Abstiegsregelung im RadsportSinnvoll oder sinnlos? Ein Pro & Contra

Andreas Kublik

, Thomas Goldmann

 · 30.09.2022

Abstiegsregelung im Radsport: Sinnvoll oder sinnlos? Ein Pro & ContraFoto: Getty Velo

Im Radsport geht die Angst vor dem Abstieg um. Aufgrund der UCI-Dreijahreswertung fürchten einige Teams um ihre Existenz. Vieles spricht gegen die Abstiegsregelung, aber es gibt auch Argumente dafür - ein Pro & Contra.

Zum Durchklicken: Diese Teams gehören aktuell zur World Tour

AG2R-CITROËN TEAM
Foto: Getty Velo

Nach dem Ende der Saison 2022 werden die World-Tour-Lizenzen für die kommenden drei Jahre vom Weltverband UCI neu vergeben. Wer einen der 18 Plätze in der ersten Liga des Radsports ergattern will, muss sich sportlich qualifizieren. Maßgeblich ist die Dreijahreswertung der UCI. Dabei werden die Punkte zusammenaddiert, die ein Team von 2020 bis 2022 bei den UCI-Rennen gesammelt hat. Bei Procyclingstats ist der aktuelle Stand in der Dreijahreswertung zu finden. Dazu ist zu sagen, dass lediglich die Punkte der besten zehn Fahrer einer jeden Mannschaft pro Saison für die Dreijahreswertung gezählt werden.

Da sich aktuell mit Alpecin-Deceuninck und Arkea-Samsic zwei Zweitligisten unter den 18 ersten Teams befinden, droht Israel-Premier Tech und Lotto Soudal der Abstieg aus der World Tour. Eine Tatsache, die für Diskussionen sorgt. TOUR zeigt Argumente für die Abstiegsregelung und dagegen.

PRO - von Thomas Goldmann

Pro-Argument 1: Konkurrenz belebt das Geschäft

Eine Regelung für Auf- und Abstieg tut dem Radsport gut. Schließlich belebt Konkurrenz - wie in so vielen Lebensbereichen - das Geschäft. Teams werden durch den Abstiegsdruck gezwungen, bisherige Muster zu überdenken, Materialforschung zu betreiben und sie dürfen sich nicht auf ihrem Status ausruhen, der mitunter sehr stark an die Geldbörse des jeweiligen Eigentümers gekoppelt ist. Das ist gut für die Entwicklung des Radsports als Ganzem.

Dass ein wohlhabendes Team wie Israel-Premier Tech nun im Kampf gegen den Abstieg mit dem Rücken zur Wand steht, verwundert nicht. Hochkarätige Neuzugänge wie Chris Froome oder Jakob Fuglsang brachten nicht die erhofften Siege. Folgerichtig muss der Rennstall nun mit den Konsequenzen leben - und das ist gerecht. Auch wenn der Eigentümer Sylvan Adams der UCI mit einer Klage droht.

Sylvan Adams ist der Besitzer des Teams Israel-Premier TechFoto: Getty Velo
Sylvan Adams ist der Besitzer des Teams Israel-Premier Tech

Pro-Argument 2: Gute Arbeit muss belohnt werden

Denn im Gegensatz zu Israel-Premier Tech zeigt ein Team wie Intermarche-Wanty-Gobert, das laut eigenen Angaben das niedrigste Budget in der World Tour hat, wie man mit wenig viel erreichen kann - aktuell rangiert die Mannschaft auf Platz zehn der Dreijahreswertung. Lange wurden die Belgier als Anhängsel der World Tour belächelt, dann gab es einige Veränderungen im Staff. Zudem betrieb die Mannschaft mit Neuverpflichtungen wie Alexander Kristoff oder Biniam Girmay eine gute Transferpolitik. Dafür muss es Anreize geben, was mit der Abstiegsregelung gegeben ist.

Pro-Argument 3: Tradition ist keine Lizenz-Garantie

Das Argument, die Zukunft Jahrzehnte alter Traditionsteams stünde auf dem Spiel - wie es Ineos-Profi Tao Geoghegan Hart äußerte - ist nachvollziehbar, trifft aber nicht den Kern der Sache. Tradition schützt nicht vor dem Abstieg! Ein alteingesessenes Team wie Lotto Soudal ist in Belgien hinter Quick-Step Alpha Vinyl, Alpecin Deceuninck und Intermarche-Wanty-Gobert mittlerweile nur noch die Nummer vier und steht vor dem Gang in die zweite Liga.

Die goldenen Zeiten bei Lotto Soudal mit Andre Greipel, der von 2011 bis 2018 dort unter Vertrag stand, sind vorbei. Das Team hat es unter General Manager John Lelangue seit 2019 verpasst, sich neu zu erfinden. Der Abstieg wäre die logische Folge sportlichen Missmanagements, kann aber auch Positives bei diesem Team bewirken, denn nun wird man zu einem Umbruch gezwungen. Die Trennung von Lelangue ist der erste Schritt.

John Lelangue verlässt das Team Lotto SoudalFoto: Getty Velo
John Lelangue verlässt das Team Lotto Soudal

Gleiches gilt für Movistar. In den 1990er-Jahren feierte der spanische Traditionsrennstall mit Miguel Indurain fünf Tour-de-France-Siege in Serie. Seit dem Abgang von Richard Carapaz, Nairo Quintana und Mikel Landa Ende 2019 hängt die Equipe von Eusebio Unzue am Tropf eines mittlerweile 42-jährigen Alejandro Valverde und eines inkonstanten Enric Mas. Letzterer rettete das Team mit seinem zweiten Platz bei der Vuelta gerade noch vor größeren Sorgen im Kampf gegen den Abstieg. Ohne diese Regelung wäre die Gefahr groß, dass es Movistar einfach weiter so schleifen lassen würde. Der Druck der Dreijahreswertung lässt dem Radsport-Dino keine andere Wahl: Er muss sich verändern. Und das ist gut so!

Pro-Argument 4: Meisterschaftskampf profitiert vom Abstiegskampf

Zudem wird der Kampf gegen den Abstieg vielleicht auch den Meisterschaftskampf in Zukunft endlich in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. In anderen Sportarten brauchen Fans eine Liga, einen Wettkampf über das ganze Jahr, bei dem sie mitfiebern können. Im Radsport nimmt aber kaum jemand Notiz davon, dass Jumbo-Visma die Dreijahreswertung anführt. Mit dem Abstiegskampf könnte sich früher oder später auch der Titelkampf etablieren.

Pro-Argument 5: Kleinere Rennen werden aufgewertet

Zu guter Letzt tut sich nicht nur bei den Mannschaften durch die Abstiegsregelung etwas, auch viele Veranstalter stehen plötzlich ganz anders da - im positiven Sinne. Der Abstiegskampf wertet kleine Rennen auf. Beim Münsterland Giro starten beispielsweise 2022 zehn World-Tour-Teams. Im Vorjahr waren es nur fünf. Der Grund sind die UCI-Zähler, die es dort im Kampf gegen den Abstieg zu gewinnen gibt.

Es ist klar, dass das Punktesystem im Radsport nicht der Gewichtung der Rennen entspricht und einer Überarbeitung bedarf. Denn es kann nicht sein, dass es für einen Etappensieg bei der Tour de France 120 Zähler gibt, für den Triumph beim Münsterland Giro aber 200. Dennoch würden die kleineren Veranstalter auch bei einem leicht modifizierten System immer noch große Teams anlocken und mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Contra - von Andreas Kublik

Gegenargument 1: Der Sinn der World-Tour-Lizenzen ist ad absurdum geführt

Die Abstiegsregelung im Profi-Radsport ist Quatsch. Zunächst: Mit den World-Tour-Lizenzen versprach die UCI den Profi-Rennställen einst langfristige Planungssicherheit. Schon allein deshalb ist die Abstiegsregelung in dieser Form widersinnig. Die Idee mit den Lizenzen war aus den Major-Sports-Ligen Nordamerikas entlehnt: In NBA, NHL, NFL und MLB gibt es aber keinen Abstieg.

Die alte Unsicherheit im Radsport ist zurück: Selbst im Herbst können einige World-Tour-Teams ihren Sponsoren nicht sagen, ob sie nächstes Jahr die Tour de France fahren - und springen gegebenenfalls kurzfristig als Geldgeber ab. Die Planungssicherheit für alle Beteiligten - Teams, Sponsoren, Rennfahrer - war aber das Argument für langfristige Verträge. Und schon vor Einführung der Regelung in Sachen Abstieg spielten die von den Rennfahrern eines Teams gewonnen Punkte bei der Lizenzvergabe als sportliches Kriterium eine Rolle - aber eben nicht ausschließlich.

Gegenargument 2: Es ist kein sportlicher Wettstreit und kein echtes Liga-System

Zudem kann eine Regelung für Auf- bzw. Abstieg nur bei einem klaren Liga-System funktionieren. Das heißt aus der höheren Liga steigt man ab, aus der niedrigeren auf. Im Profi-Radsport gibt es aber keine in sich geschlossenen Ligen - erste, zweite und dritte Liga des internationalen Radsports werden in den Rennen vermischt.

Die World Tour als erste Liga ist teilweise offen. Wer mitmischen darf, wird aber nicht von sportlichen Regeln bestimmt - sondern von den Wünschen der Rennveranstalter, die oft nach Heimvorteil und nicht nach sportlichen Kriterien Wildcards vergeben. Teams aus Radsportnationen mit einer Grand Tour (Tour, Giro und Vuelta) und vielen hochklassigen Radrennen sind eindeutig im Vorteil.

Gegenargument 3: Existenz-Druck ist nie gut für die Moral

Durch den Kampf gegen den Abstieg wird der Druck erhöht - die Stabilität des Systems geht verloren. Rennfahrer werden kurzfristig aus Verträgen gekauft (zum Beispiel Dylan Teuns im August von Israel-Premier Tech), Rennfahrer müssen Rennen fahren, wenn eine Pause gut wäre - und übergroßer Existenz-Druck galt schon immer als Motiv für Doping. Siege rücken gegenüber ethischen Kriterien, die einst bei der Lizenzvergabe mitentscheidend waren, in den Hintergrund. Schon vergessen, UCI?

Dylan Teuns wechselte mitten in der Saison zu Israel-Premier TechFoto: Getty Velo
Dylan Teuns wechselte mitten in der Saison zu Israel-Premier Tech

Gegenargument 4: Das System entspricht nicht der Logik des Radsports

Das zugrundliegende Punktesystem hat nichts mit den Realitäten im Radsport zu tun. Grundsätzlich werden Radrennen im Profiradsport mit einem Leader pro Team auf Sieg gefahren. Rennfahrer auf den Ränge fünf bis sieben bringen einem Team jetzt aber bei manchen Rennen mehr Punkte ein als ein Sieg - mit Folgen für die Fahrweise. Siehe nächstes Gegenargument.

Gegenargument 5: Weniger Sicherheit in den Rennen

Die Regelung in Sachen Abstieg widerspricht auch einem entscheidenden Bestreben der UCI in den vergangenen Jahren: Die Rennen sollen sicherer werden - die Rennfinals sollen entschärft werden wie beispielsweise durch die Drei-Kilometer-Regel - dann sollen alle bis auf die Topsprinter einigermaßen entspannt weiterfahren können. Doch jetzt wird um jede Platzierung, jeden Punkt gekämpft, teilweise von mehreren Fahrern pro Team - auch in abgehängten Verfolgergruppen. Das verursacht zusätzliche Unruhe in den Rennfinals.

Gegenargument 6: Die UCI schwächt ihren eigenen Top-Wettbewerb WM und die Nationalteams

Wegen der Angst vor dem Abstieg erlaubten einige betroffene Teams wie Movistar oder Lotto Soudal ihren Rennfahrern keinen WM-Start in Australien. Statt chancenlos das WM-Rennen im Nationalteam für einen Kapitän aus einem anderen Profirennstall zu fahren, sollten sie lieber bei kleineren Rennen in Europa auf Punktejagd fürs Team gehen. Auch das deutsche Team bekam das zu spüren. Mixed-Staffel-Weltmeister Max Walscheid sollte in Europa bleiben.

Max Walscheid bei der Tour de France 2022Foto: Getty Velo
Max Walscheid bei der Tour de France 2022