Robert Kühnen
· 03.07.2024
Mavic war der erste Hersteller, der Laufräder und Reifen als System betrachtete und dabei auch die Aerodynamik im Auge hatte. Eigentlich logisch, denn die Reifen bilden schließlich die kritische Front des gemeinsamen Aeroprofils von Reifen und Felge. Dass das Mavic-System kein großer Erfolg wurde, lag am Reifen. Dieser war nicht auf Augenhöhe mit Top-Produkten. Aerodynamik-Profi Jean-Paul Ballard, Chef von Swissside und unter anderem für die Aero-Entwicklung von DT-Produkten verantwortlich, hatte das Thema Aero-Reifen auch früh auf dem Schirm. Aber es dauerte, das Produkt umzusetzen. “Ein Aero-Reifen muss natürlich auch in jeder anderen Kategorie top sein”, sagt Ballard, sonst ergebe das keinen Sinn.
Schließlich fand sich eine Dreierbande aus Continental, DT-Swiss und Swissside und das Know-how aus Gummiküche, Laufradproduktion und Aero-Entwicklung wurde zusammengeworfen. Basis des daraus entstanden Reifens Aero 111 ist Contis 5000 STR, bekannt als absoluter Top-Reifen, beliebt bei Profis und Roll-Referenz in TOUR-Tests. “111” greift die Prototypenbezeichnung bei Conti auf und steht für das Zusammenwirken der drei Partner. Gummimischung, Karkasse und Aufbau des Aero-Reifens sollen identisch sein zum 5000 STR, nur das Profil ist anders. Die blockartigen Vertiefungen dienen als Wirbel-Generatoren. Das ist ein bekanntes Prinzip in der Aerodynamik. Die Dellen im Golfball haben den gleichen Hintergrund, aber auch der Feinripp-Stoff an den Oberarmen der Zeitfahranzüge. “Die Schwierigkeit lag darin, dass Profil so zu gestalten, dass es für verschiedenste Laufräder und Geschwindigkeiten funktioniert”, erklärt Ballard.
Wir konnten den Reifen ausführlich einem Windkanaltest unterziehen – auf sechs Laufrädern, vom kleinen Aeroprofil mit 30 mm Tiefe (DT AR 1600) bis hin zu ausgewachsenen Aero-Profilen mit 60 mm Höhe, darunter auch unser Zipp 404 Referenzrad und die ultrabreiten Roval CX Team (35 mm Außenbreite). Abweichend zu unserem normalen Prozedere, haben wir die Messungen am nackigen Vorderrad vorgenommen. Der Reifen ist auch ausschließlich als Vorderradreifen gedacht, weil er nur dort aerodynamisch wirkt. Die Aerotests führten wir mit 26er und 29er Reifen bei drei Geschwindigkeiten durch: 30, 37,5 und 45 km/h.
Bei allen Messungen setzt sich der Aero-Reifen gegen den normalen 5000er Reifen durch. Das Aero-Profil verzögert oder verhindert, dass sich die Strömung bei Schräganströmung vom Laufrad trennt. Bei einigen Felgen wird das Vorderrad bei Schräganströmung sogar angetrieben, wenn der Aero-Reifen montiert ist. Die größten qualitativen Unterschiede treten bei niedrigen Geschwindigkeiten auf (wo Schräganströmung zugleich wahrscheinlicher ist). Mehr Leistung lässt sich naturgemäß bei mehr Tempo sparen, im Mittel liegen die Einsparungen durch den Vorderradreifen bei 1 bis 2,5 Watt. Punktuell bei besonders schräger Anströmung sind aber auch zehn Watt und mehr drin. Der Reifen bietet daher nicht nur Schnellfahrern Vorteile, sondern allen Rennradfahrern, denen es aufs Tempo ankommt. Die Aero-Wirkung verbessert zudem auch das Handling: Bei Tests auf der Straße mit Zipp 404 Rädern fiel auf, dass der Aero-Reifen die Fahrt beruhigte. Größere Lenkausschläge durch Böen waren seltener als mit der Standardbereifung. Dies korrespondiert mit der Lenkmomentmessung im Windkanal, die glattere Verläufe zeigt.
Bei der Tour de France wurde der Reifen schon an Rädern von Decathlon AG2R La Mondiale gesichtet. Auch Tadej Pogacar ist ein möglicher Nutznießer. Was haben die Profis von dem Aero-Reifen?
Zum einen profitieren sie von einem besseren Handling in Verbindung mit tiefen Felgen, weil es seltener zum Strömungsabriss kommt und das Vorderrad ruhiger durch Böen fährt. Zum anderen verbessert sich die Aero-Performance signifikant, wenn an einer Steigung Seitenwind bläst, denn dann erleben auch Profis stärkere Schräganströmung.
Und wie sieht es beim Zeitfahren aus? Sind die Reifen beim extremen Zeitfahrtempo der Profis überhaupt ein Vorteil, wenn die Qualitäten vor allem bei niedrigerem Tempo Wirkung zeigen? Im Zeitfahren ist es eine Abwägung zwischen dem minimal besseren Rollen der dünner gummierten Zeitfahrvariante des Reifens, dem Conti STR TT, und den aerodynamischen Qualitäten des Aero 111, der die normale Gummistärke des Conti 5000 STR besitzt. Wir sind ziemlich sicher, dass der Aero 111 daher beim Abschlusszeitfahren in Nizza der Vorderradreifen der Wahl sein wird, denn es geht einerseits viel bergauf als auch rasend bergab. Dort kann der Reifen seine beiden Qualitäten ausspielen. Am Hinterrad wird die Zeitfahrvariante ohne Aero-Profil zum Einsatz kommen.
Performance-orientierte Freizeitfahrer finden im Aero 111 ein Mittel, um ihre Aerolaufräder in vielen Situationen schneller und besser beherrschbar zu machen. Wir konnten das ruhige Fahrverhalten des Aero 111 im Rahmen des Dreiländergiro in der Abfahrt vom Stilfser Joch testen. Der Reifen ist tubeless-und hookless-kompatibel und wird in 26 und 29 mm Breite für 119,95 Euro angeboten. Die 26er Variante wiegt 248 g, das 29er Pendant 280 g. Der Reifen ließ sich gut montieren und dichtete im Tubless Set-up sofort ab.
Der Conti Aero 111 ist eine Wucht und ein Beispiel dafür, wie sich mit Ingenieurskunst Grenzen immer weiter verschieben lassen. Besonders eindrucksvoll ist, dass der Reifen unter sehr verschiedenen Bedingungen wirkt und auch bei niedrigem Tempo Aero-Wirkung zeigt.