Kristian Bauer
· 23.10.2022
Spaß ist ein dehnbarer Begriff: Vom letzten “Spaß-Ausflug” mit einem Redaktionsteam zum 24-Stunden-Rennen am Nürburgring sind mir vor allem Blutgeschmack und Reizhusten in Erinnerung. Unser neuer Versuch, Spaß zu haben, findet beim 24-Stunden-Rennen in Kelheim statt: Diesmal soll der Teamgeist im Vordergrund stehen und die Platzierung nebensächlich sein. Ob das gelingt?
Ob wir überhaupt starten? Zehn Tage vor dem Renntermin wackelt das Projekt: Corona hat zwei eingeplante Kollegen aus dem fünfköpfigen TOUR-Team gekegelt, es steht nur noch eine Rumpfmannschaft: Online-Kollegin Sandra Schuberth, 33 Jahre, bringt Erfahrung aus mehrtägigen Gravelrennen mit; TOUR-Praktikantin Alisa Rathke ist mit 22 Jahren die Jüngste und fährt ihr erstes Radrennen überhaupt. Ich dagegen bin mit 51 Jahren der Älteste im Team, dazu der Organisator - und würde als solcher am liebsten hinschmeißen: Die Suche nach Ersatzfahrern ist mühsam.
Endlich finde ich noch zwei: Martin Meindl, 48 Jahre, war 2014 Mitglied im TOUR-Jedermannteam; und TOUR-Digitalchef Stefan Loibl lässt sich überreden, direkt aus dem Urlaub zur Startlinie zu kommen. Der 35-jährige Kelheim-Veteran bringt die meiste Rennerfahrung mit: Bereits sechsmal war er in wechselnden Teams am Start und dabei immer schnell unterwegs. Alisa hingegen springt ins kalte Wasser. “Ich habe Angst, dass ihr alle viel schneller seid und ich euch ausbremse”, sagt sie mehrmals.
Wie sehr ihr Fokus auf dem Rennen liegt, fällt wenige Tage vorher auf, als wir über die Nacht in Kelheim sprechen: “Ich habe ja gar keinen Schlafsack”, stellt sie erschrocken fest. Ein 24-Stunden-Rennen ist ein riesiges Mahlwerk: Wer einmal drinsteckt, wird von vielen Rädchen erfasst und nicht mehr losgelassen, bis die Zeit abgelaufen ist. Nicht ohne Grund findet man im Netz fertige Packlisten für 24-Stunden-Rennen. In München laden wir am Renntag den Redaktionsbulli voll mit Stühlen, Wasserkanistern, Tisch, Radständer, Werkzeug, Kaffeemaschine, Kabeltrommel, Ladegeräten, Geschirr und Besteck - und vor allem ganz viel Essen und Trinken.
Das hat etwas von einem Umzug, und so verkehrt ist das Bild nicht: Für 24 Stunden beziehen wir in Kelheim unsere Renn-WG, eine angemietete Garage bei einem Bauernhof. Mit Feldbetten, Tisch und Stühlen richten wir uns ein, stellen die Fahrräder bereit und befestigen die Startnummern. Wie der Putzplan einer WG steuert bei uns ein Excel-Dokument, das Stefan von einer früheren Teilnahme mitgebracht hat, die Arbeitsteilung: In das Dokument tragen wir die Reihenfolge der Teamfahrer sowie die gefahrenen Rundenzeiten ein. Dank hinterlegter Rechenformeln wissen alle ihre nächste Startzeit. Eine entscheidende Hilfe, wenn in der Nacht der Kopf matschig wird und es einfach nicht gelingt, die Länge der Pause auszurechnen.
Um 14 Uhr fällt der Startschuss, ich gehe als Erster unseres Teams auf die erste Runde, die ich wie im Rausch erlebe: Die 16 Kilometer und 160 Höhenmeter sind schnell vorbei, und mit einem breiten Grinsen übergebe ich unseren Staffelstab - eine Trinkflasche - an Martin. Auch er genießt die Fahrt. 2007 hat er schon einmal in Kelheim Runden abgespult, aber erst jetzt erinnert er sich wieder an die Strecke. Für die ersten zwei Runden benötigen wir knapp 52 Minuten, jetzt folgt die Feuertaufe für Alisa. Sichtlich nervös geht sie auf die Runde - und kommt rund eine halbe Stunde später wie verwandelt zurück. Mit einem Grinsen stoppt sie an der Garage und wird von allen gelobt. Wie erwartet, hat sie länger gebraucht, aber der Zeitaufschlag ist minimal, und wir liegen sogar auf einem Podiumsplatz. Der ganze Druck fällt von Alisa ab, sie strahlt: “Ich habe gemerkt, dass es wirklich um den Spaß und ein cooles Wochenende geht und mir niemand das Gefühl gibt, ich bin schlechter”, sagt sie.
Die Strecke in Kelheim ist mindestens so fies wie schön - mit einem Auftakt, der das Kelheimer Rennen weit über die Radsportszene hinaus bekannt gemacht hat: Aus der Altstadt fahren die Teilnehmer zwischen Absperrgittern durchs Bierzelt. Wenige Pedalumdrehungen später stellt sich die Straße auf: Nach einer langen Gerade folgen zwei schöne Serpentinen, die im Anstieg unterhalb der Befreiungshalle kurz Luft verschaffen. Rollt man an langsamen Einzelstartern vorbei, die das Abenteuer des 24-Stunden-Rennens alleine bestreiten, fühlt man sich stark - nur um wenig später verblüfft aufzuschauen, wenn die führenden Herren-Teams in einer kleinen Gruppe wie mühelos vorbeifliegen.
Entlang der gesamten Strecke stehen immer wieder Zuschauer und klatschen fast rund um die Uhr. In der Nacht wird der Stausacker Berg zur beleuchteten Partybühne: Der DJ vom Veloclub Ratisbona ist auf eigene Initiative gekommen und treibt mit Beats und Bässen die Sportlerinnen und Sportler ohne Pause in Kelheim an. Tausende Watt aus den Musikboxen strömen durch die Ohren in die Beine und verwandeln sich in Watt auf dem Pedal. Die Energie hilft über die Kuppe unter dem Torbogen. Oben angekommen, folgt eine längere Abfahrt, bevor man ohne viele Höhenmeter zurück Richtung Kelheimer Altstadt jagt, zur Übergabe an den nächsten Teamstarter.
In unserer Garage gedeiht derweil das WG-Leben: Auf wenigen Quadratmetern wird gegessen, getrunken, geschlafen und geratscht. Im WG-Kühlschrank gibt es - unter anderem - Bier mit und ohne Alkohol; Energieriegel, Bananen und Süßigkeiten bilden die Basis der gemeinsamen Vorratskammer. Sandra serviert einen Espresso, während sich Martin für seine zurückliegende Runde mit einem Bier belohnt. Netflix gibt es nicht, aber Stefan und ich starren trotzdem auf einen Bildschirm: Die bunte Excel-Tabelle zeigt die Startzeiten für die nächsten Stunden.
Später bringt Martins Frau Pizza, die wir in unserem “Wohnzimmer” in Kelheim teilen - eine willkommene Abwechslung zu Riegeln und Süßigkeiten. Auch wenn die WG-Bewohner ganz unterschiedliche Charaktere sind, bilden wir schnell eine verschworene Gemeinschaft. Die Welt ist auf eine 16-Kilometer-Runde geschrumpft, alle Gespräche drehen sich nur noch um Windschatten, Kraftreserven, Schlafen und Essen. Während das Mahlwerk des Rennens uns im Griff hält, gibt es klare Aufgaben: verschwitzte Klamotten wechseln, trinken, essen, schlafen, pinkeln, Zähne putzen, Trinkflaschen auffüllen, Kaffee kochen, Müsli zubereiten, Licht und Handy aufladen. Die Zeit zwischen den Einsätzen ist kurz, nach einer bis eineinhalb Stunden muss man Richtung Start rollen.
Möglichst kurz ist auch die Fahrt im Wind. Das Wort “Gruppe” dominiert unsere Gespräche und fällt als erstes, wenn nach der Rückkehr gefragt wird, wie die Runde war. Mehr als drei, vier Mitradler erwischt man selten - zu sehr verteilen sich die Teamfahrer auf der Strecke, und die Einzelstarter sind zu langsam, um mit ihnen eine Gruppe zu bilden. “Die Fahrt im Mixed-Team ist genauso hart wie in der Männer-Konkurrenz, weil man nie dieselbe Gruppe hat”, meint Stefan. Die führenden Männer-Teams fahren fast durchgehend in einer Gruppe - der Druck, diese zu verlieren, ist aber groß. Die Kunst für uns besteht darin, eine Gruppe zu suchen, oder eine eigene zu bilden: Fahrer am Berg für die gemeinsame Fahrt einzusammeln, ist allemal besser, als allein über den Kurs in Kelheim zu jagen.
In unserer WG ist ein starkes Gemeinschaftsgefühl entstanden, aber dieses Gefühl findet man auch auf der Strecke wieder, wenn man sich mit Zufallsbekanntschaften die Arbeit im Wind teilt. “Ich fand es cool, wie man sich im Rennen gegenseitig hilft und Windschatten gibt. Mich hat sogar mal jemand gefragt, ob das Tempo passt”, freut sich Alisa. Nach gut 6 von 24 Stunden wird sie von allen besonders euphorisch begrüßt: “Du hast den zweiten Platz verteidigt!” Ein Lob, das sie öfter bekommt: “Nach jeder Runde hat jemand gesagt: Mega, wie du gefahren bist - das hat total motiviert.” Und das Lob bekommen die anderen Team-Mitglieder genauso - an Teamspirit mangelt es nicht.
Um die wichtigste Entscheidung drücken wir uns aber seit Stunden: Fahren wir nachts weiter Einzelrunden oder, um längere Ruhezeiten zu haben, zwei Runden am Stück? Lange zeichnet sich keine klare Präferenz ab. Ohne klare Ansage tasten wir uns langsam vor. Martin äußert vorsichtig seine Präferenz für den normalen Ein-Runden-Rhythmus, Stefan und Sandra ziehen nach, und ich verabschiede mich auch von der ursprünglichen Zwei-Runden-Idee.
Denn einen klaren Vorteil hat die Einser-Variante: Unsere Excel-Tabelle gibt einen klaren Zeitplan vor, und man muss nicht kompliziert neue Pausen- und Fahrzeiten ausrechnen. Die erste Bewährungsprobe hat unsere Renn-WG bestanden. Wie abgesprochen werden Alisa und Sandra später Runden auslassen, um etwas Schlaf zu tanken. Nächtliche Heimkehrer stören in einer normalen WG die Nachtruhe: Auch bei uns rumpelt gelegentlich jemand mit lauten Worten nach seiner nächtlichen Fahrt in die Garage - Schlafen ist nicht ganz einfach. Und die Nacht in Kelheim ist schneller vorbei als gedacht: Schon um fünf Uhr dringt Licht durchs Garagentor.
Am frühen Vormittag stellt sich bei uns ein Gefühl der Vorfreude ein: Nur noch etwas mehr als drei Stunden läuft das Rennen. Wir liegen stabil auf dem zweiten Rang und denken insgeheim schon an den Zieleinlauf. Was soll jetzt noch schiefgehen? Alisa und Sandra sitzen auf den Klappstühlen und unterhalten sich während Martin schläft. Entspannt nehme ich zwölf Minuten vor der errechneten Wechselzeit mein Rad vom Ständer, rolle Richtung Wechselzone und schalte - leider nicht. Weder Umwerfer noch Schaltwerk der Dura-Ace Di2 reagieren.
Zurück an der Garage werfe ich Alisa und Sandra ein “jetzt haben wir ein Problem!” entgegen und rüttele vergeblich an den Kabeln. Es bleibt dabei: Die Schaltung reagiert nicht. Jetzt ist schnelles Handeln gefragt, wir gehen verschiedene Optionen durch. Die sinnvollste ist ein vorgezogener Start von Martin, der gerade auf dem Feldbett schläft. Aus großen, verschlafenen Augen schaut er mich an, nachdem ich ihn geweckt habe. Sein Gesicht spiegelt die milchige Traumwelt des Tiefschlafs - nur langsam erreicht ihn der harte Arbeitsauftrag: in acht Minuten umziehen, trinken, zum Wechselzelt rollen und die Runde abreißen. Adrenalingetrieben greift er seine Sachen und rollt zum Start, um Stefan abzulösen. Kurz danach ruft Sandra den Kollegen aus der TOUR-Werkstatt an, und dessen einfacher Tipp löst das Problem mit meiner Schaltung: Stecker komplett rausziehen und wieder reinstecken. Vielleicht hatte die Fahrt über das Kopfsteinpflaster das Di2-Kabel leicht gelöst?
Um 13 Uhr zeichnet sich ab, dass wir bis Rennende noch zwei Runden schaffen und damit unseren Vorsprung ausbauen. Martin hat keinen Funken Müdigkeit mehr in seinen Beinen - im Gegenteil: Er ist voller Vorfreude auf seine letzte Runde, bei der er schließlich kurz vor 14 Uhr ins Ziel fliegt. Das ganze Bierzelt feiert ihn und die anderen Fahrer mit Applaus, die Zuschauer und Teamfahrer stehen dicht gedrängt. Martin wird im Ziel von seiner Frau und seinen Kindern begrüßt und strahlt übers ganze Gesicht: “Die Stimmung ist gewaltig - ich habe immer noch Gänsehaut”, sagt er, als er von uns abgeklatscht wird.
Nach 24 Stunden haben wir den Spagat aus Spaß und Leistung tatsächlich gemeistert - und das ohne Stress und Druck. Die Belohnung ist wenig später die gemeinsame Siegerehrung im Bierzelt, bei der wir unseren Erfolg bejubeln. “Schon cool, dass wir auf Platz zwei gelandet sind”, freut sich Sandra. Auf der großen Bühne unter dem Applaus der Zuschauer ist klar: Das Wort “Spaß” könnte kaum größer über den vergangenen 24 Stunden stehen - die WG für einen Tag und eine Nacht hat harmonisch funktioniert.
2014 stand Stefan bereits mit einem MännerTeam auf dem Podium, aber das hat er deutlich stressiger in Erinnerung: “Die Team-Atmosphäre diesmal war viel entspannter. Klar, versucht man alles zu geben, aber verbissen war es nie.” Sandra bestätigt: “Niemand hat Druck aufgebaut, und es lief harmonisch ohne lange Diskussionen.” Auch Alisa zieht ein positives Fazit: “Es ging um Spaß und ein cooles Erlebnis, und die Siegerehrung im vollen Bierzelt war das i-Tüpfelchen.” Für sie ist auch klar: Ihr erstes Radrennen wird nicht ihr letztes bleiben. Sehr gut kann sie sich einen Start in Kelheim 2023 vorstellen, auch wenn sie dafür eine neue 24-Stunden-WG finden muss.
Das 24-Stunden-Rennen von Kelheim gibt es seit 1997. Die Strecke ist seit der Premiere unverändert: Nach dem Anstieg unterhalb der Befreiungshalle ist sie überwiegend flach.
Die 16-Kilometer-Runde ist für den Gegenverkehr nicht gesperrt, man begegnet aber kaum Autos. Ein Höhepunkt ist die Fahrt durchs Bierzelt in der Altstadt von Kelheim. Der Start ist als Einzelstarter oder im Fünferteam möglich. Organisiert wird das Rennen vom RSC Kelheim, der seit 1997 aus den Startgeldern bereits 187000 Euro für wohltätige Zwecke gespendet hat. Auch das Zuschauen macht Spaß: Besonders am Sonntag kommen viele Besucher in die Innenstadt.
Termin 8./9. Juli 2023
Info: www.race-24.de