Der 19. März 2022 war der Tag, an dem die Teleskopstütze erstmals richtig im Straßenrennsport sichtbar wurde – und das gleich bei einem der höchstklassigen Rennen der Saison, bei Mailand-San Remo, dem traditionsreichen Eröffnungsrennen der Straßensaison und einem der Monumente des Radsports. Matej Mohoric stand in Mailand als einziger Fahrer mit der vom Mountainbike entliehenen Teleskopstütze am Start und fiel damit natürlich auch sofort auf. Er machte kein Hehl aus seinen Ambitionen, damit um den Sieg fahren zu wollen. Er warnte Landsmann Tadej Pogacar sogar davor, ihm bergab folgen zu wollen. Der Zeitpunkt seiner Attacke war damit schon vor dem Start klar: Die Abfahrt vom Poggio, dem letzten Hügel an der Küste vor dem Ziel, sollte die Entscheidung bringen.
Und die Stütze, die es erlaubt, den Sattel etwas abzusenken, sollte dabei helfen. Das Erstaunliche an der Geschichte ist, dass der Plan mit Ansage aufging. Auf YouTube kann man sich die Wahnsinnstat von Mohoric noch anschauen. Er ging mit der entscheidenden Gruppe in den letzten Anstieg, was schon nicht einfach ist. In der Steigung sparte der Profi vom Team Bahrain-Victorious Energie und ging keinen Angriff mit, während Tadej Pogacar, Wout van Aert und Mathieu van der Poel sich gegenseitig früh attackierten und Körner ließen. Mohoric pokerte, überquerte die Kuppe des Poggio als Fünfter mit zwei Sekunden Rückstand, rollte dann aber zügig zu den Führenden auf, die sich nach dem Kampf bergauf eine kleine Erholung gönnten. Schon die zweite Kehre nahm Mohoric von vorne und mit mehr Schwung als Pogacar und riss so eine Lücke.
Teleskopstützen können Gravel- und Rennräder bergab beflügeln. Ein Quäntchen weniger Sitzhöhe macht einen großen Unterschied: Denn damit geht es schneller und sicherer talwärts. Die Anwendung reicht von Trails bis hin zu Passstraßen. Der Nachteil: mehr Gewicht und weniger Sitzkomfort, weil die Teleskopstützen weniger flexen als dünne Sattelstützen.
Kurz darauf blickte der Ausreißer zwischen seinen Beinen hindurch nach hinten, vermutlich um zu prüfen, wo seine Konkurrenten waren, vielleicht auch, um zu checken, ob die Teleskopstütze wirklich abgesenkt und der Sattel damit tiefer gestellt war. Sie war es, und Mohoric steuerte mit einem Schlenker fast noch in die Mauer. Sein Vorsprung betrug dennoch bereits mehrere Radlängen, und Mohoric ließ sich durch den kleinen Fahrfehler nicht beirren. Pogacar ging aus der Führung, und die anderen Top-Fahrer setzten auch nicht mit ganzer Härte nach.
Der tiefer und damit auch aerodynamisch besser sitzende Ausreißer hingegen trat weiter mit aller Kraft in die Pedale, fuhr der versammelten Weltelite auf und davon und vergrößerte seinen Vorsprung rasch auf einige Sekunden. Voll am Limit rutschte Mohoric kurz darauf in einer Linkskurve gleich mehrfach weg, fing sein Rad aber noch vor dem Straßenrand ein; die etwas niedrigere Sitzposition dürfte dabei geholfen haben.
Auch nach dieser Rutschpartie blieb er weiter auf dem Gas. Mohoric holte auf diese Weise bis zum Ende der Abfahrt rund hundert Meter Vorsprung heraus, während sich die Verfolger in taktischen Zwängen blockierten. Keiner wollte die Konkurrenz an Mohoric’ Hinterrad eskortieren, wodurch der seinen Vorsprung ins Ziel rettete. Mission erfüllt! Aber war nun die absenkbare Sattelstütze und die dadurch mögliche Sitzposition entscheidend für diesen Sieg? Schwer zu sagen.
Viele Dinge müssen passen, um einen Sieg zu ermöglichen. Mohoric hatte jedenfalls einen ausgeklügelten Plan und eine XXL-Dosis Selbstvertrauen – wozu das präparierte Rad einiges beigetragen haben dürfte. Der slowenische Radprofi startete auch bei der Tour de France mit einer Teleskop-Sattelstütze in eine Bergetappe und gab dafür dem leichten Modell Scultura den Vorzug vor dem schnelleren, weil aerodynamisch besseren Modell Reacto des Teamausstatters Merida.
Hintergrund: Die Teleskopstütze verlangt nach einem runden Sitzrohr, das die modernen Aero-Boliden alle nicht haben. In einer Abfahrt bringt der tiefergelegte Fahrer aber mehr aerodynamische Vorteile als der Rahmen, besonders seit die UCI das Sitzen auf dem Oberrohr verboten hat – eine Technik, die Chris Froome populär machte und die ihm einige Siege einbrachte. Bei der Tour erzielte Mohoric mithilfe der Teleskopstütze jedoch keinen Sieg – ein Hinweis darauf, dass die Technik nur einen kleinen Teil zum Ergebnis beisteuert. Der Slowene holte sich stattdessen eine andere Etappe, indem er auf welliger Strecke aus einer Fluchtgruppe antrat – auf einem Aero-Renner ohne Verstellstütze.
Im Straßenrennsport hat die Teleskopstütze je nach Strecke und taktischer Konstellation also einen Nischenplatz, weil sie nicht in die ganz schnellen Räder passt und rund 200 Gramm Mehrgewicht bedeutet. Viel naheliegender ist aber die Nutzung auf anspruchsvollen Strecken abseits von Rennen. Ein Gravelbike wird mit dem Teil, das die Mountainbike-Szene “Dropper Post” nennt, geländegängiger. Leichte Trails sind mit abgesenktem Sattel leichter und spaßiger zu fahren, analog zum Mountainbiken, wo die versenkbare Sattelstütze zu den größten Innovationen der vergangenen zehn Jahre zählt. Sie wird dort flächendeckend eingesetzt – auch im Rennsport.
Die Teleskopstütze kenne ich vom Mountainbike, da ist sie gesetzt. Nach anderthalb Jahren Nutzung bin ich aber auch beim Rennrad vom Komfort und dem Mehr an Kontrolle überzeugt. Sogar auf der Hausrunde nutze ich den verstellbaren Sitz, wenn es steil bergab geht. Vor allem überzeugt mich aber die Performance in den Bergen. Neben breiten Reifen und Scheibenbremsen ist die Dropper Post das dritte Element, um Bergfahrten genussvoller und sicherer zu machen; umso mehr, je steiler und länger es zur Sache geht. Bei einigen Tausend Tiefenmetern am Tag macht der abgesenkte Sattel einen deutlichen Unterschied. Tempo, Kurvenkontrolle, anbremsen – alles klappt besser mit tieferem Schwerpunkt.
Am Gravelrad bringt die Teleskopstütze aber nicht nur auf Trails Vorteile. Sie hilft auch Schotterabfahrten mit mehr Kontrolle und Sicherheit unter die schmalen Reifen zu nehmen, dazu muss es gar nicht besonders steil sein. Ein tieferer Schwerpunkt schafft Vertrauen, und wer sich sicherer fühlt, fährt besser und schneller bergab. Dies lässt sich nahtlos auf die Straße übertragen.
Dort kommt noch ein Punkt hinzu, den sich Mohoric auch zunutze machte: Tiefer sitzen macht schneller. Denn mit kleinerer Stirnfläche sinkt der aerodynamische Widerstand so deutlich, dass man auf dem Tacho sofort sehen kann, wie das Tempo steigt. Hat man sich einmal daran gewöhnt, mag man dieses Feature eigentlich nicht mehr missen. Mit der Sitzhöhe zu spielen, wird schnell so normal wie das Wechseln der Gänge. Wann immer die Schwerkraft einlädt, den Top-Speed auszuloten ist der abgesenkte Sitz willkommen.
Wenn Tiefenmeter ohne Ende anfallen gibt es einen weiteren positiven Effekt: Der abgesenkte Sitz entspannt Schultern und Nacken. Schneller, sicherer, entspannter – ein dreifacher Gewinn. Damit lässt sich auf einem Marathon effektiv Fahrzeit sparen. Bei einem langen Marathon, wie dem Ötztaler, sind netto zehn Minuten weniger Fahrzeit drin mit Teleskopstütze – und das trotz Mehrgewicht.
Nur Vorteile also? Nein, die Teleskopstütze hat auch Nachteile. Zum einen wiegt sie mehr. Zum anderen, und dieser Punkt ist relevanter, bietet sie viel weniger Fahrkomfort als eine leichte Carbonstütze, die darauf ausgelegt ist, zu flexen. Schnell über schlechte Strecken zu fahren, ist nicht die Domäne von Teleskopstützen. Weitere Nachteile sind höhere Kosten und der zusätzliche Wartungsaufwand. Wobei eine relativ leichte, günstige Teleskopstütze ab 160 Euro zu haben ist, also weniger kostet als eine High-End-Carbonstütze. Der Pflegeaufwand hält sich auch in Grenzen. Nach längerer Nutzung kann, je nach Bauart, ein Entlüften notwendig werden. Außerdem muss man sich auf leichtes seitliches Spiel einstellen, was im Fahren aber keinen Unterschied macht.
Die Nutzung ist umso einladender, je einfacher sich die Stütze aktivieren lässt. Unschlagbar ist in dieser Hinsicht die AXS-Architektur von SRAM. In die aktuellen Elektro-Schaltgruppen lässt sich eine elektronisch per Funk aktivierbare Stütze einbinden. Genial ist die Stütze in Verbindung mit einem 1x12-Getriebe. Denn dann lässt sich die Stütze übers gleichzeitige Drücken beider Schalttaster an den Bremsgriffen aktivieren. Das ist ergonomisch die beste Lösung.
Alternativ lassen sich aber auch Zusatztaster, die frei am Lenker verteilbar sind, mit der Aufgabe beauftragen. Mechanische Schalter fallen dagegen etwas ab. Es gibt Modelle für den Lenkerbogen oder den Oberlenker; letztere erfordern ein Umgreifen, was in kniffeligen Fahrsituationen nicht so toll ist.
Teurer, schwerer, komplizierter? Das ist der Preis des Fortschritts. Aber ausprobieren macht schlau. Je nach Terrain ist die Verstellstütze auch auf schmalen Reifen ein Gewinn. Besonders wer viel in den Bergen unterwegs ist und auch steile Straßen unter die Räder nimmt, profitiert von der variablen Sitzhöhe. Sehr viel Hub ist dafür nicht nötig. 50 Millimeter machen schon einen deutlichen Unterschied auf der Straße. Auf dem Trail ist auch mehr willkommen. Am Gravelbike haben sich 100 Millimeter als durchaus nützlich erwiesen.
Exotische Anwendung der Telekopstütze, aber nicht auf Mailand-San Remo limitiert. Besonders wenn es sehr steil bergab geht, ist sie ein Hilfsmittel, um in der Abfahrt zu attackieren.
Wo es viel bergauf geht, geht es auch lange abwärts. Die Teleskopstütze entspannt die Abfahrten. Mehr Tempo geht einher mit mehr Kontrolle und lockeren Schultern – top in Wettkampf und auf Tour.
Die natürliche Domäne der Teleskopstütze. Je rauer und steiler das Gelände, desto größer der Gewinn. Damit rückt das Gravelrad etwas näher ans Mountainbike. Leichte Trails werden möglich.
Die per Funk angesteuerte Stütze ist die Luxus-Variante – passend für aktuelle SRAM-AXS-Gruppen. Betätigung per Remote-Hebel oder über das gleichzeitige Drücken von zwei Schalttasten. Abgesenkt federt die Stütze auch ein bisschen.
Die mechanisch betätigte Stütze ist mit Verstellbereichen von 65 bis 120 mm erhältlich. In anderthalb Jahren Praxistest schlägt sie sich wacker und verrichtet ihre Hubarbeit ohne Murren. Der zugehörige mechanische Griff passt an den Oberlenker neben den Vorbau.
Die Stützen gibt es in vielen Durchmessern und Längen ab 27,2 Millimeter aufwärts. Wichtiges Merkmal ist der Verstellbereich, denn dieser muss zum Auszug der Sattelstütze im Rahmen passen. Die Verstellbereiche liegen zwischen 50 und 200 Millimetern. Betätigt werden die Stützen meistens über einen Seilzug, der idealerweise im Rahmen verlegt werden sollte. Ist dies nicht vorgesehen, muss man Löcher bohren oder auf die Funk-Stütze von SRAM ausweichen, die elektronisch per Bluetooth aktiviert wird. Leichte Exemplare wiegen knapp 450 Gramm – das sind rund 250 Gramm mehr als bei einer durchschnittlichen Sattelstütze. Straßen-Preise beginnen bei 160 Euro.
Bedingung ist ein rundes Sitzrohr – das findet sich vor allem noch unter den Marathonrädern. Canyon Endurace, Rose Reveal Al und Trek Emonda Al sind bekannte Beispiele. Top-Räder haben oft Stützen mit D-förmigem Querschnitt oder flache Aero-Stützen – hier passt keine Teleskopstütze.