Kristian Bauer
· 14.11.2022
Der R.C. Die Schwalben ist Münchens großer Traditionsverein - bei den European Championships haben seine Mitglieder die Radrennen aktiv mitgestaltet.
Kann man München als Radsportstadt bezeichnen? Blickt man auf die Zahl der Aktiven und Vereine, lautet die Antwort eindeutig “ja”. Schaut man hingegen auf den Rennsport, fällt die Antwort anders aus. Fast alle Lizenzrennen sind verschwunden, der Plan eines Jedermann-Rennens ist mangels Unterstützung in Stadt und Umland gescheitert, und auch der Profi-Radsport war schon lange nicht mehr zu Gast in der Landeshauptstadt. Die European Championships waren daher eine große Chance: Die aktive Rennradszene und der Profi-Radsport verbanden sich für kurze Zeit - auch dank der Hilfe des R.C. Die Schwalben 1894 München e.V.
Bildlich vor Augen geführt wird die kurzzeitige Wiederauferstehung als Radsportstadt auf dem Messegelände in München-Riem, wo in nur zehn Tagen eine nackte Halle in ein Velodrom verwandelt wurde. Wenige Tage vor dem Start der European Championships stehen acht Radsportler im Innenraum der Messehalle C 1 und schauen ehrfürchtig auf die blitzsaubere, helle Holzfläche der Radrennbahn, die nach den Titelkämpfen wieder abgebaut wird. Jetzt aber steht die erste Testfahrt an. Robert Klimsa, Vorstand der Schwalben, seine Tochter Paulina, sein Sohn Luis und weitere Mitglieder sowie zwei Fahrer befreundeter Vereine überprüfen noch einmal den Reifendruck ihrer Bahnräder und zupfen die Trikots zurecht.
Kurz bevor die Kommissäre des Radsportverbands UCI die Bahn abnehmen, drehen die Testfahrer ihre Runden. Zurück kommen sie alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Die Wettkampfstätte der Bahnrad-EM selbst zu eröffnen, fällt definitiv unter die Rubrik “unbezahlbare Träume”. “Man merkt den Staub noch, und nach den Kurven rumpelt es etwas”, sagt Robert Klimsa. Das mag daran liegen, dass die Bahn mit 200 Metern rund 50 Meter kürzer als üblich ist und besonders schnell. Aber echte Mängel hat die Testfahrt nicht aufgedeckt - die Rennbahn ist bereit für großen Sport!
Am 12. August erlebt die Bahn bei den European Championships ihr erstes High-Speed-Finale. Lisa Brennauer, Franziska Brauße, Mieke Kröger und Lisa Klein müssen im Finale der Mannschaftsverfolgung gegen Italien antreten. Unter den vielen Volunteers sind auch Helfer der Schwalben - sie bedienen die Startmaschinen, haben Startnummern verteilt und überwachen den Innenraum. Die Fans verfolgen gespannt, wie Deutschland zunächst mehr als eine Sekunde zurückliegt und dann langsam aufholt. “Die Zuschauer sind echt aus dem Häuschen, auch wenn es nur 1500 Plätze in der Messehalle gibt”, kommentiert Florian Naß das Rennen in der ARD. “Italien klar vorne”, heißt es nach der Hälfte, aber als Mieke Kröger nach 2500 Metern an der Spitze fährt, wendet sich das Blatt. Mit wenigen Hundertstel Vorsprung sichert sich der deutsche Vierer schließlich den Europameistertitel - auch die Volunteers klatschen.
Die Bahn hat die Bewährungsprobe bestanden, Anteil am Erfolg hat auch Paulina Klimsa. Die 22-jährige Schwalbe-Fahrerin arbeitet seit zwei Jahren als Werkstudentin Sports and Competition für die European Championships. Die mehrmalige Deutsche Meisterin auf der Bahn brachte die Sportlerperspektive in die Planung ein und war selbst überrascht, dass viele ihrer Ideen aufgegriffen wurden: “Es war cool, dass ich als kleine Werkstudentin so viel mitentscheiden durfte.” Aus eigener Erfahrung weiß sie beispielsweise, dass als Zugang zum Innenraum ein Tunnel angenehmer ist als eine Brücke über die Bahn, die Schatten wirft. Jetzt ist sie begeistert, dass die Bahn “wie auf einem Schuhkarton” erhöht gebaut wurde und einen Tunnel in den Innenraum ermöglicht. “Etwas glasige Augen hatte ich schon, als die Bahn aufgebaut war und ich sie das erste Mal gesehen habe.”
Jetzt kommen noch feuchte Finger vom Daumendrücken dazu: Der Teamsprint bei den European Championships mit Emma Hinze, Pauline Grabosch und Lea Sophie Friedrich steht an. Deutschland wird seiner Favoritenrolle gerecht - Friedrich rettet einen Vorsprung von knapp zwei Hundertstel ins Ziel und sichert damit Gold. Auf dem Weg zur Siegerehrung umarmen sich Paulina Klimsa und Lea Sophie Friedrich. Sie sind lange zusammen im Bahnkader gefahren und immer noch beste Freundinnen. “Für mich ist das etwas Besonderes”, sagt Paulina. Die Halle kocht und beklatscht die zweite Goldmedaille des Tages für Deutschland. Sie ist besonders erfreulich, denn die drei jungen Fahrerinnen zeigen damit, dass neue, hochkarätige Talente nachgewachsen sind.
Ohne Rennen kein Nachwuchs, und ohne Nachwuchs keine Rennen, könnte man die gegenseitige Abhängigkeit auf den Punkt bringen. Das weiß auch Schwalbe-Vorstand Robert Klimsa, dem die Rennsporttradition seines Vereins besonders wichtig ist. Seit 1981 ist er Vereinsmitglied und hat die Zeiten erlebt, in denen es noch viele Radrennen in und um München gab. Wehmütig erinnert er sich daran, als der Verein noch einen Schlüssel zur Bahn im Olympia-Radstadion hatte. Heute müssen die Schwalben zum Bahntraining nach Augsburg fahren, und auch die Wege zu Lizenzrennen auf der Straße sind länger geworden.
Dass die Vereinsarbeit trotzdem funktioniert, zeigt die lange Liste der aktiven Schwalbe-Nachwuchsfahrer und Amateure. Mit dem Munich Super Cross hat der Verein sogar ein neues Crossrennen etabliert. Seit 2014 gibt es das Rennen, und es erfüllt mustergültig gleich drei Funktionen: Nachwuchssportlern mit Lizenz bietet es einen Leistungsvergleich, Hobbysportler werden auf den Verein aufmerksam, und internationaler Spitzensport kommt nach München. Das Super-Cross-Organisationsteam ist bei den European Championships an vielen Stellen eingebunden.
Auch Robert Klimsa steht als Volunteer im Innenraum, während auf der Bahn das nächste Rennen ansteht, die 4000-Meter-Einerverfolgung der Männer. An diesem Rennen hat Klimsa besondere Freude: Erst 20 Jahre alt ist der Deutsche Nicolas Heinrich, und schon der Einzug ins Finale ein großer Erfolg. Jetzt kämpft der junge Zwickauer gegen den Italiener Davide Plebani sogar um den Titel und gewinnt am Ende mit drei Sekunden Vorsprung.
Die Zuschauer feiern den frischgebackenen Europameister frenetisch. Auch Robert Klimsa ist begeistert und fühlt sich an die lange Reihe erfolgreicher Nachwuchssportler erinnert, die bei den Schwalben das Radsport-Einmaleins gelernt haben - zu den bekanntesten zählt der ehemalige Telekom-Profi Andreas Klier, heute Sportlicher Leiter beim World-Tour-Team EF Education-Easypost. Während der Coronazeit fanden zuletzt zwar weniger Rennen statt, es kamen aber mehr junge Leute zum Radsport, besonders zum Mountainbike. 185 Mitglieder zählt der Verein derzeit, gegenüber rund 100 in den vergangenen Jahrzehnten. Zweimal die Woche trainiert der Nachwuchs auf der Straße, dazu regelmäßig auf der Radrennbahn in Augsburg und natürlich auch im Gelände mit Crosser oder Mountainbike.
Auch Paulina Klimsa kennt die Nachwuchsstationen gut: Von der Schüler-, Jugend-, Junioren- bis zur U23-Klasse hat sie Rennerfolge auf der Straße, Bahn und im Gelände vorzuweisen. Grundlage dafür war die Nachwuchsarbeit der Schwalben, die betreutes Training ebenso umfasst wie Fahrten zu den Rennen. 2018 ist sie als U23-Fahrerin bei der Bahn-WM und der Bahn-EM gestartet - damals noch an der Seite von Lea Sophie Friedrich und Lea Lin Teutenberg. Sportlich trennten sich die Wege dann, Paulina entschied sich fürs Studium statt für den Sport. Dass sie in anderer Rolle jetzt trotzdem Teil der Heim-EM ist, freut sie daher besonders.
Das könnte man zugespitzt über Paulinas EM-Job sagen. Die 22-Jährige ist für 20 bis 25 Volunteers verantwortlich - auch Vater Robert ist ihr unterstellt. Morgens begrüßt sie die freiwilligen Helferinnen und Helfer, erklärt das Tages-Programm, verteilt Aufgaben und versucht bei Rückfragen Lösungen zu finden. So wie jetzt, als zwei Volunteers nach Müllsäcken fragen, um im Innenraum der Bahn Ordnung zu schaffen. “Ich habe mich am Anfang schwergetan, den Leuten Aufträge zu geben”, gesteht sie. Das Ehrenamt ist nicht nur das Rückgrat der Vereinsarbeit, sondern auch der European Championships. Sieben Vereinsmitglieder helfen an diesem Nachmittag, auch bei den anderen Radrennen sind Schwalben als Helfer dabei.
So wie Roman Stoffel, der die Zeitfahren und Straßenrennen der Männer und Frauen bei den European Championships unterstützt. Bei den Schwalben ist er als Sportlicher Leiter aktiv - bei der EM fährt er das Zeitnahme-Motorrad, Vereinskollege Dominik Böke auf dem Sozius hält den Rennfahrern die schwarze Schiefertafel entgegen, auf der mit Kreide die Zeitabstände notiert sind. Kaum ein Meter der Strecke, an dem keine Zuschauer stehen: “Ich hatte den Eindruck, in jedem Dorf sind alle, die da wohnen, an der Straße gestanden und haben geklatscht”, beschreibt Roman Stoffel seine Eindrücke.
Auf den gesperrten zwölf Kilometern durch die Münchner Innenstadt wird das Menschenspalier immer dichter, die Stimmung immer lauter. Während der Österreicher Lukas Pöstlberger und der Schweizer Silvan Dillier dem Ziel entgegenfliegen, pendelt Stoffel mit dem Motorrad zwischen Hauptfeld und Ausreißern. “Ich kenne Radrennen sonst nur aus Fahrerperspektive. Das war für mich ein ganz besonderes Erlebnis”, meint Stoffel. “Das Schöne war: Die Zuschauer haben vom ersten Begleitfahrzeug bis zum abgehängten Fahrer jedem zugejubelt.”
Das Fazit zu den European Championships fällt einhellig positiv aus - ganz besonders im Radsport. Aus sportlicher Sicht war vor allem die Bahn-EM ein Erfolg, Deutschland mit acht Gold-, vier Silber- und einer Bronzemedaille der erfolgreichste Verband. Auf der Straße fehlten zwar die Siege, aber der Zuschauerzuspruch war eine Sensation: Rund 200000 Menschen standen beim Straßenrennen der Männer und 150000 bei den Frauen entlang der Strecke. “Eine bessere Werbung für den Radsport gibt es nicht”, bekräftigt Roman Stoffel.
Für die Schwalben war die EM ein Heimspiel, bei dem der Radsport in München endlich wieder großen Zuspruch erfahren hat: “Die Begeisterung hat alle Erwartungen übertroffen. Das hat gezeigt, dass München wirklich eine Radsportstadt ist und dass die Stadt bereit ist für mehr”, freut sich Stoffel. Er würde sich beispielsweise ein neues Radrennen und mehr Fördermittel wünschen. Auch Schwalbe-Vorstand Robert Klimsa stimmt zu, denn er weiß, wie wichtig Veranstaltungen für den Radsportnachwuchs sind. Er erhofft sich von den European Championships einen Schub für alle Münchener Radvereine. Und Tochter Paulina hat durch ihre Mitarbeit bei der EM ganz neue berufliche Perspektiven entdeckt: Nicht nur die Fahrt auf der Bahn, sondern auch die Mitarbeit bei der Organisation macht richtig Spaß.