Rad am Ring 2023Vier Solisten beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring

Tim Farin

 · 16.09.2023

Rad am Ring: Das 24-Stunden-Rennen am Nürburgring ist eine der härtesten Herausforderungen, der sich Hobbyradsportler stellen können
Foto: Sportograf
Rad am Ring! Das 24-Stunden-Rennen am Nürburgring ist eine der härtesten Herausforderungen, der sich Hobbyradsportler stellen können. Besonders für die, die es als Solisten angehen. TOUR hat vier von ihnen begleitet.

Rad am Ring - Alleine in der Hölle

Es hat etwas unerwartet Meditatives, übermüdet hinter dem Metallgitter am Ende der Start- und Zielgeraden zu stehen und den Blick auf die Kurve zu richten, hinter der die leeren Tribünen der Grand-Prix-Rennstrecke in die Höhe wachsen. Es ist 1.37 Uhr am vorletzten Sonntag im Juli; auf Sitzsäcken, in Campingstühlen und auf Pritschen in ­Zelten am Streckenrand liegen Menschen eingehüllt und schützen sich vor der Kälte der Eifel. Wo eben noch stampfende Beats das Sommergefühl befeuerten, tönt nur noch gedämpft spanische Musik fürs Gemüt in die windige Nacht.

Rad am Ring: In der Dunkelheit ist die Orientierung auf der breiten Strecke nicht immer einfach - umso schwieriger, je weniger Radler unterwegs sindFoto: www.bike-components.deRad am Ring: In der Dunkelheit ist die Orientierung auf der breiten Strecke nicht immer einfach - umso schwieriger, je weniger Radler unterwegs sind

Gleich dürfte Katrin Blüm-Beck eintreffen. Vielleicht aber dauert es noch länger, und man wartet weiter, das Gefühl für Zeit verliert sich zunehmend. So verweilt der Blick auf dem schwarzen Asphalt, über den schwungvoll die weißen Lichter ziehen, begleitet vom Surren der Ketten, dem Rattern der Freiläufe, dem Klickern von Schaltungen und gelegentlichem Stöhnen. Irgendwann kommt Katrin. Sie freut sich auf eine Kartoffel.

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Katrin Blüm-Beck nimmt teil an einer der außergewöhnlichsten Herausforderungen für Jedermann-Radsportler in Deutschland: Die 56-Jährige ist seit Samstagmittag, 12.56 Uhr, unterwegs beim 24-Stunden-Radrennen auf dem Nürburgring. Die Architektin aus Aachen treibt die Ausdauerprüfung allerdings auf die Spitze: Sie ist als ­Einzelstarterin im Rennen und kann sich nicht mit Teamkolleginnen abwechseln. Blüm-Beck zieht das Rennen in der „Grünen Hölle“ im Alleingang durch.

Katrin Blüm-Beck wird später für lange Zeit deutlich gequälter lächelnFoto: www.bike-components.deKatrin Blüm-Beck wird später für lange Zeit deutlich gequälter lächeln

Rad am Ring - Trailer-Park und Rockfestival-Ambiente

Damit ist sie ­eine von 633 Teilnehmenden, die bei der 20. Ausgabe von Rad am Ring die Ganztagsprüfung im Solo absolvieren. Katrin Blüm-Beck wird sich am Sonntag wieder ins Auto setzen, mit 15 Runden in den Muskeln, 391,5 Kilometern und weit mehr als 8000 Höhenmetern. Mit nach Hause wird sie Leid nehmen, Hadern, viel Müdigkeit, Überwindung und auch das Gefühl, Spaß gehabt zu haben.

Morgens vor dem Start ist Nervosität überall auf dem ­Gelände der Rennstrecke auszumachen. Schon am Frei­tag­abend hatten sich die Teams in ihren Parzellen entlang des Grand-Prix-Kurses eingerichtet, doch jetzt rücken noch Tausende Starterinnen und Starter an, tragen Fahrräder, Montageständer und Iso-Verpflegung an ihre Positionen und installieren komplexe Nachschubketten.

Die Anziehungskraft des Nürburgrings ist enorm, fast 10 000 Radsportler nehmen in den diversen Kategorien teilFoto: www.bike-components.deDie Anziehungskraft des Nürburgrings ist enorm, fast 10 000 Radsportler nehmen in den diversen Kategorien teil

Es ist eine Mischung aus Trailer-Park und Rockfestival-Am­bien­te, die sich an diesem sonnigen Samstagmorgen ent­wickelt, es wirkt, als würden manche Teams für Wochen einrücken. Schlangen bilden sich vor der Teilnehmerinfo, vor den Toiletten, später dann zur Einfahrt in die Start­zone. Die Menschen sind aufgeregt, Rock- und Disco-­Musik dröhnt durch die Boxen, beim Entladen von Kisten und Prüfen des Materials verfliegt die Zeit.

Start in der “grünen Hölle”

Vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, dass Per-Ole Wendt eine eher unruhige Nacht hinter sich hat. Der 26-Jährige hat im Zelt am Nürburgring geschlafen, bei sechs Grad. „Ich war gar nicht darauf eingestellt. Mein Schlafsack ist nicht für diese Temperaturen geeignet, und meine Uhr zeigt mir jetzt eine Restenergie für meinen Körper von 50 Prozent an“, sagt der Marketing-Manager aus einem Immobilienunternehmen. Wendt kommt aus Hannover, ist Debütant bei Rad am Ring und vor drei Monaten für eine schwangere Teilnehmerin als Einzelstarter nachgerückt.

Per-Ole Wendt aus dem flachen Norden sammelt Eifeler HöhenmeterFoto: SportografPer-Ole Wendt aus dem flachen Norden sammelt Eifeler Höhenmeter

Wendt war schon frühmorgens wach, er hat sein Rad noch mal checken lassen, er ist zum Fahrer­briefing gegangen, denn er hat „Respekt“ vor den Anstiegen, aber auch vor den Abfahrten und den angekündigten Windböen. Er spricht ruhig und abwartend, lächelt vorsichtig. Wenn er morgen zehn Runden erreicht habe, dann sei das schon sein eigentliches Ziel, sagt der blonde Mann im rot-weißen Trainingsanzug.



Die Bandbreite der Einzelstarter ist groß. Es gibt bei Rad am Ring die Routiniers, die ihre Eintagesbelastung generalstabsmäßig durchgeplant haben und auf perfektem Material zum Start rollen. Es gibt aber auch Klapprad-­Fahrer und Leute, die verrückt genug sind, mit ganz normalen Stadträdern in die „Grüne Hölle“ zu starten.

Per-Ole Wendt ist fasziniert von dieser Vielfalt, und sie beruhigt ihn auch ein bisschen, denn selbst ist er mit etwa 90 Kilogramm nicht gerade ein Kletterfloh. Dann gibt es Leute wie Helge Jasch, einst Eisschnelllauf-Kader­athlet, heute Trainer bei der Bundespolizei-Sport­förderung, Sportler durch und durch und auf eine neue Herausforderung aus.

Rad am Ring - Start um 12.56 Uhr

Der 59-Jährige hat neben seiner Frau Antje im Camper bestens geschlafen, zehn Stunden am Stück. Er sei ganz entspannt. „Entscheidend sind die zweiten zwölf Stunden“, erklärt der Absolvent der Deutschen Sporthochschule, „man muss die ersten zwölf ruhig durchziehen, sonst wird es hintenraus schwieriger.“ Klingt nicht wie einer, der sich überfordert fühlt.

Mit Routine und einem konsequenten Plan kurbelt sich Helge Jasch durch die 22 Stunden und belegt Rang 13 in seiner AltersklasseFoto: SportografMit Routine und einem konsequenten Plan kurbelt sich Helge Jasch durch die 22 Stunden und belegt Rang 13 in seiner Altersklasse

Gegen Mittag strömen Tausende Radsportler und Radsportlerinnen auf die Start-Ziel-Gerade vor der Haupttribüne, am Rand stehen viele Hundert Begleiter, die Startblöcke für die parallel ausgetragenen Jedermann­rennen sind voll, dahinter rückt das Feld für die 24-Stunden-Probe auf. „Ziemlich viele Rennradfahrer, hoffentlich können die alle auch fahren“, sagt ein Teamfahrer aus Köln. Auch wenn gleich eine richtige Langzeitbelastung beginnt, verläuft der Start genauso hektisch wie bei jedem großen Jedermannrennen.

Ganz rechts, relativ weit vorne, hat sich Leila Künzel alleine aufgestellt, nahe am Zaun, wo auch ihr Freund Sven steht und sie filmt. Künzel hat die Teilnahme am Rennen inklusive Rad und kompletter Ausrüstung bei einem Gewinnspiel in TOUR gewonnen, die ambitionierte Triathletin hat sich akribisch vorbereitet, zuletzt noch Feinschliff im Erzgebirge geholt. Ihr Ziel: „Ich möchte auf jeden Fall das Everesting schaffen“, sagt sie – also 8848 Höhenmeter.

Ein paar Minuten vor dem Start spricht sie davon nicht mehr: „Ich überlege, ob ich mich noch weiter nach hinten stellen soll, weil hier die ganzen Teamfahrer stehen, aber ich komme da eh nicht mehr durch.“ Künzel will das Rennen in ihrem eigenen Speed angehen, das irre Tempo der Zweier-, Vierer- und Achter-Teams möchte sie am Start auf keinen Fall mitgehen. Sie hat Respekt vor der hektischen Startrunde, die um 12.56 Uhr beginnt.

Rad am Ring - Plan und Realität

Es ist 17:18 Uhr, als Katrin Blüm-Beck an ihrem Teamstand anhält. Sie lächelt, allerdings gequält, Sonnencreme ist verschmiert auf Armen und Beinen, sie greift Flaschen aus einem vorbereiteten Korb am Zaun. „Ich bin zu schnell losgefahren, da waren so viele Leute, ich wollte dran­bleiben“, sagt sie, „ich wollte eigentlich am Anfang feste Nahrung essen, dafür bin ich aber zu schnell gefahren. Jetzt muss ich mal langsam in den Ausdauermodus finden“, sagt sie und rollt auf ihre fünfte Runde.

Rad am Ring: In den Camps entlang der Strecke werden die Sportler versorgtFoto: SportografRad am Ring: In den Camps entlang der Strecke werden die Sportler versorgt

Es ist das Anzeichen einer Krise, durch die sich Katrin noch länger kämpfen wird. Im Vorjahr hatte sie das erste Mal einen Einzelstart gewagt, da funktionierte alles leicht und besser als gedacht. Dieses Jahr, als sie optimistisch zum Ring fuhr, hat sie sich ein Ziel gesteckt: „Es hat mich immer gejuckt, die 18 Runden zu schaffen.“ Eine Runde mehr als im Vorjahr, mit einem besseren Plan – das sollte doch machbar sein. Doch schon gegen Abend zeigt sich, dass Pläne und Realität oft nicht in Einklang liegen.

Ein paar Hundert Meter die Strecke hinauf von Krise keine Spur: Am Streckenrand steht Antje, Helge Jaschs Ehefrau. Gerade eben hat sie wieder die Flaschen aufgehoben, die ihr Mann an den Rand geworfen hat – und ihm zwei neue angereicht, eine mit Wasser, eine mit Kohlen­hydraten. Antje steht seit dem Start hier, und sie wird das auch bis morgen zum Schluss des Rennens durchziehen.



Wenige rote Rücklichter

Sie begleitet ihren Mann, weil sie dafür sorgen will, dass er und das Wohnmobil am Sonntagabend wieder unversehrt in Bad Endorf in Bayern ankommen. Sie macht nichts anderes an diesem Tag, als ihren Mann zu betreuen. So mache man das doch in einer Partnerschaft, sagt Antje Jasch, selbst erfahrene Sportlerin. Ihr Mann zieht derweil unermüdlich seine Runden.

Als der Sonntag anbricht, der schmale Neumond kurz über den Wipfeln der dunklen Nordschleife zu sehen ist, harrt Antje immer noch am Streckenrand aus, jetzt in gelber Warnweste. Drumherum hat sich das Festival-­Geschehen in Zelte und Autos zurückgezogen. Man sieht nur noch wenige wache Menschen auf dem Gelände, in den Boxen machen sich nur noch wenige Teilnehmer für Wechsel bereit, auf der Nordschleife sind nur noch wenige rote Rücklichter der Vorausfahrenden zu sehen – das Manövrieren wird trotz der brei­ten Strecke manchmal herausfordernd.

Das “Karussell” gehört zu den legendären Streckenabschnitten der alten NordschleifeFoto: SportografDas “Karussell” gehört zu den legendären Streckenabschnitten der alten Nordschleife

Per-Ole Wendt hat sich nach sechs Runden dazu durchgerungen, eine Pause einzulegen, mit Krämpfen in den Beinen möchte er lieber erst mal drei Stunden schlafen; mit dem Morgengrauen soll es wieder auf die Strecke gehen. Als er dann um 4.38 Uhr vor dem Büffet seines Teams steht, spricht er von Erholung. „Ich habe viel besser geschlafen als gestern, die Krämpfe sind weg“, sagt er, „jetzt schaue ich noch mal, ob ich die zehn Runden schaffe. Das Tief aus der Nacht ist weg.“

Währenddessen hat Katrin Blüm-Beck sich weiter ins Tief gefahren. Einmal kommt sie an ihren Stand, müht sich zum Essen, findet eine in Alu eingepackte Kartoffel, die sie scheibchenweise isst, mit Ketchup. Es wirkt mühsam. Danach legt sie sich für ein paar Minuten hin. Wenige Stunden später liegt sie auf der Massagebank, zum zweiten Mal in diesem Rennen, und kann sich danach kaum noch erheben. Ihr Lächeln ist immer noch da, aber viel sagen kann sie nicht.

Rad am Ring - Das Zeitgefühl verschiebt sich

Am frühen Morgen steht Leila Künzel bei ­ihren Leuten am Leipziger Wohnmobil. Sie hat gerade Brühe gegessen, ihr Freund Sven hat Buch geführt auf einer Strichliste, was ­alles in Leilas Mund verschwunden ist. Ihre Freundin Katja feuert sie an, jetzt nicht nachlassen, sagt sie, denn Leila hat nicht nur ihr Ziel „Everesting“ erreicht, sondern liegt bei den Frauen auf Platz zwei ihrer Altersklasse. Mit einem Lächeln rollt sie wieder auf die Strecke, reiht sich in den Windschatten einiger Teamfahrer ein, es sieht erstaunlich locker aus. Eine Schlafpause im Wohnmobil könnte der Grund sein, sagt ihr Freund.

Begleitet von ihrem Freund Sven zieht Leila Künzel ihr Ding durch und belegt Rang zwei in ihrer AltersklasseFoto: www.bike-components.deBegleitet von ihrem Freund Sven zieht Leila Künzel ihr Ding durch und belegt Rang zwei in ihrer Altersklasse

Das Gefühl für Zeit verschiebt sich. Das Wetter wird rauer. Der Wind, der die ganze Nacht auf dem Gelände stand, schickt jetzt Sturmböen dazu, ein Zelt fliegt umher, Zäune fallen um, die Begleiter sichern und verstauen, was nicht schwer oder festgezurrt ist. Schon um neun Uhr herrscht Aufbruchstimmung, doch viele Fahrer drehen weiter ihre Runden. Nicht Per-Ole Wendt, der mit Blick aufs Wetter lieber neun statt der angepeilten zehn Runden fährt. Aber Katrin Blüm-Beck, die irgendwann in den Morgenstunden aufgehört hat zu rechnen. „Hab einfach deinen Spaß“, hat sie sich gesagt.

Rad am Ring: Das 24-Stunden-Rennen am Nürburgring ist eine der härtesten Herausforderungen, der sich Hobbyradsportler stellen könnenFoto: SportografRad am Ring: Das 24-Stunden-Rennen am Nürburgring ist eine der härtesten Herausforderungen, der sich Hobbyradsportler stellen können

Als das Rennen um 10.45 Uhr wegen eines Unfalls abgebrochen wird (siehe unten), ist Katrin im Flow. Auf 15 Runden kommt sie. Unter Plan, aber glücklich genug, um schon den Start 2024 zu erwähnen. Und zu berichten, was sie am Ende gespürt hat. „Als ich keinen Plan mehr hatte, hab ich gemerkt, dass ich wieder die Sachen erlebe, wegen denen ich Rad fahre“, sagt die Architektin, „die Ruhe, das Rauschen des Windes, die Musik am Rand – das war alles meditativ.“

Rad am Ring - Rennabbruch

Es war ein „Wermutstropfen“, wie Rad-am-Ring-Organisator Hanns-­Martin Fraas noch sonntags formulierte. Das 24-Stunden-Rennen endete wegen ­eines schweren Unfalls auf der Nordschleife gut zwei Stunden früher als geplant. Der auf dem Nürburgring ­stationierte Rettungshubschrauber ­benötigte freie Bahn, um einen zwischen Kallenhardt und Wehrseifen schwer verunfallten Fahrer abzutransportieren. Der Mann wurde in die ­Uni-­Klinik Bonn geflogen.

Drei Tage später meldete Fraas, es gehe dem Radsportler den Umständen entsprechend gut, bleibende Schäden ­seien nicht zu erwarten. Insgesamt verlief die 20. Ausgabe mit fast 10.000 Teilnehmenden unfallarm, acht Vorkomm­nisse zählte die Organisation. „Man merkt, dass die ­Community sehr ­umsichtig ist, auch abseits der Strecke Rücksicht nimmt und unheimlich dis­zipliniert ist“, ­bilanzierte Fraas.


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