Rick Van Looy, Roger De Vlaeminck und Eddy Merckx: Tadej Pogačar würde seinen Namen gerne in einem Atemzug mit diesem illustren Trio hören. Die drei Belgier sind die einzigen Fahrer in der Geschichte des Radsports, die alle fünf Monumente gewinnen konnten - Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt. Pogačar fehlen in seinem Palmarès noch Mailand-San Remo und Paris-Roubaix. Zwei Rennen, die für den Slowenen nicht so einfach zu gewinnen sind. In Roubaix stand er noch nie am Start. Über einen solchen wurde zuletzt immer wieder spekuliert, er wäre aber mit erheblichen Risiken verbunden. In San Remo hat es Pogačar bislang viermal probiert. Sein bestes Resultat fuhr er 2024 mit Rang drei heraus. Obschon das Peloton letztes Jahr mit der Rekordgeschwindigkeit von 46,112 km/h im Schnitt über die 288 Kilometer fegte, klagte Pogačar anschließend, dass das Rennen für ihn zu leicht gewesen sei.
“Ich denke tatsächlich, dass es eines der einfachsten Rennen überhaupt war. Wir sind in den ersten Stunden ein superleichtes Tempo gefahren. Aber um zu gewinnen, muss alles perfekt sein. Dieses Mal war nicht alles perfekt”, haderte Pogačar nach der 2024er-Austragung. Tatsächlich trifft es der 26-Jährige damit auf den Punkt. Für einen Fahrer mit einem Kampfgewicht von 66 Kilogramm ist es extrem schwer, auf dem Parcours an der ligurischen Küste der Konkurrenz davonzufahren. Im Grunde genommen bleiben dafür nur zwei Möglichkeiten: die Cipressa und der Poggio. Wie das Rennen dort laufen könnte, zeigen wir im Folgenden auf und schätzen Pogačars Chancen beim jeweiligen Szenario ein.
Attackiert Pogačar schon an der Cipressa (5,6 Kilometer mit 4,1 Prozent im Durchschnitt) und versucht mehr als 20 Kilometer im Solo zum Sieg zu stürmen? Nach seinen vergeblichen Mühen am Poggio in der Vergangenheit ist der Versuch verlockend, es diesmal mit einer unkonventionellen Taktik zu probieren. Doch das wäre wohl ein Himmelfahrtskommando - selbst für Pogačar. Aus zwei Gründen: In der Geschichte von Mailand-San Remo muss man schon etwas weiter zurückblicken, um die letzte Attacke an der Cipressa zu finden, die zum Erfolg führte: Gabriele Colombo war 1996 der letzte Fahrer, der an der Cipressa attackierte und später das Rennen gewann. Allerdings damals auch mit freundlicher Unterstützung der Begleitmotorräder, die reichlich Windschatten spendeten. Hinzu kommt, dass Pogačars Team UAE Emirates sich in der Vergangenheit an der Cipressa nicht besonders geschickt anstellte und beispielsweise 2024 viel zu weit hinten in den Anstieg hineinfuhr, um der Konkurrenz am Rest des Berges richtig wehzutun.
So hat es Pogačar in der Vergangenheit probiert. 2022 kam er nicht weg, 2023 ebenfalls nicht, kassierte gar danach den Konter von Mathieu van der Poel, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. 2024 riss Pogačar mit seiner zweiten Attacke eine Lücke, die dann aber wiederum von van der Poel geschlossen und die Rennsituation somit neutralisiert wurde. Am Ende lief alles wieder zusammen und van der Poels Teamkollege Jasper Philipsen siegte im Sprint. Tatsächlich bleibt aber für Pogačar diese Option aus unserer Sicht die vielversprechendste. Dafür muss aber alles zusammenpassen: Sein Team muss das Rennen vorher möglichst hart machen - Vollgas über Capo Mele, Cervo, Berta, Cipressa - und möglichst geschlossen an der Spitze des Pelotons in den 3,7 Kilometer und 3,7 Prozent im Durchschnitt steilen Poggio hineinfahren. Ansonsten ist der Anstieg zu kurz und zu flach für ein Leichtgewicht wie den Slowenen, um hier einen Unterschied zu machen. Noch ein Faktor könnte für diese Taktik sprechen und Pogačar in die Karten spielen: das Wetter. Am Samstag könnte es regnen - ein natürliches Selektionskriterium, womit die Konkurrenz mit noch etwas müderen Beinen zum Poggio kommen dürfte.
Matej Mohorič hat es 2022 vorgemacht: Mit Dropperpost und einer halsbrecherischen Abfahrt vom Poggio, Mailand-San Remo zu gewinnen. Doch ist das auch etwas für Pogačar? Eher nicht. Schließlich war er es, der beim Triumph seines Landsmannes vor drei Jahren die Lücke in der Poggio-Abfahrt aufgehen ließ. Zumal Pogačar erst kürzlich bei Strade Bianche in einer Abfahrt nach einem Fahrfehler stürzte und das womöglich noch im Hinterkopf hat. Ein solches Risiko dürfte er wohl am Samstag nicht eingehen. Zumal sich Steuerkünstler wie Thomas Pidcock (zweifacher Mountainbike-Olympiasieger) und van der Poel (siebenfacher Cyclocross-Weltmeister) wohl kaum von Pogačar bergab abhängen lassen.
Oft wird Mailand-San Remo mit einem Sprint aus einer kleinen Gruppe heraus entschieden. Wie stehen die Chancen von Pogačar dabei? Nicht schlecht, aber auch nicht sehr gut. Der Tour-de-France-Sieger kann sprinten. Letztes Jahr waren aus einer zwölf Fahrer starken Gruppe, die um den Sieg kämpfte, nur Michael Matthews und Philipsen schneller als Pogačar. Mit solchen Top-Sprintern kann es der Slowene nicht aufnehmen, aber auch gegen Fahrer wie Filippo Ganna und van der Poel dürfte es im direkten Sprintduell schwer werden - sollte es zu einem solchen kommen. Auf seinen Sprint verlassen sollte sich Pogačar deshalb nicht.