Die Bedrohung aus dem Fernen Osten materialisiert sich in einer schmucklosen Nebenstraße im Breisgau. Es regnet, und unweit des staatlichen Weinbauinstituts in Freiburg leitet das Navigationssystem den Besucher zu einem Funktionsgebäude zwischen allerlei Gewerbebauten. Über der verspiegelten Eingangstür hängen Schilder mit Namen und Logos bekannter Marken aus der Fahrradwelt – doch in der Mitte stehen die weißen Buchstaben einer Marke, die sonst nirgendwo in Deutschland einen Ausstellungsort hat. “Elves” steht da, “Carbon Rahmen | Laufräder”. Nie gehört? Also rein.
Wer hierzulande Fahrradprodukte kauft, greift meist zu Asienware. Traditionell jedoch kaufen Konsumenten fast nie Produkte von Marken, deren Inhaber als Chinesen zu erkennen sind. Westliche Marken mit klangvollen Namen sammeln Prestige, während die eigentliche Produktion oft in der Volksrepublik bei Unternehmen läuft, die darüber nicht reden dürfen. Und obwohl es bei Weitem keine Seltenheit mehr ist, dass sich Konsumenten in anderen Branchen direkt mit Chinaware versorgen – etwa bei Temu oder Shein –, ist das im Radmarkt für viele Hobbyathleten noch immer ein Tabuthema.
Joe Whittingham, Insider der chinesischen Radbranche, kennt diese Stimmung: “In den westlichen Medien herrscht im Allgemeinen eine ziemlich chinafeindliche Rhetorik, und Verbraucher verbinden ‘Made in China’ immer noch mit minderwertiger Qualität.” Gleichzeitig spielt sich jedoch, abseits des Mainstreams, etwas anderes ab, nicht nur in Freiburg: Chinesische Hersteller setzen auf eigene Marken, eigene Produkte, auf den direkten Draht zu Kunden im Westen. Sie sind damit schon ziemlich weit gekommen. War das nicht bei japanischen Autos auch mal so?
Noch immer prägt das Bild halbseidener Anbieter die Wahrnehmung, von Fabrikanten, die von merkwürdigen Mail-Adressen PDF-Kataloge mit Carbon-Produkten verschicken. Wenn man mit diesem Image im Kopf das Bike-Outlet in Freiburg betritt, ist die Überraschung groß. Auf dem modernen Display präsentiert dieses Geschäft die Produkte des chinesischen Herstellers Elves: Rahmen, Laufräder der Untermarke Orome, komplett aufgebaute Räder.
“Die Nachfrage ist merklich gestiegen, die verkauften Stückzahlen sind nennenswert”, sagt Marc Hanisch, der auch Basso und Simplon im Sortiment führt. Der Preis spiele eine wichtige Rolle, sagt Hanisch, aber Elves habe noch einen anderen Vorzug: “Die Marke bietet einen Online-Konfigurator mit komplett individueller Lackierung in Super-Qualität”, das finde man in der Preis-Leistungs-Kombi sonst nicht.
Er ist kein Händler, sondern Service-Partner des chinesischen Unternehmens, womit aber einer der wichtigsten Punkte gelöst ist: Einem deutschen Ansprechpartner für Rückfragen und Reklamationen vertrauen die Kunden eher als einer Nummer im fernen Asien. “Die Ansprechpartner sind sechs, teilweise sieben Tage in der Woche zu erreichen, man bekommt zeitnah Rückmeldung”, sagt der Freiburger Unternehmer.
Aus Heiko Wild in München schießt es am Telefon heraus: “Du hast wohl nicht erwartet, dass wir die geilsten Sachen haben?” Sein Fahrradladen “Bikedress” hat einen besonders guten Ruf, er ist Ansprechpartner für anspruchsvolle Radler, die ins obere Preissegment greifen und viel Wert auf persönliche Anpassung legen. Pinarello, Open, Trek – solche Namen verbinden Insider mit dem bayerischen Geschäft. Und jetzt ist “Bikedress” in Deutschland der erste Vertriebspartner der chinesischen Marke Seka.
“Keine andere Marke hat so ein gutes Packaging, die denken wirklich darüber nach, wie sie die Ware ausliefern”, sagt Wild, “und die Mechaniker bei mir im Laden sind begeistert von der makellosen Qualität der Carbonrahmen.” Wild hat die Marke selbst getestet, nachdem ein Kunde aus Singapur mit einem Seka zum Bikefitting bei ihm war. Da sah Wild erstmals die Marke, organisierte sich selbst einen Rahmen, der perfekt zu seinen Maßen passte, und fuhr damit im vergangenen Jahr etwa 10.000 Kilometer.
Seitdem ist Wild überzeugt, er hat Kontakte nach China gepflegt, hat sich als Händler listen lassen und die ersten vier Stück in den vergangenen Monaten verkauft. “Seka hat jetzt mit dem Spear ein sehr spannendes Rad vorgestellt, und seitdem häufen sich die Anfragen”, sagt Wild. Doch für ihn hat die Sache noch einen Haken: Die Preise der chinesischen Hersteller sind aggressiv kalkuliert, um im Wettbewerb zu punkten. Für den Händler fehlt da noch die passende Marge. Das ist für die Zukunft ein Dilemma. Denn Chinaware, die mehr kosten würde, wäre vielleicht weniger interessant für die Pionierkunden.
In beiden Fällen, Freiburg und München, kamen die Kontakte zwischen Händlern und Herstellern eher zufällig zustande. Wild sah das interessante Rad des Kunden, Hanisch hörte die Erzählung eines Kollegen aus Großbritannien, der schon gute Geschäfte mit Elves machte. Dennoch ist es kein Zufall, dass diese beiden Marken in Europa Präsenz zeigen. Sie gehören zur wachsenden Liste von Unternehmen, die sich aus dem Schatten der Wertschöpfungskette westlicher Firmen herausbegeben. Europa bietet Chancen für diese Firmen.
Bei Andrea Jeschke war das noch ganz anders. Es war die Zeit, als man in Foren nach Insider-Informationen suchte, um in Fernost vertrauenswürdige Rahmen- und Laufradfabriken zu finden. Vor etwa zehn Jahren beschäftigte sich die Ingenieurin aus Norddeutschland erstmals mit der Sache, sie wollte ein eigenes Rad aufbauen, experimentieren und nicht so sehr sparen. Sie lag mit Grippe auf dem Sofa und scrollte durchs TOUR-Forum. Sie las Horrorstories und positive Berichte, saugte Informationen auf und wandte sich schließlich an ein paar Firmen in China, die damals noch keinerlei Renommee besaßen.
Bald baute sie ihr erstes Crossrad. Es folgten zahlreiche weitere Projekte, bei denen sie unterschiedliche Quellen in China anzapfte. Inzwischen hat sie mit Tantan einen Stammlieferanten, der immer noch in der Nische agiert. Auf eine Presseanfrage sendet Tantan einzig den Link auf seine Website. Mehr Imagebuilding scheint man nicht im Plan zu haben. Derweil hat Andrea Jeschke die Sache eigenhändig vorangetrieben. Der Erfolg ihres YouTube-Kanals überraschte sie selbst. Mehr als 60.000 Mal schauten sich Menschen ein Video an, in dem Jeschke ihre Erfahrungen mit Chinarahmen beschreibt.
“Inzwischen sage ich: Alles, was aus Carbon ist, kaufe ich in China ein.” Jeschke hat Vertrauen in ihren Lieferanten – obwohl auch für sie bis heute die Zusammenhänge zwischen Marken und Produzenten in China “ein Buch mit sieben Siegeln” bleiben. Mal sehen Rahmen aus und haben die gleichen Maße wie die von Markenherstellern. Ist das ein gutes Zeichen? Ist es billiger Verschnitt? Man weiß es nicht.
Jeschke sieht sich gerade gegenüber ihren Zulieferern manchmal mehr als Beraterin denn als Kundin. “Beim Marketing haben sie noch Nachholbedarf, aber im persönlichen Austausch sind sie sehr schnell und kompetent.” Fakt ist, erstens: In der Volksrepublik China haben sich innerhalb weniger Jahre eine ganze Reihe von neuen Marken aufgetan, die nicht mehr inkognito agieren oder erste Schritte mit laienhaft aufgesetzten Marken wagen, sondern die unter eigener Flagge auftreten, Influencer bezahlen und erste Teams ausstatten.
Joe Whittingham hat bei einem chinesischen Unternehmen das internationale Marketing hochgezogen, er hat mit Panda Podium ein Portal geschaffen, das westlichen Konsumenten sichere Produkte aus China anbieten soll. Die chinesischen Hersteller wissen, dass gerade in Europa der Markt Raum bietet für Preis-Leistungs-Pakete, und Whittingham schafft mit seiner Seite die Verbindung. Er wolle nicht, dass Verbraucher über AliExpress ordern, stattdessen arbeite er mit seinem Team daran, dass die Ware vor Versand nach Europa bestmöglich getestet wird. “Fast jede Marke in China hat mir ihre Laufradsätze geschickt, und wir haben sie alle getestet”, sagt der Brite.
Das ist genauso neu wie die Präsenz der chinesischen Marken in europäischen Geschäften. “Die In-House-Marken müssen schnell sein. Die Chefs dieser Fabriken wissen, dass ihre Produktion in 10, 20 Jahren nicht mehr in China liegen wird und dass sie dann vielleicht gar keine Fabrik mehr haben – also brauchen sie eine eigene Marke.” Fakt ist allerdings auch, zweitens: Wenn die China-Produzenten echte Marken etablieren, richten sie sich nach den Marktgegebenheiten. “Der Markt in China ist im Aufwind, er könnte in zwei, drei Jahren größer sein als der europäische”, sagt Jean-Paul Ballard, der mit seiner Firma Swiss Side auch ein begehrter Partner innovativer Unternehmen ist.
Tatsächlich hat er schon Anfragen von chinesischen Unternehmen erhalten, was die Zusammenarbeit anbelangt. Vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen. Jetzt aber, mit Blick auf Chinas heimischen Markt, scheint große Dynamik aufzukommen. “Es gibt gerade einen großen Kampf um Produktionskapazitäten und nur eine begrenzte Anzahl an Qualitätsproduzenten, die nah an den chinesischen Kunden liegen”, sagt Ballard. Der chinesische Sportrad-Boom schlägt sich an anderen Ecken der Welt nieder. Gerade hochpreisige Räder und Komponenten sind in Europa wieder häufiger ausverkauft. In China, so berichten es die Kenner, ist eine Konsumenten-Schicht gewachsen, die Wert auf Räder mit klangvollen West-Namen legt und bereit ist, teuer zu bezahlen.
Das bedeutet auch Chancen für neue Marken. Eigene elektronische Schaltgruppen gibt es schon aus China, die in den Preiskampf gehen. Joe Whittingham berichtet, dass die Branche stark vom Corona-Radboom in Europa profitierte, viele änderten ihren Fokus nach 2019 von China auf den Westen. Er erwartet, dass diese Marken sich nun wieder mehr auf China konzentrieren. Und auf der anderen Seite bauen die westlichen Marken schon seit einigen Jahren massiv Produktionskapazitäten in Europa auf, in Polen, Portugal, Italien und sogar der Schweiz. “Wir produzieren jetzt schon maßgeblich hier und sind damit wettbewerbsfähig”, sagt Swiss-Side-Chef Ballard etwa über die Kooperation mit DT Swiss, “das wird uns auch helfen, die Preise in Europa stabil zu halten.”
Viele Aspekte des China-Direktgeschäfts bleiben bis heute mysteriös. Wie funktioniert das genau mit dem Zoll, mit den Importregeln, mit den Versandkosten? Was passiert, wenn die EU- und deutsche Gesetzgebung mit Fokus auf die chinesischen Handelsplattformen und ihre aggressiven Praktiken diese Modelle teurer machen? Wer kümmert sich, wenn es ein Problem mit dem Rad aus China gibt? Welchen Marken kann man überhaupt vertrauen? Joe Whittingham sagt, man laufe Gefahr, sich in ein “Rabbit Hole” zu begeben, also beim Suchen immer tiefer zu graben, wenn man als Privatkunde mit den Recherchen anfängt.
Aber eines sei klar: Steht ein Markenname auf dem Rahmen, dann hat der Hersteller etwas zu verlieren. Kommen Siegel dazu, wie etwa das UCI-Siegel, dann steigt auch die Vertrauenswürdigkeit, sagt Jean-Paul Ballard. Und mehr Marktübersicht wollen einzelne Akteure wie Petr Minarik herstellen. Der betreibt mit CyclistsHub.com eine Seite, die verlässliche Informationen zu Chinamarken liefern will. Minarik versucht zu dokumentieren, welche Firmen welches Qualitätslevel und welche Zertifizierungen einhalten. Er fährt die Räder selbst. “Ich muss sagen: Ich hatte noch nie ein wirklich gefährliches Problem.”
Was er interessanterweise beobachtet hat: Entgegen der Vorurteile seien technische Neuerungen wie integrierte Cockpits bei chinesischen Herstellern viel früher in Serie zu finden gewesen. Aus einer Reihe von Gründen hätten westliche Firmen immer noch die älteren, halb integrierten Cockpits bereitgestellt, er spekuliert über Lagerbestände in Verbindung mit Entwicklungsverzögerungen, Sparmaßnahmen und der Unfähigkeit, die Produktion schnell zu beschleunigen. “Für mich sieht es so aus, als hätten die Chinesen sich hier schneller bewegt und mehr Mut gehabt, um die Vollintegration durchzusetzen”, sagt er.
Auf der anderen Seite steht Entwickler Ballard, der für europäische Branchengrößen arbeitet und im Wettbewerb dauerhaft beschleunigt: “Wir müssen einfach innovativer sein, und wir werden auch in Zukunft immer zwei, drei Schritte vor den anderen Herstellern sein, auch denen in China. Das müssen wir aber schützen.” Es bleibt viel Spekulation. Während die bekannten Marken wieder in Europa Kapazitäten aufbauen, wächst auch die Produktion in Vietnam heran, was wiederum China als günstigen Standort bedroht. Zumal auch in China die Regierung auf Umweltbelastungen durch Carbon-Produktion kritisch schaut und die Löhne steigen.
Können China-Marken überhaupt auf Dauer so viel günstiger sein, wenn sie auch noch einen besseren Kundenservice und vielleicht sogar Sponsorings auf ihrer Kostenliste verbuchen, um noch weiter zu wachsen? Während also die ersten Händler in Deutschland vorsichtig den Reiz der neuen Marken aus Fernost hervorheben, reagieren andere Akteure der Branche allergisch auf Gesprächsanfragen. Schlüsselfirmen in der ohnehin angeschlagenen deutschen Fahrradbranche tauchen lieber ab. Hinter vorgehaltener Hand heißt es: Jetzt nicht noch über die Chinesen reden, wo uns schon das alte Geschäft wegbricht. Und im fernen China, wo die E-Mail-Anfragen für diese Geschichte auch angekommen sein dürften, quittiert man all das nur mit Schweigen.