfolg gemessen und als Hoffnungsträger gewertet, denn viele Gründe, positiv in die Zukunft zu blicken, hat der deutsche Radsport dieser Tage nicht. Die großen Stars sind gealtert oder versinken im Dopingsumpf, Tony Martin und Andre Greipel haben zwar ähnliche Geburtsjahre, zünden aber wie Gerald Ciolek erst später.
Also muss Haussler als der potenzielle Sprint-Nachfolger von Erik Zabel herhalten. Doch eigentlich ist er viel lieber einer wie Andreas Klier oder Steffen Wesemann: ein Klassiker-Spezialist. 2005 fährt Haussler zunächst die Flandern-Rundfahrt und als Nachrücker auch Paris-Roubaix. Mangelnde Erfahrung und Streckenkenntnis sowie ein Sturz verhindern ein besseres Ergebnis als Platz 25, doch die Liebe zum Pflaster ist entflammt, sagt er später dem Cycling Magazine.
Was hingegen in den folgenden Jahren etwas erkaltet, ist das Verhältnis zum BDR, auch seine Reputation leidet. Zwar gewinnt er bis 2008 jedes Jahr mindestens ein Rennen, doch die haben allesamt nicht die Bedeutung eine Grand-Tour-Etappe. Zur Nationalmannschaft wird er nicht eingeladen. Und als Gerolsteiner Ende 2008 aufgelöst wird, findet Haussler nicht den von ihm bevorzugten Weg zum letzten verbliebenen deutschen Profiteam, Milram. Dort besteht kein Interesse an seiner Person, stattdessen geht Haussler zum Cervelo Test Team in die Schweiz.
Und das ist für alle Beteiligten ein Gewinn. Denn 2009 fährt Haussler die Saison seines Lebens. Im Magazin Procycling sagt er später über dieses Jahr: “Für mich persönlich bedeutete dies die Wende in meiner Laufbahn. Davor habe ich die Feste gefeiert, wie sie fallen. Ich war eine regelrechte Stimmungskanone, ein Party Animal. Radrennen war eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, mehr nicht. Aber 2009 lernte ich, was es heißt, Rennfahrer zu sein. Durch Burschen wie Roger Hammond und Andreas Klier (Hausslers Teamkollegen, d. Red.) – der klügste Rennfahrer des Pelotons – an meiner Seite habe ich gesehen, was man erreichen kann, wenn man seriös an sein Handwerk herangeht.”
Heinrich Haussler beginnt die Saison in Katar, fährt mehrmals aufs Podest und wird Zweiter der Gesamtwertung. Eine Rundfahrt später holt er zwei Etappensiege an der Algarve. Dann beginnt die Klassikersaison. Zum Start gibt es Platz 8 beim Omloop Het Nieuwsblad und den 12. Rang bei Kuurne-Brüssel-Kuurne. Beim Abstecher zu Paris-Nizza springt ein weiterer Tagessieg heraus.
Eine Woche später steht das erste Monument des Jahres an. Haussler schafft es gemeinsam mit einer großen Gruppe über Poggio und Cipressa auf die Via Roma. Dort soll er für seinen Kapitän Thor Hushovd den Sprint anfahren. Doch er ist zu schnell, reißt eine Lücke, der sein Chef nicht folgen kann. Das schafft nur Mark Cavendish. Also muss Haussler durchziehen, doch nach Auswertung des Fotofinishs fehlen ihm sieben Millimeter zum Sieg bei Mailand-Sanremo.
Anderthalb Monate später ist es nicht ganz so knapp. Haussler fährt auch beim nächsten Monument auf Rang 2, dieses Mal bei der Flandern-Rundfahrt. Er gewinnt den Sprint der großen Verfolgergruppe, aus der zuvor Sieger Stijn Devolder ausgerissen war. Dabei wird ähnlich wie bei der “Primavera” deutlich: Selbst, wenn Haussler die besten Beine im Feld hat, gewinnt er nicht. Mal fährt er zu offensiv und verschleudert seine Kräfte, mal nutzt er die Hilfe der Teamkollegen nicht gut genug, um sich zu verstecken. Dieser Kritik muss sich Haussler auch später noch stellen, er nimmt sie aber auch an und arbeitet an sich.
Im Juli klappt es dann mit dem nächsten großen Sieg. Mit mehr als vier Minuten Vorsprung gewinnt Haussler die 13. Etappe der Tour de France. Es geht durch die Vogesen, über den steilen und unrhythmischen Col du Platzerwasel. Im strömenden Regen jubelt Haussler ungläubig auf der Ziellinie in Colmar. Jetzt will der 25-Jährige richtig durchstarten. Allerdings bleibt es der größte Erfolg seiner Karriere.
Doch bevor Haussler weitere Dämpfer in seiner Karriere kassiert, verteilt er erstmal welche. Nach der Supersaison hatte der BDR Interesse darin bekundet, mit Haussler als Anführer zur Weltmeisterschaft zu fahren. Doch der lehnt ab. Nicht nur für 2009, sondern für immer. Stattdessen will er im kommenden Jahr bei der WM in Australien für die Gastgeber - sein eigentliches Heimatland - an den Start gehen. “Ich mag Deutschland sehr, aber je älter ich werde, desto mehr fühle ich mich als Australier”, sagt er gegenüber mehreren Medien.
Der BDR reagiert pikiert, veröffentlicht einen Vierzeiler zum Nationenwechsel des Deutsch-Australiers. Doch der wird von der UCI mehr oder weniger gezwungen, nur noch Australier zu sein. Zwar ist Haussler im Elite-Bereich noch nie für Deutschland gestartet, wohl aber in der U23 und bei den Junioren. Also gibt er die deutsche Staatsbürgerschaft im Juli 2010 schweren Herzens ab.
Die Heim-WM bestreitet er trotzdem nicht. Langwierige Knieprobleme, die ihn später weiter begleiten werden, verhindern seinen ersten Einsatz im australischen Nationaltrikot. Auch ansonsten läuft die Saison nicht wie erhofft. Mit einem zweiten Platz beim Omloop Het Niewsblad beginnt er das Jahr zwar noch gut, doch ansonsten muss Haussler den Klassikerfrühling fast komplett auslassen.
Frust macht sich breit, Haussler fährt betrunken Auto und rammt dabei ein anderes Fahrzeug. Später folgt noch ein Sieg bei der Tour de Suisse, doch der rettet die Saison nicht. 2011 fusioniert Cervelo mit Garmin, Haussler bleibt an Bord. Die Vorbereitung auf den Frühling läuft mit zwei Siegen in Katar und mehren Podestplätzen bei Paris-Nizza gut, doch bei den Klassikern folgen keine Ergebnisse. Zur WM trägt Haussler immerhin erstmals das australische Trikot.
Aber auch 2012 geht es nicht bergauf. Im Gegenteil. Es ist sein erstes Jahr als Profi, dass er ohne Sieg beendet. Einen großen Anteil daran hat der neue Stern am Radsporthimmel, Peter Sagan. Bei der Tour of California verweist er Haussler an vier Tagen am Stück auf Rang 2. Nach dem Jahr wechselt der mittlerweile 28-Jährige zum Team IAM.
Die neuen Impulse berhelfen Haussler zu einem leichten Aufwärtstrend. Bei Mailand-San Remo und Paris-Roubaix verpasst er die Top 10 um Haaresbreite, bei der Flandern-Rundfahrt wird er Sechster, bei Gent-Wevelgem Vierter. Auf der letzten Etappe der Bayern-Rundfahrt wird er wieder zum Siegfahrer.
Das gelingt ihm auch ein Jahr später, doch der Sieg 2014 in Bayern ist sein letzter auf internationalem Parkett. Bei der Tour wird er nochmal Zweiter, ist zwar schneller als Sagan und Greipel, aber nicht als Alexander Kristoff. Zu Jahresbeginn 2015 stellt Haussler nochmal seine Qualitäten als Sprinter unter Beweis, schlägt den aufstrebenden Caleb Ewan - und wird Australischer Meister.
2017 wechselt Heinrich Haussler zum neuen Team Bahrain-Merida. Baut man dort erst noch auf den Siegfahrer Heinrich Haussler, macht ihm zunächst einmal mehr der Körper einen Strich durch die Rechnung. Lediglich zwölf Renntage stehen für ihn zu Buche. Fortan wird Haussler eher für seine Erfahrung geschätzt, im jungen Team schlüpft er vorwiegend in die Rolle des Roadcaptains.
Von den blonden Strähnen im Haar ist, abgesehen vom nicht immer wohlwollend gemeinten Spitznamen Barbie, längst nichts mehr geblieben. Haussler bleibt für sechs volle Jahre im Team - länger als in irgendeiner anderen Mannschaft und ohne einen einzigen Sieg. Auch das siebente Jahr nimmt er, mittlerweile 38 Jahre alt, noch in Angriff, obwohl er bereits weiß, dass er nicht mehr vollkommen gesund ist.
Im Dezember 2022 bekommt er bei Routineuntersuchungen Veränderungen am Herzen diagnostiziert. Weitere Arzttermine bestätigten, dass eine Fortsetzung seiner Karriere ein extremes Risiko bedeutet hätten. Zudem war Hausslers Teamkollege Sonny Colbrelli ziemlich genau ein Jahr zuvor nach Herzrhythmusstörungen, die einen Infarkt auslösten, im Ziel eines Rennens bewusstlos geworden und zusammengebrochen, woraufhin er einen Defibrilator implantiert bekam. 2021 hatte Colbrelli noch mit Hausslers Unterstützung Paris-Roubaix gewonnen. Auch für Haussler war es das letzte Roubaix seiner Karriere gewesen.
Dass er sein Karriereende 2023 genau am Tag vor dem Pflasterklassiker, seinem Lieblingsrennen, beendete, ist kein Zufall. Dass sein letztes Rennen als Profi die Weltmeisterschaften 2022 im australischen Wollongong waren und damit ein zwölf Jahre zuvor in unendliche Ferne gerückter Traum in Erfüllung ging, Schicksal.