“Fast Tuesday”Ballern nach Plan

Kristian Bauer

 · 05.10.2023

Ballern in der Einerreihe
Foto: Christian Kaufmann
Bei einer Rennrad Gruppenausfahrt geht es oft um entspanntes Plaudern, eine schöne Strecke und einen Stopp im Café. Ganz anders der “Fast Tuesday” in München: hier geht es nur ums Ballern und TOUR hat versucht dranzubleiben.

Angebote für Rennrad-Gruppenfahrten sprießen in deutschen Großstädten wie Pilze aus dem Boden: Facebook-Communities, Jedermann-Teams, Radcafés oder Shops bieten gemeinsame Touren an. Je größer die Gruppe und je bunter die Teilnehmer, desto unvorhersehbarer die Dynamik: Warten auf Lang­samere, Kaffeestopps, Pinkelpausen oder Pannen begrenzen fast immer die Durchschnittsgeschwindigkeiten. Ganz anders der vom Bekleidungshersteller Rapha im Münchener Shop organisierte Fast Tuesday: Statt Bummelzug ist Highspeed-Express garantiert. Die Regeln sind einfach: Sobald die Stadtgrenze erreicht ist, wird geballert. Keine Pausen, keine Stopps und kein Warten. „Es handelt sich um einen Drop Ride. Wer das Tempo nicht halten kann, fällt raus“, heißt es in der Ankündigung. Das ist auch für mich eine respekteinflößende Ansage: Was soll ich schreiben, wenn ich nach einem Kilometer abgehängt werde?

Rennrad Gruppenausfahrt mit klaren Regeln

Schnelle Ausfahrten ohne Rücksicht auf langsamere Mitradler gab es in München schon früher in der Facebook-Community „Rennradln München“. Unter den Namen „Testosterone Tuesday“ und „Titty Twister Thursday“ wurde zur Speed-Jagd aufgerufen. Es waren drei Bekannte von Florian Stolper, die damals die Rennrad Gruppenausfahrt organisierten. Der 28-Jährige erinnert sich an die Materialschlacht: „Da wurde vom Scheibenrad über Aero-Handschuhe, Zeitfahr-Einteiler und Aero-Schuhüberzügen alles eingesetzt, was Sekunden spart.“ Während der Corona-Pandemie schliefen die Ausfahrten jedoch ein. Seit der Eröffnung des „Rapha Clubhouse“ in München 2021 gibt es aber eine neue Chance für Freunde des Ausscheidungsfahrens: Florian Stolper hat die Idee der schnellen Tempojagd unter dem Titel „Fast Tuesday“ an Rapha weitergegeben. Zwischen 5 und 15 Mutige sind jeweils am Start – wie viele ankommen, ist offen. Mitfahren können Rapha-Club-Mitglieder und Gäste nach Voranmeldung über die Website oder App.

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Ride Leader Flo

Der „Ride Leader“, der die Speed-Orgie leitet, ist heute Florian Stolper, den alle nur Flo nennen. An seinem furcht­einflößend schlanken Rennradlerkörper signalisieren die hochgezogenen Aero-Socken, was bevorsteht. Start ist um 18 Uhr am Rapha-Shop im Stadtzentrum Münchens – 20 Minuten vorher sammeln sich die ersten Mitfahrer.

„Ich will meine Grenzen austesten“, meint Martin Neppl, den es reizt, durch die Spitzenbelastung fitter zu werden. „Ich bin die letzten drei, viermal rausgeflogen“, gibt der 32-Jährige grinsend zu. Auch Philipp Mandler und Sven Roehricht mussten die Gruppe schon ziehen lassen und haben dennoch beide wieder Lust auf die Raserei. Männer dominieren den Fast Tuesday in der Regel – heute sind mit Pauline Beisenherz und Kathrin Chudoba aber gleich zwei schnelle Frauen dabei. Kathrins Profil auf der Internet-Plattform Strava beweist ihr Talent für hohe Geschwindigkeiten: Die 43-Jährige hält rund 600 Seg­mentbestzeiten, im Strava-Sprech „QOM“ genannt, die Abkürzung für das englische „Queen of the Mountain“. „In einer guten Gruppe schnell zu fahren, reizt mich. Ich merke über das Jahr meine Fortschritte – beim ersten Fast Tuesday im April habe ich mich noch schlecht gefühlt.“ Angst vor der männerdominierten Gruppe hat sie nicht – sie weiß, wie stark sie ist.

Scharfer Start bei der Rennrad Gruppenausfahrt

Bevor es losgeht, erklärt der „Ride Leader“ die Regeln für die Fahrt durch die Stadt und das Verhalten beim Ablösen im Windschatten. In letzter Minute stoßen noch drei Mitstreiter dazu, sodass wir zu zwölft durch die Stadt rollen. Verkehrsbedingt beginnt die Tempojagd erst später – gebummelt wird trotzdem nicht. In Zweierreihe schlängeln wir uns durch den Feierabendverkehr, zügig durch den Perlacher Forst aus der Stadt, und nach der letzten Ampel in Oberhaching wartet der scharfe Start.

Kaum schaltet dort die Ampel auf Grün, setzt sich der Expresszug in Bewegung. Der Tacho zeigt 44 km/h, und das Tempo bleibt auch so hoch, als am Ortsausgang eine kleine Steigung kommt. „Ich trete am Anfang immer etwas stärker rein, damit Leute, die nicht mithalten können, lieber gleich rausfliegen“, verrät Flo mir später. Es ist nicht ungewöhnlich, dass schon nach einem oder zwei Kilometern die ersten wegplatzen. Mir kommt diese Taktik auch nicht gerade entgegen – mit geöffnetem Mund sauge ich die Luft tief in die Lunge. Wir wechseln die Führung in der Einerreihe regelmäßig, und als ich dran bin, gehe ich schon nach wenigen Sekunden wieder aus dem Wind. Für mich geht es heute nur darum zu überleben – längere Führungsarbeit zu leisten, ist undenkbar.

Durchatmen an der Kreuzung

Ich bin froh, als wir an einer Kreuzung abbremsen müssen und für wenige Sekunden der Druck nachlässt. Auf den nächsten drei Kilometern jagen wir wieder mit 48 km/h dahin – für mich fühlt es sich nicht mehr ganz so schlimm an, weil es nicht bergauf geht. Taktisch habe ich den größten Fehler nach dem Start gemacht: Ich habe mich hinter dem schmalen Rücken von Pauline eingereiht, der nur wenig Windschatten bietet. Kilometer später, als sich die Gruppe einmal neu sortiert, nutze ich die Gelegenheit und reihe mich hinter dem breitesten Rücken ein, den ich finden kann. Jetzt kommt mir die Anstrengung beherrschbar vor und ich habe sogar die Ruhe, ein Gel zu essen. Renngefühle bei der Rennrad Gruppenausfahrt kommen auf. Dummerweise formiert sich die Gruppe nach zwei Baustellen wieder neu und der breite Windschatten-Rücken ist wieder weg. Zu allem Überfluss wird jetzt wieder beschleunigt – es geht auf die 50 km/h zu.

Rennrad Gruppenausfahrt am Limit

„Der Schmerz ist eine große, fette Kreatur, die dir stets im Nacken sitzt. Je weiter du fährst, desto schwerer wird sie. Je härter du in die Pedale trittst, desto enger quetscht sie deinen Brustkorb zusammen. Je steiler der Anstieg wird, desto tiefer gräbt sie dir ihre scharfen Klauen in die Muskeln“, lautet ein Zitat des Radsportjournalisten Scott Martin. So sehr ich dieses Zitat auch liebe – mir fehlt die Härte, um den Kampf mit der Kreatur heute aufzunehmen. Wenn der Körper nicht mehr will und auch der Geist schwach ist, gibt es beim Fast Tuesday eine verlockend einfache Lösung: rechts rausfahren und den Expresszug ziehen lassen. Genau das mache ich jetzt. Die Gruppe zieht davon und in der Ferne sehe ich, wie ein weiterer Fahrer hinten rausfällt. Ich genieße die ersten Meter mit weniger Druck, doch schon nach kurzer Pause und mit neuer Luft in der Lunge regt sich das schlechte Gewissen: Habe ich zu früh aufgegeben? Ich trete wieder kräftiger und wittere meine Chance: Wenn die Ampel im nächsten Ort Rot zeigt, könnte ich den Anschluss wieder schaffen. Das Glück ist auf meiner Seite: Die roten Rücklichter stehen vor der Ampel und gerade als ich ankomme, schaltet sie auf Grün. Nur sehr kurz freue ich mich, dass ich wieder dabei bin – am Ortsausgang wird der Druck erhöht, und ich muss schon wieder kämpfen. Es ist schon zu dunkel, um die Geschwindigkeit auf meinem Radcomputer zu erkennen, aber ich spüre die virtuelle Tachonadel in den Beinen.

Rettende Abkürzung

Als wir mit geschätzten 40 km/h einen kleinen Anstieg hochdrücken, wird die Luft bei mir wieder sehr dünn. Ich habe nicht lange Zeit zum Überlegen, aber spontan kommt mir ein verlockender Plan: Wenn ich an der nächsten Abzweigung abbiege, spare ich mir eine kleine Schleife und mit Glück treffe ich später wieder auf die Gruppe. Gedacht, getan. Kaum bin ich abgebogen, umgibt mich ländliche Stille. Langsam senkt sich die Dämmerung über die Felder und links, weit entfernt, sehe ich die kleinen roten Punkte der Rücklichter der rasenden Radler entschwinden. In aller Ruhe läuft vor mir ein Fuchs über die Straße, bleibt stehen und schaut mir hinterher. Kaum habe ich mich wenige Minuten erholt, meldet sich wieder das schlechte Gewissen und eine Sorge: Wenn ich die Gruppe später erwischen will, muss ich trotz Abkürzung das Tempo hochhalten. Um über die Rennrad Gruppenausfahrt zu schreiben, sollte ich die Gruppe wieder einfangen. Ich beuge mich wieder über den Lenker und folge meinem kleinen Lichtkegel, der sich in den dunklen Wald bohrt. Nur wenige Minuten fahre ich allein, als von hinten tatsächlich die Gruppe anrauscht – beziehungsweise das, was von ihr übrig geblieben ist. Drei weitere Mitradler konnten nicht mehr dranbleiben. „Das ist das erste Mal, dass jemand, der abgehängt wurde, doch wieder dabei ist“, begrüßt mich eine Stimme aus der Dunkelheit.

Rennrad Gruppenausfahrt mit Speed

Auf dem 50 Kilometer langen Strava-Segment mit 160 Höhenmetern steht für die Gruppe am Ende ein Schnitt von 41,7 km/h. Das ist nicht langsam, aber weit entfernt vom Rekord – die Dunkelheit im letzten Drittel verhindert Führungswechsel mit maximalem Speed. Strava verrät, dass Ride Leader Flo vor drei Jahren beim TTT Tuesday die 50er-Runde mit einem Schnitt von 46,8 km/h abgerissen hat. Gebummelt haben wir bei Tageslicht aber auch nicht: Kathrin und Pauline haben zwei neue QOMs eingefahren und selbst Flo hat auf einem kurzen Stück einen persönlichen Rekord aufgestellt. Durch die Abkürzung liegt mein Schnitt auf der verkürzten TTT-Runde bei 38,6 km/h. So schnell bin ich noch nie durch den Münchener Süden gerast.

Langsamer bei Dunkelheit

Ich bin froh, dass wir im Dunklen nicht mehr ballern, sondern nur noch schnell fahren. In Zweierreihe rollen wir zurück und halten am Ende des Perlacher Forsts. Nach wenigen ­Minuten trudelt auch das Gruppetto der Abgehängten ein. Wer sich heute das Weiße aus den Augen gefahren hat, kann man in der Schwärze der Nacht nicht erkennen. „Das ist das erste Mal, dass ich einen Krampf im Bein hatte“, verrät Pauline. Kathrin ist ganz entspannt, „weil es heut nicht die schnellste Ausfahrt war“. Martin hat es diesmal geschafft, bis zum Ende dabeizubleiben – ein persönlicher Sieg, der ihn freut: „Die Geschwindigkeit macht Spaß.“ Viel Kampf, etwas Krampf, ein paar Abgehängte und am Ende doch lauter glückliche Gesichter – der Fast Tuesday hat alle Versprechen gehalten.

Mitfahrer Porträts:

Florian Stolper (28)
Als “Ride Leader” will Flo möglichst schnell fahren – ohne die ganze Gruppe zu sprengen. Meist sind es nur fünf bis acht Leute und dann wird oft durchgewechselt an der Spitze. In der Klasse Elite Amateure fährt er seit 2020 für das Team Baier Landshut. Abgehängt wurde er noch nie, aber selbst er hat schon beißen müssen.

Florian StolperFoto: Christian KaufmannFlorian Stolper

Kathrin Chudoba (43)
Kathrin ist in dieser Saison den Ötztaler Radmarathon in 9:17 Stunden gefahren und wurde bei der Alpen Challenge zweitschnellste Frau. „Da bin ich sieben Stunden am Anschlag gefahren.“ Meist ist sie die einzige Frau beim Fast Tuesday. Den Trainingseffekt spürt sie: „Ich quäle mich eine Stunde – das würde man nicht allein machen. Ich merke den Fortschritt.“

Kathrin ChudobaFoto: Christian KaufmannKathrin Chudoba

Martin Neppl (32)
Die letzten Ausfahrten ist Martin immer rausgefallen – trotzdem ist er weiter motiviert. Er will schneller werden und lernen, seinen Körper besser einzuschätzen: „Wenn man am Anfang zu lange vorne fährt, rächt sich das“. In diesem Jahr ist er den Ötztaler Radmarathon in 10:14 Stunden gefahren. „Ohne den Fast Tuesday und die anderen Rapha Ausfahrten hätte ich das nicht geschafft.“

Martin NepplFoto: Christian KaufmannMartin Neppl

Pauline Beisenherz (28)
Als Community-Managerin für Rapha fährt Pauline bei allen Ausfahrten mit - der Fast Tuesday ist nicht ihr Lieblingstermin: “Der Druck ist deutlich höher, als bei den anderen Ausfahrten”. Pauline kommt aus dem Skisport und hat beim Ötztaler Radmarathon 2023 ihre Kletterfähigkeiten unter Beweis gestellt.

Pauline BeisenherzFoto: Christian KaufmannPauline Beisenherz

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