Als SRAM seine elektronische Rennrad-Schaltung eTap 2015 erstmals der Öffentlichkeit präsentierte, erntete der US-amerikanische Hersteller damit nicht nur Bewunderung. Skeptiker vermuteten hinter der neuen Technologie so etwas wie eine Verzweiflungstat, gepaart mit hohem Ausfallrisiko. Denn mit elektronischen Schaltkomponenten waren die Amerikaner, die erst acht Jahre zuvor überhaupt ins Rennradgeschäft eingestiegen waren, seinerzeit spät dran. Die Konkurrenz von Shimano und Campagnolo schaltete da schon seit Jahren per Knopfdruck und hatte sich bereits etliche Patente dafür gesichert. Dass die Red eTap die Schaltbefehle nicht über Elektrokabel, sondern via Funksignal am Rad entlangschickte, schien verwegen: Konnte die Technologie zuverlässig und dauerhaft funktionieren, oder ist sie zu lahm, sensibel oder störanfällig, um im harten Rennalltag zu bestehen?
Fast ein Jahrzehnt später stellt niemand mehr solche Fragen. In der Praxis erwiesen sich die Sorgen als unbegründet, inzwischen arbeitet auch die Konkurrenz “wireless”, also kabellos, womit das moderne Rennrad ein gutes Stück benutzerfreundlicher wurde. Die Übertragungsprotokolle sind gut verschlüsselt, die Akkus hinreichend groß, die Elektronik robust. Von Störungen oder Ausfällen, die auf die Funktechnologie zurückzuführen wären, ist bis dato nichts bekannt. Aus heutiger Perspektive muss man den Entwicklern der eTap eher besonderen Mut und Weitsicht attestieren. Im Verlauf des Giro d’Italia schickte SRAM in einer konzertierten Aktion nun bereits die dritte Generation seiner Funkschaltung ins Rennen – mit einem ordentlichen Entwicklungsvorsprung, denn Shimano und Campagnolo haben die Verkabelung gerade erst mit ihren jüngsten Produkten abgeschafft. Die von SRAM gesponserten Profis wechselten zur Mitte der Rundfahrt auf die neue Gruppe, zeitgleich kommt sie in die Läden und an die Top-Modelle vieler Radhersteller. TOUR bekam die neue Red AXS schon einige Wochen früher zum Test und konnte sie intensiv ausprobieren.
Dass das eTap-System für SRAM in den letzten Jahren zum großen Erfolg wurde, liegt auch, aber nicht nur am Wegfall der Kabel. Auch das Schaltschema, das mit ihr eingeführt wurde, erwies sich als bestechend simpel wie logisch und erfreute sich großer Beliebtheit bei Nutzern. Es gibt nur zwei große Schaltknöpfe, links für kleinere Gänge, rechts für größere, für den Kettenblattwechsel drückt man beide Knöpfe gleichzeitig. Ein Verschalten ist quasi ausgeschlossen. Spätestens mit der zweiten Generation mit dem Zusatz AXS, die ein simples Portfolio und unkomplizierte Kompatibilität der Bauteile in den Vordergrund stellte, gilt SRAM als innovativer Taktgeber unter den Komponentenherstellern. Dieser nutzerfreundliche Ansatz führte wohl dazu, dass SRAM seine Marktanteile, trotz mancher Detailschwäche in der Mechanik, massiv steigern konnte, bei Rennrädern und besonders an Gravelbikes. Die neue Red AXS soll an diese Erfolge anknüpfen, Schwächen beseitigen und vieles besser machen. Was die neuen Komponenten im Einzelnen ausmacht, wo es relevante Fortschritte gibt und was wir nach hunderten Kilometern an Schwächen ausgemachten, haben wir hier zusammengefasst.
Am Antriebsstrang der neuen Red vollzieht SRAM lediglich Feintuning. Die Carbon-Kurbelarme bekamen ein neues Layup, was einige Gramm an Gewicht spart. An der Kette wurden mit Aussparungen in den Laschen 13 Gramm abgespeckt. Davon abgesehen bleibt der Antrieb weitgehend unverändert mit zwölf Ritzeln, die wahlweise mit einem oder zwei Kettenblättern gefahren werden können. Das bedeutet auch, dass die Antriebs- und Schaltkomponenten rückwärtskompatibel sind, sie lassen sich also mit Teilen der Vorgänger-Generation (und denen der günstigeren Zwölffach-Gruppen) ohne weiteres kombinieren. SRAM hält bei den Zweifach-Antrieben an der aus einem Stück gefrästen Kettenblatt-Kombination fest, in die optional ein Powermeter integriert ist, das ebenfalls nicht demontierbar ist. Das heißt: Ist ein Kettenblatt verschlissen, muss die ganze Einheit getauscht werden. SRAM verlangt im Austausch die Hälfte des Neupreises, das Altteil wird recycelt. Das geht dennoch ins Geld: 168 Euro ohne bzw. 448 Euro mit Powermeter werden für das Ersatzteil dann noch aufgerufen. Auch die aus einem Stück gefräste Kassette ist leicht, aber nicht billig, sie kostet je nach Abstufung zwischen 435 und 460 Euro, die neue Kette liegt bei 100 Euro. Die Verschleißteile sind damit etwa 20 Prozent teurer als bei der Top-Gruppe Dura-Ace vom Hauptwettbewerber Shimano.
Viel Auswahl bieten neue Optionen, die mit der neuen Red eingeführt werden und von denen besonders Hobbyfahrer profitieren: Eine sportliche 10-30 und eine berg- und geländetaugliche 10-36-Kassette kommen zusätzlich ins Programm. Mit nunmehr fünf verschiedenen Kassetten und den drei bekannten Kettenblatt-Kombis (50/37, 48/35 und 46/33) werden alle Ansprüche abgedeckt – bis hin zu einer deutlichen Untersetzung von 33-36 im ersten Gang. Für ambitionierte Rennfahrer und Zeitfahrräder werden größere Kettenblatt-Kombinationen mit 53/39, 54/41 und 56/43 angeboten, die es bislang nur für Profis, aber nicht im freien Handel gab.
Der Einsatz als Einfach-Antrieb beschränkt sich mit dem Schaltwerk, das mit maximal 36 Zähnen klarkommt, und den zunächst angebotenen Kurbeln mit 48 oder 50 Zähnen zunächst auf die Straße, zum Beispiel für Zeitfahrräder oder maximal welliges Terrain. Eine echte Gravel-Variante mit einem Kettenblatt gibt es bislang noch nicht, dafür aber Gerüchte, dass SRAM zeitnah geländetaugliche Übersetzungen mit kleineren Einfach-Kurbeln, größeren Kassetten und einem passenden Schaltwerk nachschieben wird.
+ Ruhigerer Lauf, viele Übersetzungsoptionen
- Teure Ersatzteile
Minimal leichter und etwas laufruhiger präsentiert sich das neue Schaltwerk, gleichzeitig die sprichwörtliche Schaltzentrale des Systems. Größere Schaltröllchen sollen für eine bessere Effizienz des Antriebs sorgen, der bereits bekannte Öldämpfer verhindert, dass die Kette bei Erschütterungen schlägt. Obwohl das Ritzelpaket unverändert ist, wirkt das Schaltverhalten hinten etwas geschmeidiger und weniger laut als bislang von SRAM gewohnt. Einen Unterschied zu Shimano-Schaltungen, die als besonders geräuscharm gelten, können wir mit am ersten Testrad kaum mehr ausmachen. Unsere Vermutung ist, dass die neue Kette dazu beiträgt: Die großzügigen Aussparungen in den Laschen dürften die Kette etwas flexibler machen. Wie es um die Verschleißfestigkeit bestellt ist, müssen spätere Tests zeigen – zuletzt hatte SRAM zumindest bei den hochwertigen Ketten deutlich aufgeholt und lag auf Augenhöhe mit der Konkurrenz. Die neue Schaltung ist z.B. bei Bike-Components erhältlich.
Einen spürbaren Unterschied im Fahrbetrieb registrieren wir beim Umwerfer, respektive dem Schaltverhalten an den Kettenblättern. Der Wechsler besitzt jetzt eine automatische Trimmfunktion, stellt sich also selbständig nach, wenn die Kette über die hinteren Ritzel wandert. Dadurch konnte der Käfig deutlich schmaler werden und führt die Kette besser beim Blattwechsel. In unseren Tests wechselt die Kette spürbar schneller, präziser geräuschärmer als beim bisherigen Wechsler. Die korrekte Montage und Einstellung des Umwerfers bleibt jedoch extrem sensibel und wenig intuitiv. Eine mitgelieferte Schablone und ausführliche Anleitungen ermöglichen die Justage aber auch ohne die langjährige Erfahrung eines Radmechanikers.
Die Akkus der Schaltkomponenten sind unverändert, sie können weiterhin untereinander ausgetauscht werden, falls einer der Komponenten der Strom ausgeht. Ihre Reichweite liegt auf dem Niveau der Konkurrenz: je nach Schaltintensität sind 2000 Kilometer und mehr drin. Geladen werden sie ausschließlich in einem Ladeport.
+ Verbesserte Schaltfunktion vorn, nur ein Schaltwerk für alle Übersetzungen
- Sensible Justage des Umwerfers
Die Hebel der neuen SRAM-Gruppe erfahren die größte optische und damit auch haptische Änderung, sie geht einher mit der stark verbesserten Funktion der Bremsen. Weil der Hydraulikzylinder der Bremse nicht mehr stehend im Griffhöcker platziert ist, sondern waagerecht im Griffkörper liegt, können diese schmaler ausfallen und der Griffhöcker ist weniger ausgeprägt. Dafür wird der Griffkörper einige Millimeter länger. Kleine Hände können die neuen Griffe im Sprint und Wiegetritt besser umgreifen, große Hände haben nun mehr Platz zwischen Bremshebel und Lenker – auch, weil die Schalttasten hinter dem Hebel nun etwas schlanker ausfallen. Die Sitzlänge des Rades verlängert sich durch die neue Hebelform um etwa sieben Millimeter, das sollten Fahrerinnen und Fahrer berücksichtigen, die genau auf ihre Sitzposition achten.
Die Griffweite und der Druckpunkt der Bremse können unabhängig voneinander eingestellt und auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmt werden. Der Drehpunkt des Bremshebels wurde deutlich nach oben versetzt, so dass mehr Hebelwirkung beim Bremsen zur Verfügung steht. Die Bremshebel sind an der Vorderseite etwas flacher und ergonomischer als die alte Version; die Schalttasten lassen mehr Platz zum Lenker, sind aber etwas höher und lassen sich dadurch aus Unter- und Oberlenker etwas besser erreichen als bisher.
Neu ist auch ein zusätzlicher, kleiner Bedienknopf an der Innenseite des Höckers, welcher in Bremsgriffhaltung gut mit dem Daumen erreichbar ist. Er kann entweder mit der Schaltfunktion belegt werden, nach unserer Erfahrung ist das Feedback dafür aber nicht präzise genug und die Position überflüssig. Besser ist die Option, den Radcomputer damit zu steuern – so kann man die Ansichten auf dem Display wechseln, ohne die Hände vom Lenker zu nehmen.
+ Zusätzlicher Bedienknopf, verbesserte Ergonomie
Die überarbeiteten Bremsen sind unbestritten das Highlight der neuen Red. Die fast wundersame Vermehrung von Bremsleistung physikalisch zu erklären, ist kompliziert: Kurz gesagt wanderten die Kolben im Bremssattel etwas von der Nabe weg und drücken die Beläge außerhalb der Bremsfläche zusammen. Die Beläge selbst sitzen wieder etwas näher an der Radmitte und treffen passgenau auf die Bremsfläche der Scheibe im Standarddurchmesser. Zusammen mit dem veränderten Drehpunkt des Bremshebels hat das den Effekt, als würde man auf einer größeren Scheibe als der verbauten 160-Millimeter-Disc bremsen. In der Praxis überzeugt die Neuerung uneingeschränkt: Bremskraft steht beinahe im Überfluss zur Verfügung, auch in steilen Abfahrten lässt sich spielerisch aus hohem Tempo eine Notbremsung hinlegen, mehr als zwei Finger sind dafür nicht nötig. Dabei übertrifft die Bremsleistung die bisherigen Spitzenreiter von Shimano und Campagnolo deutlich. Auch bei großer Leistung lässt sich die Bremse prima dosieren, bei moderatem Tempo lässt sich alles mit dem Zeigefinger erledigen. Die Paceline-Scheibe bleibt zumindest bei trockenen Bedingungen geräuschfrei; mit Quietschgeräuschen bei Nässe muss man aber auch bei der neuen Red-Bremse rechnen.
Schleifgeräusche gehören dagegen offenbar der Vergangenheit an. Ein größerer Abstand der Beläge lässt der Scheibe mehr Luft, auch nach harten Bremsungen konnten wir in unserem Testzeitraum kein Schleifen feststellen. Die neue Disc wird es nur noch mit Centerlock-Aufnahme geben, was sich bei Rennrad-Laufrädern aber zum Standard entwickelt hat. Es sind 160 und 140 Millimeter große Scheiben erhältlich; in Anbetracht der Bremsleistung könnten auch die kleineren Scheiben für bestimmte Einsatzzwecke wie leichte Fahrer und flaches Terrain wieder eine Option sein. Mit Hitzeproblemen hatte schon die letzte Red-Generation nicht mehr zu kämpfen; großzügige Ausfräsungen im Bremssattel dürften dafür sorgen, dass die Bremse noch besser gekühlt und ganz nebenbei leichter wird: 83 Gramm sollen laut Hersteller am gesamten Bremssystem abgespeckt worden sein.
+ Bremsleistung im Überfluss
- Gelegentliches Quietschen bei Nässe
Schon mit der Einführung der AXS-Reihe setzte SRAM in Sachen Software-Anbindung Maßstäbe. Die Komponenten lassen sich simpel mit dem Smartphone verbinden, in der App lassen sich Akkustände abrufen, die Feineinstellung des Schaltwerks vornehmen oder die Knopfbelegung ändern. Über eine zugehörige Web-Anwendung gibt’s noch mehr Möglichkeiten, vor allem, was die Auswertung der Fahrten betrifft. Gangstatistiken, Leistungsdaten und sogar der Reifendruck können hier im Nachhinein am PC analysiert werden, sofern die entsprechenden Sensoren verbaut sind. Wer will, kann sich Nachrichten auf sein Smartphone schicken lassen, wenn ein Akku zur Neige geht oder ein Kettenwechsel ansteht. Der Kauf des Navigations-Spezialisten Hammerhead war für SRAM die Vorbereitung, die Messlatte nun noch ein gutes Stück höher zu legen. Neu ist die verbesserte Einbindung des Hammerhead Karoo-Computers, der ebenfalls ein Update erfährt und von SRAM inzwischen als integraler Bestandteil der Schaltgruppe verstanden wird. Wer die Gruppe einzeln kauft, bekommt den Computer gleich dazu, auch an vielen Kompletträdern ist er bereits verbaut. Mit den Hammerhead-Anwendungen können nicht nur Routen am Rechner geplant und danach navigiert werden; er kann ebenso den Akkustand, den eingelegten Gang und die Daten vom Powermeter anzeigen, ohne dass die Komponenten dafür erst umständlich gekoppelt und eingerichtet werden müssen. Der Radcomputer erkennt alle Komponenten automatisch und bindet sie nahtlos ins System ein. In seinem Funktionsumfang und der Technologie muss sich der Karoo vor der etablierten Konkurrenz nicht verstecken. Der Funktionsumfang ist riesig, die Bedienung simpel. Ein besserer Prozessor, ein scharfes und blendfreies Touch-Display und ein größerer Akku heben das Gerät auf Augenhöhe mit den Top-Modellen anderer Anbieter wie Garmin oder Wahoo. Hinzu kommt eine bedienerfreundliche Software, die nicht überfordert und vieles erleichtert. Besonders die intuitive Routenplanung am PC mit guten, kostenlosen Karten und die vollautomatische Synchronisation mit dem Gerät haben uns gefallen.
Kritik gibt es für die “Blips” genannten optionalen Zusatzknöpfe, die sich frei am Lenker montieren lassen – meist am Oberlenker oder als Sprintschalter im Lenkerbogen. Sie tragen mit ihrem integrierten Akku relativ dick auf und die Rückmeldung der Tasten könnte besser sein. Die Batterie der Knöpfe lässt sich nicht austauschen. Auch, wenn SRAM bei normaler Nutzung eine Lebensdauer von mindestens zwei Jahren verspricht, ist der Preis von 100 Euro für neue Shifter wegen leerer Batterien happig.
+ Großer Funktionsumfang, einfache Bedienung, viele Auswertemöglichkeiten
- Kein Batteriewechsel bei Zusatzschaltern möglich
Mehrere Tester zeigen sich von wichtigen Neuerungen begeistert wie nur selten bei neuen Produkten. Vor allem die Bremsen beeindrucken, sie stellen am Rennrad alles bisher Dagewesene in den Schatten. Dass auch Antrieb und Schaltung präzise, geschmeidig und geräuscharm funktionieren, sollte bei einer Top-Gruppe eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – für SRAM war es seit 2007 ein steiniger Weg, dieses Niveau bei der Mechanik zu erreichen und auf Augenhöhe mit Campagnolo und Shimano zu kommen, die beide auf einige Jahrzehnte mehr Erfahrung mit Kettenschaltungen zurückblicken können. Auf einem anderen Gebiet ziehen die Amerikaner der Konkurrenz derweil davon: Dass ein moderner Radcomputer integraler Bestandteil einer Schaltgruppe wird, ist ein Novum, aber eine logische Ergänzung der elektronischen Plattform. Wie gut und einfach Schaltung, Leistungsmessung, Navigation und Auswertung zusammenwirken können, wenn alles aus einer Hand kommt, zeigt SRAM mit der neuen Red AXS eindrucksvoll. Nerviges Koppeln von verschiedenen Geräten oder Probleme mit Strecken in nicht lesbaren Formaten gehören mit dem hier präsentierten Setup der Vergangenheit an. Einen Wermutstropfen gibt es: Noch ist der Luxus teuer. Für die Red-Gruppe ruft SRAM mindestens 4.500 Euro auf, mit Powermeter werden es über 5.000 Euro. Etwas relativiert wird der Preis durch den „Bordcomputer“, der allein 500 Euro kostet, dennoch schränkt das den Käuferkreis ein. Sollte sich der Ansatz aber auf günstigere Gruppen ausweiten, was zu erwarten ist, dann dürfte das nur der Beginn einer weiteren, kleinen Revolution sein, die das Rennradfahren wieder ein Stück weit einfacher und komfortabler macht.