Die letzten goldenen Oktobertage können täuschen, Wetter und Straßenverhältnisse ändern sich im Herbst oft buchstäblich über Nacht. Die Umstellung auf Winterzeit um die Oktobermitte bedeutet auch, dass es eine Stunde früher dunkel wird. Dies sollte berücksichtigen, wer seine Trainingssaison ganzjährig plant und auch bei miesem Wetter und schlechter Sicht auf den Renner steigt. Eine Prüfung der Ausrüstung auf Sichtbarkeit und gutes Sehen ist in diesem Fall Pflicht.
Eine Reihe von Faktoren beeinträchtigt sowohl tagsüber als auch nachts die Sicht und Sichtbarkeit von Verkehrsteilnehmern. Im Oktober ist es statistisch gesehen an jedem dritten Tag neblig. Morgens und abends blendet die tiefstehende Sonne, und das Nachtsehvermögen wird durch Reflexionen auf nasser Straße stärker gefordert. Und: Die Augen benötigen mit zunehmendem Alter länger, um von heller auf dunkle Umgebung “umzuschalten” – nach der Begegnung mit Gegenverkehr ist man unter Umständen sekundenlang im Blindflug unterwegs.
Je fitter die Augen, desto weniger muss man in geeignete Brillengläser investieren. Wer schon beim Kauf seiner Rennradbrille genau hingeschaut hat, besitzt idealerweise ein Modell, bei dem neben einer getönten gleich weitere Scheiben dabei sind, die sich für trübe Tage eignen. Entscheidenden Einfluss hat dabei die Farbe der Gläser. Sie kann den Kontrast verstärken oder reduzieren und Blendungen verringern oder erhöhen. Das Positivbeispiel hierfür ist eine orangefarbene Scheibe, die den größten Teil des blauen Lichts absorbiert und grünes und rotes Licht durchlässt.
Der Rot-Grün-Kanal im Auge ist für die Helligkeit verantwortlich, weshalb hinter orangefarbenen Scheiben Kontraste kräftiger erscheinen und Kanten schärfer. Graue Gläser hingegen lassen hauptsächlich blaues Licht durch, wodurch der Unterschied zwischen hellen und dunklen Flächen geringer wird. Auf Dauer ist das für das Auge anstrengend, weil es mehr Energie aufwenden muss, um die Schwächung der Lichtkraft zu überwinden.
Während der Fahrt muss sich das Auge bereits an den ständigen Wechsel von Licht und Schatten anpassen. Wenn man ihm die Arbeit durch eine sehr dunkle Brille erschwert, kann es sich plötzlichem Helligkeitsabfall, wie beim Einfahren in einen Wald, nicht mehr schnell genug anpassen, da es zu wenig Lichtreize erhält. Auf einer öffentlichen Straße für mehrere Minuten kaum etwas sehen zu können, kann im schlimmsten Fall tödlich enden.
Phototrope Scheiben, die ihre Tönung je nach Lichtverhältnissen ändern, sind für Rennradfahrer in Herbst und Winter keine Alternative zur klaren und durchsichtigen Scheibe. Die selbsttönende Scheibe reagiert auf UV-Strahlung, die bei jedem Wetter auf die Erde trifft und verdunkelt gerade dann, wenn man es nicht braucht, nämlich bei trübem Wetter.
Gut zu sehen, ist im Straßenverkehr jedoch nur die halbe Lebensversicherung. Darauf zahlt ebenfalls ein, wie gut man als Radler von anderen Verkehrsteilnehmern gesehen wird, weshalb neben einem funktionierenden Scheinwerfer und einem Rücklicht am Rad unbedingt auch auffällige und helle Kleidung am eigenen Leib ein Muss bedeutet.
Zwar gibt es keine Statistik oder Studie, die eine Aussage zur Auswirkung von Sichtbarkeit und Lichtanlage auf Unfallzahlen von Radfahrern trifft, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. Jedoch raten alle Akteure im Thema Verkehrssicherheit dazu und nennen als Indiz eine Studie der Schweizerischen Unfallversicherung “suva”, wonach die Hälfte aller Radverkehrsunfälle vermeidbar gewesen wäre, hätten sich die Beteiligten eine Sekunde früher gesehen.
Die leuchtenden Positivbeispiele und Vorbilder in Sachen Sichtbarkeit sind von Berufs wegen Müllwerker, Straßenbauarbeiter oder Notärzte mit ihrer von Weitem erkennbaren, grellen und reflektierenden Arbeitskleidung. Diese muss der Norm EN ISO 70471 entsprechen, und ihre Herstellung wird in Intervallen immer wieder neu zertifiziert. Das Aussehen von Polizei- oder Rettungswagen ist geprägt vom so genannten Battenberg-Design, einem Leuchfarbenmarkierungsmuster, dass international verwendet wird.
Die Erkenntnisse aus der Berufswelt nutzen auch die Designer von Radbekleidung für Herbst und Winter. Beispielsweise, so gibt Gorewear an, sei die neue Kollektion “Signal Designs” inspiriert und entstanden auf Basis des Battenberg-Schemas. Casper von Sijl, Produktmanager beim Bekleidungshersteller Agu, nutzt ebenfalls die genannten Beispiele als Arbeitsgrundlage für die Gestaltung von Wetterkleidung, zieht jedoch ein ernüchtertes Fazit zum Verkaufserfolg und antwortet auf die Frage, welche Farbe sich bei Regenjacken am besten verkauft: “Schwarz.”
Diesen Trend zu dunklen Farben bestätigen uns im Übrigen alle Hersteller von Radbekleidung, gefragt nach den Farbvorlieben der Kundschaft bei Funktionskleidung für Herbst und Winter. Am Modegeschmack lässt sich kaum drehen, aber einen Appell an die Vernunft und für mehr Mut zur Farbe bei der Radsport-Klamotte, insbesondere in der dunklen Jahreszeit, kann man nicht oft genug wiederholen.
Die Frage nach der besten Scheibenfarbe für Trainingstage bei schlechter Sicht ist schnell beantwortet: Die orange Scheibe verbessert und unterstützt das scharfe Sehen bei jeder Wetterlage, selbst wenn die Sonne kurz durch die Wolken blinzelt. Die klare Scheibe taugt vor allem im Dunkeln.
Gelbe und orange Scheiben sind bei schlechter Sicht eine gute Wahl. Die beste Wahl ist dabei die orange Scheibe. Sie schluckt einen Großteil der blauen Strahlen und lässt grünes und rotes Licht durch. Der Rot-Grün-Kanal im Auge ist für die Helligkeit zuständig, die Kontraste erscheinen uns heller, die Kanten schärfer. Das funktioniert mit gelben Gläsern ähnlich, wobei der Seheindruck sehr grell wird, sobald die Sonne durchkommt.
Eine klare Scheibe hat zwar keine kontrastverstärkende Wirkung, lässt dafür jedoch viel mehr Licht durch als beispielsweise selbsttönende Gläser. Diese dunkeln nämlich aufgrund der UV-Strahlung auch bei bewölktem Himmel ab, was bei Waldpassagen gefährlich werden kann wegen des schwachen Restlichts. Für Winterradler, die mit Licht in der Dämmerung und den Abendstunden trainieren, ist die klare Scheibe alternativlos.
Jens Heymer ist Sportoptiker, Dozent, aktiver Radfahrer und berät seit vielen Jahren Radsportler zum Thema gutes Sehen. Er kennt sich aus mit der richtigen Filterwahl für schlechte Sicht, dem Phänomen von Blendung und “Nachtblindheit”, und nennt Tipps zur Brillenpflege.
Das Interview wurde geführt von Matthias Borchers
TOUR: Es gibt viele verschiedene Filterfarben für Brillengläser – mit welcher habe ich bei Regen, Nebel und in der Dämmerung den besten Durchblick?
Jens Heymer: Die Lehrmeinung sagt, gelbe und orange Filter sind bei schlechtem Wetter mit schlechter Sicht am besten. Gelb taugt zwar bei Griesel oder Schnee, aber wenn dann doch die Sonne rauskommt, wird es schnell zu grell und ist auf Dauer anstrengend für die Augen. Mein persönlicher Favorit ist Orange. Es reduziert den Blauanteil im Tageslicht und damit die Unschärfe im Auge. Gleichzeitig kommt mehr Gelb und Orange durch, was bei der Orientierung beim Durchfahren von Waldstücken hilft. Außerdem regt Orange den Organismus an, man fühlt sich fitter. Orange ist wie Doping, aber legal!
TOUR: Warum fühlt man sich geblendet und was ist eigentlich “Nachtblindheit”? Was kann ich dagegen tun?
Jens Heymer: Blendempfindlichkeit kommt bei älteren Menschen häufiger vor als bei jüngeren. Grob erklärt, wird die Linse im Auge im Alter unelastischer und trüber. Kurz: Sie altert. Als Folge davon kommt das Licht schlechter durch und das Bild verändert sich, es wirkt weniger scharf. Wer Brillenträger ist und in der Dämmerung und Dunkelheit schlechter sieht, der sollte auf jeden Fall zum Augenarzt oder Optiker gehen und das prüfen lassen. Hier geht es tatsächlich um das Dämmerungssehen. Wobei es dazu einer speziellen Ausstattung bedarf, um die Umgebung zu schaffen, in der dieser Effekt auftritt. Stellt sich heraus, dass sich die Sehstärke während der Dunkelheit verändert, benötigt man möglicherweise eine spezielle Nachtbrille zur Korrektur. Bei gesunden Augen könnte eine leichter Gelb-Filter helfen, gegen den Blauanteil, wie bereits erwähnt.
Orange ist Doping für die Augen und macht gute Laune!
TOUR: Wie putze ich meine Brille unterwegs? Kann ich auch was gegen das Beschlagen der Brille machen?
Jens Heymer: Wenn Staub oder Sandkörner auf den Gläsern sind, möglichst nicht trocken reinigen. Ein Tipp ist, die Gläser mit dem Wasser aus der Trinkflasche abzuspülen und dann mit einem Tuch abzutupfen. Nicht abwischen, weil dadurch verbliebene Körnchen wie Schmirgelpapier die Scheiben zerkratzen. Gegen das lästige Beschlagen der Gläser empfehle ich, die Nasenbügel so einzustellen, dass sich die Brille weiter von der Stirn entfernt und so der Schweißdampf nach oben entweichen kann. Der Augenoptiker hilft dabei gerne. Ich bin übrigens kein Fan davon, die Gläser mit Spucke einzureiben, wie es Taucher gegen beschlagende Brillengläser machen. Dadurch entstehen störende Schlieren, die den Blick trüben.
Helle, grelle Farben und Reflexmaterial sind der Schlüssel für gute Sichtbarkeit bei jeder Wetterlage und schwierigen Lichtverhältnissen. Bekleidungshersteller Agu hat für diesen Zweck die Kollektion “We ride in the dark” im Sortiment. Stellvertretend für viele andere Marken zeigen wir zwei Sets der Niederländer als Rüstzeug für die kommende Herbst- und Wintersaison.
Casper van Sijl ist Produktmanager bei Agu, dem Ausstatter von Tour-Sieger Jonas Vingegaard. Der Niederländer sagt, seine Landsleute seien größere Gelb-Muffel als die Deutschen.
Das Interview wurde geführt von Matthias Borchers
TOUR: Seit wann gibt es bei Agu die Kollektion “We ride in the dark”?
Casper van Sijl: Diese Kollektion gibt es jetzt seit ein paar Jahren, und die Nachfrage nach greller und auffälliger Radbekleidung nahm während Corona stark zu. Agu hat jedoch auch für kurze Sommer-Trikots und Hosen Modelle mit stark reflektierender Wirkung. Wir verarbeiten hier kleine Glasperlen, die das Licht in alle Richtungen reflektieren.
TOUR: Woran orientiert sich das Farb- und Reflexdesign von Hi-Viz-Bekleidung?
Casper van Sijl: Im ersten Designschritt orientieren wir uns an der Norm EN ISO 20471. Wir verwenden die gleichen Farben und platzieren zusätzlich Reflexmaterial. Die Farbe Gelb ist am besten erkennbar, gefolgt von Orange und Grün.
TOUR: Viele Bekleidungshersteller berichten, dass sich dezente Outfits besser verkaufen als grelle und auffällige Kleidung. Wie sind die Zahlen bei Agu?
Casper van Sijl: Das stimmt! Wir verkaufen deutlich mehr schwarze Regenjacken als solche in Gelb oder Orange. Das ist Geschmackssache.
TOUR: Gibt es länderspezifische Unterschiede? Kaufen Holländer eher sichtbare Kleidung als beispielsweise Deutsche?
Casper van Sijl: Nach unseren Zahlen kaufen Deutsche und Belgier mehr Hi-Viz-Kleidung als Niederländer. Das kann zwei Gründe haben: Niederländer glauben, sie könnten besser Rad fahren als die anderen. Ein zweiter Grund ist vielleicht, dass Radfahren in den Niederlanden aufgrund rücksichtsvollerer Autofahrer und dem besseren Radwegenetz nicht so gefährlich ist wie bei euch in Deutschland.