Andreas Kublik
· 24.04.2023
Früh im Jahr trifft sich die Radsportelite regelmäßig in einem abgelegenen Hotel am Fuße des Vulkans Teide, um sich noch fitter für die großen Herausforderungen bei Tour, Giro und Frühjahrsklassikern zu machen. TOUR hat das Team Bora-Hansgrohe nach Teneriffa begleitet.
Der Berg ruft. Und sie kommen. Alle. Das Who’s who des Radsports macht seine Aufwartung – lässt sich am Fuße des Vulkans Teide nieder. Jedes Frühjahr wieder. Seit bald 20 Jahren ist der Parador de Canadas del Teide ein zunehmend beliebter werdender Treffpunkt der Weltelite unter den Straßenrad-Profis.
Besonders im Monat Februar geben sich die Radprofis der großen Rennställe die Klinken der Türen im Dreisternehotel regelrecht in die Hand – aus dem Fenster sieht man den 3715 Meter hohen Pico del Teide aufragen, den höchsten Punkt der Kanaren-Insel Teneriffa und Spaniens.
Bradley Wiggins hat einmal erzählt, ihm habe das Training hier an den gewaltigen Berghängen die Gewissheit gegeben, dass er doch noch im fortgeschrittenen Alter als erster Brite die Tour de France gewinnen könne. Seine Teamkollegen Christopher Froome und Geraint Thomas machten sich hier für ihre Triumphfahrten ins Gelbe Trikot ebenso fit wie zuletzt Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard.
Kein Wunder, dass angesichts dieser Erfolgsgeschichte in der dritten Februarwoche 2023 kaum noch eines der Zimmer zu kriegen ist. “Man muss mindestens ein Jahr vorher buchen”, schätzt Rolf Aldag, der Sportchef der besten deutschen Mannschaft Bora-Hansgrohe.
Die deutsche Mannschaft hat sich erstmals für diesen 16-tägigen Trainingsaufenthalt im höchstgelegenen Hotel Teneriffas einquartiert. Das Ziel ist klar: hier oben in dünner, sauerstoffarmer Luft leistungsfähiger und damit schneller zu werden. “Man will primär eine Vermehrung der roten Blutkörperchen erreichen”, erläutert Dan Lorang, der Cheftrainer des Rennstalls. Bisher waren seine Sportler im ersten Höhentrainingslager der Saison meist in der Sierra Nevada, dem Hochgebirge im Süden des spanischen Festlands.
Höhentraining gilt als Pflichtprogramm. “Das ist inzwischen Standard im Profiradsport. Man kommt nicht mehr dran vorbei, wenn man konkurrenzfähig sein will”, weiß Maximilian Schachmann. Seit gut anderthalb Jahrzehnten verstärkt sich der Trend – immer früher im Jahr, immer höher bereiten sich die Radsportler auf Frühjahrsklassiker, Giro und Tour vor. “Man muss auf die Vergangenheit des Radsports gucken. Im Radsport hat man die Vermehrung der roten Blutkörperchen auch teilweise mit Doping gemacht – auch deshalb war Höhentraining nicht nötig. Es ist aber das einzig legale Mittel, um diesen Effekt zu erreichen”, betont Trainingsexperte Lorang. Italienern ist beispielsweise auch die Nutzung von Höhenzelten verboten.
Im Parador auf Teneriffa stehen die Hotelbetten auf rund 2150 Meter Höhe – abseits des Trainings halten sich die Radprofis also mindestens 18 bis 19 Stunden täglich in dünner Höhenluft auf.
Und das hat Folgen, die ausdrücklich gewünscht sind (siehe unten). Nicht bei allen Sportlern funktioniert Höhentraining. Die Wissenschaft unterscheidet Responder von Non-Respondern – also Menschen, deren Körper positiv auf den besonderen Trainingsreiz reagiert von solchen, bei denen die Methode keinen Sinn ergibt, weil sich keine messbare Verbesserung zeigt – oder gar ein negativer Effekt. Nicht alle kommen mit Höhenluft gut klar.
Die ersten Eindrücke vom neuen Trainingsrevier überzeugen. “Was uns allen gefällt, ist das gute Wetter“, betont Schachmann nach einer Woche im Parador. Dabei findet er mit den Trainingskollegen Lennard Kämna, Patrick Konrad, Bob Jungels, Matteo Fabbro und Aleksandr Vlasov am schattigen Straßenrand noch Schneereste, ein paar Tage zuvor kam man mit dem Auto gar nicht den Berg hinauf oder hinunter, weil sich im eisigen Wind eine unpassierbare Schicht aus Schneematsch und Glatteis auf den Straßen gebildet hatte, kaum ein Mietwagen hier hat Winterreifen montiert.
Aber der Winter dauert hier Mitte Februar nur ein paar Stunden – ehe ihn die Sonne vertreibt. Klagen lässt Schachmann nicht gelten. “In der Sierra Nevada hat man 25 Zentimeter Schneefall tagsüber – hier haben wir echt warmes Wetter für den Winter und fahren unten kurz-kurz“, betont der Sieger von Paris-Nizza. Der Arbeitsplatz passt.
“Die Landschaft ist schon irre! Sie ist besonders mit diesen Lavafeldern – weil es aussieht, als wäre es gestern passiert”, findet der 29-jährige Bora-Profi, der zum ersten Mal in seinem Leben auf der größten Kanaren-Insel gelandet ist. Die Lava sieht so aus, als sei sie vor Kurzem mitten im Fluss zu Stein erstarrt.
Tatsächlich ist seit mehr als 100 Jahren kein Vulkan auf Teneriffa mehr aktiv gewesen. “Hier ist viel Grün, schöne Vegetation – das macht was her fürs Auge”, sagt Schachmann, der nach einer langen und schwierigen Phase mit einem Erschöpfungssyndrom und einem halben Jahr Rennpause nun im kanarischen Frühling wieder aufblüht (siehe Interview).
“Man kann hier auch auf dem Hochplateau fahren und noch mehr Zeit in der Höhe verbringen, wenn man das möchte – das Terrain ist zudem insgesamt extrem anspruchsvoll”, erläutert Schachmann die besonderen Vorzüge des Trainingsreviers rund um den mächtigen Vulkan. Vom Strand bis zum höchsten mit dem Rennrad anfahrbaren Punkt sind es hier nicht weniger als 2350 Meter bergauf am Stück – das kann kein Alpenpass bieten.
Mehr als 30 Kilometer kann man innerhalb der Kraterlandschaft von einem ans andere Ende pedalieren – durchgehend oberhalb der 2000-Meter-Marke. Nirgendwo sonst sind die klimatischen Voraussetzungen in und um Europa so früh im Jahr so gut. Livigno, das Kühtai, der San-Pellegrino-Pass und Sankt Moritz in den Alpen sind beliebte Ziele fürs Höhentraining, Andorra oder Font-Romeu in den Pyrenäen oder die Skistation im südspanischen Gebirge Sierra Nevada sind um diese Jahreszeit eher etwas für Ski- als für Radsportler.
“Go!”, ruft Sylwester Szmyd, der Sportliche Leiter aus Polen, seinen Athleten zu, die sich Punkt zehn Uhr morgens vom Hintereingang des Hotels ins Training stürzen. Dick eingepackt rasen sie durch die Lavawüste, an der Boca Tauce rechts durch die langen Geraden, die die Landstraße TF-38 durch die dunklen Lavabrocken fräst, im Sturzflug an die Südwestküste der Insel, rasend schnell durch weit ausholende Kehren.
Unten Stopp: um- oder ausziehen, reichlich Sonnencreme mit Faktor 30 auf die nun blanke Haut von Armen und Beinen. Danach der erste längere Anstieg Richtung Santiago del Teide, die Trainingsgruppe teilt sich in Splittergruppen – je nach Tempo. Man spürt eine Gruppendynamik, die das halbe Dutzend Rennfahrer in Dunkelgrün antreibt – trotz unterschiedlicher Fitness, trotz unterschiedlicher Ziele und Formstand.
Maximilian Schachmann und der neu verpflichtete Luxemburger Bob Jungels stürmen oft bergauf voran – sie sollen bereits Anfang März in Form sein und vor allem bei den Frühjahrsklassikern Flandern-Rundfahrt, Amstel Gold Race und Lüttich-Bastogne-Lüttich brillieren. Lennard Kämna bereitet sich mit Patrick Konrad, Matteo Fabbro und Aleksandr Vlasov vor allem auf das große Projekt Giro d’Italia vor, wo man wieder eine ähnlich gute Rolle wie im Vorjahr spielen will, als Kämna eine Etappe und Teamkollege Jai Hindley die Gesamtwertung gewann.
Ganz hinten sieht man meist den klein gewachsenen Italiener Matteo Fabbro, der einige der Anstiege unter einer Atemmaske bewältigt. Coach Szmyd, der das Begleitauto, einen angemieteten silbergrauen VW Caddy steuert, will die Sauerstoffaufnahme des Kletterspezialisten messen. Ganz nebenbei presst er bei einem kurzen Stopp am Straßenrand Vlasov irgendwo am langen Anstieg hinauf in die Canadas noch einen Tropfen Blut aus dem Ohrläppchen, um schnell das Laktat zu messen, das der Russe beim letzten Zehn-Minuten-Intervall produziert hat.
Aber nicht alles ist bitterer Ernst. “Ein paar Spielchen zwischen uns gibt es schon. Sonst wäre es langweilig”, räumt Kämna lächelnd ein, dass auch Profis sich gerne im Training gegenseitig herausfordern.
Gerade sind Kämna, Schachmann & Co von einer fünfstündigen Ausfahrt zurück, die sie durch die atemberaubenden Serpentinen rund um das Dorf Masca geführt hat – auch wenn sie dort im Verkehrschaos aus Mietautos und Touristenbussen rund um das beliebte Touristenziel zwischendurch anhalten mussten und der Nieselregen in den steilen, rutschigen Rampen die Freude am Training ein bisschen getrübt hat.
Wenn sich die Touristenströme und Blechlawinen aus Mietwagen bei Sonnenuntergang wieder aus den Straßen oben auf der Insel hinunter an die Küste gewälzt haben, haben es die Radprofis im Parador herrlich ruhig – in den Neumondnächten ist es vor den Hoteltüren rabenschwarz. Natürlich hat das ganze auch Schattenseiten – nicht nur, weil sich die Sonne morgens erst über die rund 2300 Meter hohen Kraterränder erheben muss, bis die Temperaturen deutlich über die Null-Grad-Grenze steigen.
Der Kolumbianer Rigoberto Uran hat einmal erzählt, es sei dort oben so einsam, dass man sich die Pulsadern aufschneiden würde, wenn man nicht von Zeit zu Zeit an die belebten Strände hinunterfahre. Die Premieren-Gäste von Bora-Hansgrohe sehen das anders – sie genießen die Abgeschiedenheit. “Man ist hier nicht so gestresst wie in Mallorca, wenn man in einem großen Ibero-star-Hotel ist und 180 Leute gemeinsam beim Abendessen sind. Da ist so viel Geräuschkulisse, das ist schon ein bisschen anstrengend. Hier ist alles sehr easy going, relativ leise, entspannend. Ich genieße es, dass man nach dem Training hier so zur Ruhe kommt”, sagt Kämna.
Aufstehen, 8 Uhr Frühstück, 9.30 Uhr Aktivierung und Stretching mit Osteopath Bartek Czerwinski, 10 Uhr Trainingsstart, fünf bis sechs Stunden im Sattel, bergauf und bergab, mit und ohne Intervalle, zurück im Hotel, umziehen, duschen, essen, Massage in Zimmer 106 bei Physiotherapeut Jonathan Davis, ab 19.30 Uhr Abendessen, Bettruhe. “Es bleibt keine freie Minute”, betont Schachmann. Freizeitprogramm überflüssig.
In dünner Höhenluft rückt im Hotel auf wenigen Quadratmetern die Radsportwelt zusammen. Kaum ist Team DSM um Romain Bardet abgereist, füllt die nächste Profi-Reisegruppe das Hotel, wo ein Doppelzimmer 200 Euro pro Übernachtung ohne Frühstück kostet.
Und so passiert es, dass sich links vom Gang, in dem gerahmt die Trikots vieler Teams der vergangenen Jahre hängen, die Bora-Profis aufwärmen, und rechts gegenüber im Kraftraum der Roubaix-Sieger Dylan van Baarle Rumpfstabilisierungsübungen absolviert; nach dem Training sieht man oben im ersten Stock Wout van Aert auf einem Sessel im Treppenhaus ein Buch lesen, vor dem Kamin in der Hotellobby bespricht Jumbo-Coach Merijn Zeeman Einsatzpläne und wie man Tadej Pogacar schlagen kann, Tour-Etappensieger Christophe Laporte chillt ein paar Meter weiter auf der Couch, Primoz Roglic läuft an der Bar vorbei zum Abendessen – und schließlich huscht noch ein Hauch von Nichts durch den Speisesaal: Jonas Vingegaard, der schmale Tour-Sieger aus Dänemark, der fünf Tage später sein erstes Saisonrennen gewinnen wird.
Zwischen den Fraktionen von Bora-Hansgrohe und Jumbo-Visma hat das Hotelmanagement die Tische von drei Profis von EF Education EasyPost und die restlichen Hotelgäste platziert. Morgens preschen die Männer im Rosa von EF als Erste los, Jumbo-Visma biegt rechts ab, Bora links, oder umgekehrt – oder man kämpft sich in kleinen Gruppen gemeinsam den Berg hoch. “Wir haben hier nicht den Riesenkonkurrenzkampf oder gucken gegenseitig auf unsere Teller, was jeder jeweils isst – jeder macht sein Ding”, betont Kämna mit Blick auf die prominenten Mitbewohner wie Vingegaard & Co.
Jeder ist mit sich selbst beschäftigt – große Ziele im Hinterkopf, die Wirkung der Höhe im Körper. “Ich spüre die Höhe natürlich. Anfangs schlafe ich nachts schlechter. Ich spüre es bei der Atmung, wenn ich im Hotel die Treppe hoch- oder runterlaufe. Die ersten Tage komme ich nicht vom Fleck, der Puls ist viel höher”, berichtet Schachmann.
Wer täglich 3000 bis 4000 Höhenmeter rund um den Teide-Gipfel geklettert ist, den müssen Cote de la Redoute, Stilfser Joch, der Monte Bondone, der Galibier oder der Tourmalet später in der Saison nicht mehr schrecken.
Der Wow-Effekt folgt hoffentlich bald. “Ein bis zwei Tage nach dem Höhentraining denkt man, das Powermeter funktioniert nicht richtig, weil man viel höhere Leistung tritt”, weiß Schachmann aus Erfahrung. Der Besuch am Teide, in dem nach der Mythologie der Ureinwohner ein Dämon unter einem gottgemachten Propf eingesperrt ist, scheint ungeahnte Kräfte zu verleihen.
Höhentraining nennt man den Anpassungseffekt des Körpers an Sauerstoffmangel. Weil in größeren Höhen der Anteil des Sauerstoffs an der Atemluft geringer wird, passt sich der Körper an, indem er mehr rote Blutkörperchen produziert – die den Sauerstoff im Blut transportieren.
Mittlerweile gelten Höhen von bis zu 2300 Meter als ideal. Je höher, desto größer der Effekt – aber grundsätzlich auch die Gefahr von Problemen bei der Höhenanpassung. Bestenfalls verbringt man möglichst viel Zeit in der Höhe. Die Trainingsleistungen müssen reduziert werden. Im Radsport spielte Höhentraining lange keine besonders große Rolle – mutmaßlich wegen des stark verbreiteten Dopings mit künstlichem EPO.