Etwas abgelegen auf dem Messegelände in Frankfurt liegt Halle 9.2. Nur wenige Besucher der weltgrößten Fahrradausstellung verirren sich dorthin. Dabei zeigt sich auf einigen Hundert Quadratmetern Fläche eindrucksvoll, welche Nation im weltweiten Fahrradmarkt längst der wichtigste Player ist.
„Changzhou Aimos“ oder „Shenzhen Highpower“ steht auf den Werbebannern. Die Messehalle ist voll mit Ausstellern aus China, die vom Komplettrad bis zu Kleinstteilen und Zubehör die komplette Klaviatur bespielen. Laut ARD-Recherchen kommen 75 Prozent der nach Deutschland importierten Fahrradrahmen aus China.
Made in Germany? Bei Zweirädern, Zubehör und Komponenten eher eine Seltenheit. Es gibt sie aber, die Hersteller mit dem schwarz-rot-goldenen Herkunftsnachweis. Vor allem die Corona-Pandemie, während der China sich durch eine restriktive Politik von der Außenwelt abgeschnitten hatte, führte in der Branche zu einem Umdenken.
Die Gründe für die Produktion in China und Asien im Allgemeinen liegen auf der Hand: In den Fabrikhallen in Shenzhen & Co. können Fahrradteile in riesigen Stückzahlen und zu kleinen Preisen produziert werden, weil Arbeitskräfte vorhanden und immer noch vergleichsweise günstig sind. Ein chinesisches Werk spuckt beispielsweise bis zu 250.000 Carbonrahmen pro Jahr aus, und auch die entstehen zum größten Teil in Handarbeit. Undenkbar in Deutschland – und in Europa.
Zwar gibt es auch hierzulande Hersteller von Carbonrahmen, mit einer industriellen Fertigung wie in Fernost ist das aber nicht ansatzweise vergleichbar. Bike Ahead Composites, einer der bekanntesten Kohlefaser-Spezialisten aus Deutschland (siehe unten), kann jährlich etwa 1000 Rahmen produzieren. Hier macht die Handarbeit den Fertigungsprozess und das Endprodukt gegenüber einem China-Rahmen allerdings deutlich teurer. Das Kuriose daran: Namhafte Hersteller wie Merida oder Specialized greifen in der Entwicklung der Räder auf deutsche Ingenieurskunst zurück, um sie anschließend in Asien fertigen zu lassen – und das in durchaus hoher Qualität.
Dass die Fahrradindustrie in China sesshaft geworden ist, liegt in erster Linie am schier unerschöpflichen Reservoir an billigen Arbeitskräften, aber auch an weniger Bürokratie und geringeren Umwelt-und Arbeitsschutzauflagen. In Deutschland angesiedelte Unternehmen stehen dagegen vor der wachsenden Herausforderung, überhaupt geeignetes Personal zu finden. SKS Germany (siehe unten) bekennt sich seit jeher zum Standort im sauerländischen Sundern, findet aber kaum Arbeitskräfte, um die Produktion von rund 1,5 Millionen Luftpumpen und 5 Millionen Schutzblechen pro Jahr zu gewährleisten. Zudem mangelt es in Deutschland an bestimmten Fertigungstechnologien, wie sich am Beispiel des bayerischen Taschenherstellers Cyclite (unten) zeigt.
Seit Corona ist allerdings nicht nur die ganze Welt eine andere, auch die deutsche Fahrradbranche stellt sich in Ansätzen neu auf und unternimmt erste Versuche, die Produktion zurückzuholen oder hier auszubauen. Speziell die unterbrochenen Lieferketten nach Asien führten zu einem Umdenken, und auch das Thema Nachhaltigkeit nimmt eine prominentere Rolle ein als noch vor einigen Jahren.
Mit kreativen Ansätzen wollen die Unternehmen einen Gegenentwurf zu chinesischen Produkten schaffen und holen Kernindustrie aus Asien ins Land: Elektronik-Spezialist Sigma aus Neustadt an der Weinstraße etwa fertigt seinen neuesten Fahrradcomputer (unten) an drei Standorten in Deutschland. Was sich (noch) nicht in Deutschland realisieren lässt, wird zudem nach Europa geholt. So entstand in Portugal eine neue Carbonrahmen-Fabrik, in der bei maximaler Auslastung immerhin rund 55.000 Rahmen pro Jahr gefertigt werden können.
Das Interview wurde geführt von Matthias Borchers
TOUR: Busch + Müller hat seinen Stammsitz in Meinerzhagen im Sauerland. Ist der Standort Deutschland ein Erfolgsmodell?
Frank Regge: Busch + Müller ist in der dritten Generation inhabergeführt, beschäftigt inklusive 50 Heimarbeitern etwa 300 Menschen in der Region und wird 2025 sein 100-jähriges Firmenjubiläum feiern. Da kann man von einem Erfolgsmodell sprechen.
TOUR: Das spricht auch für die Verbundenheit mit dem Standort. Welche Faktoren waren und sind die Basis dafür?
Frank Regge: Großen Anteil daran haben unsere Mitarbeiter, von denen die meisten aus der Region stammen. Zudem haben wir am Standort eine sehr hohe Fertigungstiefe, inklusive Werkzeug- und Formenbau. Wir sind dadurch in der Lage, von der ersten Produktidee bis zum verkaufsfertigen Produkt alles aus einer Hand zu liefern. Wir bestücken sogar unsere Platinen für die Scheinwerfer und Rücklichter selbst, in unserem Schwesterbetrieb in Wiehl.
TOUR: Hat der Standort Deutschland auch Nachteile?
Frank Regge: Einzelne Elektronikbauteile wie beispielsweise Widerstände oder Kondensatoren – wir nennen das „Vogelfutter“ – beziehen wir aus Asien, manchmal Amerika. In Deutschland oder Europa gibt es dafür keine Hersteller.
TOUR: Honorieren Händler und Kundschaft „Made in Germany“?
Frank Regge: Auf jeden Fall! Unsere Händler schätzen Busch + Müller aufgrund der Lieferfähigkeit und des technischen Supports. Und die Radler, die mit unserem Licht unterwegs sind, schätzen „Made in Germany“, wie wir aus Zuschriften und Social Media wissen.
Seit knapp fünf Jahren schlagen zwei Herzen in der Brust von Christian Gemperlein. Zwar trägt der Diplom-Ingenieur und Firmengründer von Bike Ahead Composites, einem der wenigen Carbonrahmen-Hersteller in Deutschland, ein T-Shirt mit dem Logo seines in Veitshöchheim bei Würzburg beheimateten Unternehmens. Auf der Fahrradmesse Eurobike treffen wir den Franken jedoch auf dem Messestand von Carbon Team.
Dahinter verbirgt sich ein Zusammenschluss mehrerer Hersteller, die seit Kurzem im portugiesischen Campia bei Porto im industriellen Maßstab Carbonrahmen fertigen. „Als die Anfrage kam, war es die große Chance, mein Herzensprojekt zu realisieren“, erzählt Gemperlein, der mit Bike Ahead Composites seit 2019 als Technologie-Partner fungiert und sein Know-how in die Fertigung von Carbonteilen wie Rahmen oder Laufrädern einbringt.
Seit 2011 fertigt Gemperlein mit seinem Team in Veitshöchheim Laufräder; kurz darauf kam von der Schweizer Marke Stöckli der erste Auftrag für ein Mountainbike, und vor zwei Jahren verließ der erste Rennradrahmen für Stoll Bikes die „Schmiede“ in Veitshöchheim. Rund 1000 Rahmen kann Bike Ahead Composites jährlich produzieren, in einem aufwendigen Prozess und mit höchstem Qualitätsanspruch per Hand laminiert.
Das Rahmen-Set des Stoll S1 Race (siehe TOUR 2/2023) zählt aktuell zu den leichtesten auf dem Markt. „Wir haben viele Anfragen aus dem High-End-Bereich, erreichen aber relativ schnell unsere Kapazitätsgrenze“, so Gemperlein. Neben dem manuellen und dadurch relativ langsamen Fertigungsverfahren erschwere vor allem die Mitarbeitersuche eine Produktion höherer Stückzahlen.
Doch dafür hat der Diplom-Ingenieur inzwischen sein „Herzensprojekt“. Mit dem Werk in Portugal sei ein erster Schritt unternommen, Carbonrahmen-Bau innerhalb Europas salonfähig zu machen. „Viele Hersteller suchen inzwischen nach einer Alternative zu Asien“, sagt Gemperlein. Im Werk von Carbon Team wird seit wenigen Wochen der erste Rennradrahmen gefertigt und lackiert, Simplon lässt dort den neuen Race-Allrounder Pavo herstellen.
Mit automatisierter Fertigung können künftig bis zu 55.000 Fahrradrahmen jährlich produziert werden, im kommenden Jahr sollen 18.000 Stück das Werk verlassen und an europäische Hersteller ausgeliefert werden. Zu dem Konsortium, das den Standort ermöglichte, gehört auch der portugiesische Alu-Rahmen-Hersteller Triangle’s Cycling Equipments. Zudem wurde das Projekt mit staatlichen und europäischen Fördermitteln subventioniert. Im Vergleich zu Deutschland ist es dort laut Gemperlein außerdem einfacher, Personal zu finden.
Fast vier Jahre hat es gedauert, bis der Ergonomiespezialist SQ-Lab seine Lieferkette zur Produktion von Sätteln und Sohlen in Deutschland schließen konnte. Bis auf einen schweizerischen Carbonhersteller, von dem die Sattelgestelle stammen, steuern insgesamt sieben Produzenten, die über die ganze Republik verteilt sind, die Einzelteile bei, die Endmontage erfolgt bei einem Dienstleister in Ansbach.
Der Entschluss, einen Teil der Produktion wieder nach Deutschland zu holen, sei bereits vor Corona gefallen, erklärt Entwicklungsleiter Max Holz die langwierige Suche nach geeigneten Produzenten. Insgesamt werden nun drei Sattelmodelle – wie beispielsweise der 611 Infinergy Ergowave active 2.1 Carbon (230 Euro, verfügbar voraussichtlich ab August/September 2023) – in jeweils fünf Größen hierzulande produziert, außerdem ergonomische Einlegesohlen mit unterschiedlicher Fußgewölbeunterstützung. Das Bekleidungssortiment entstehe komplett in Europa, so Max Holz weiter.
Supernova aus Gundelfingen im baden-württembergischen Breisgau präsentierte auf der Eurobike seinen ersten Dynamoscheinwerfer mit Auf- und Abblendlicht. Der M99 DY Pro ist für den Straßenverkehr zugelassen, soll ab sofort lieferbar sein und 325 Euro kosten. Der Clou an dem edlen Lichtspender ist seine Ladefunktion per USB-Anschluss, mit der sich GPS-Geräte oder Smartphones laden lassen, wenn das Licht abgeschaltet ist. Als Stromquelle reicht ein Standard-Nabendynamo, beispielsweise von Shimano, ergänzt David Gedanitz, Marketing-Chef von Supernova.
Ein kleiner Hinweis an dieser Stelle, wir haben den Dynamo-Scheinwerfer von Supernova zum Testen erhalten. Schauen Sie also mal wieder vorbei, um unsere Testergebnisse zu lesen.
Marcel Kittel und Tony Martin präsentierten auf der Eurobike ein für ehemalige Radprofis auf den ersten Blick wenig naheliegendes Produkt: Die beiden Stars stehen Pate für eine neue Kinderrad-Marke namens Li:on. Der Kopf hinter dem Projekt ist Franz Blechschmidt, der mit Kittel und Martin einst zur Schule ging und das Rad mit den beiden Ex-Profis gemeinsam entwickelte. Besonderheit des Rades ist der Rahmen, der im Spritzgussverfahren bei einem Partnerbetrieb in Süddeutschland hergestellt wird.
Das Rad mit 24-Zoll-Laufrädern ist für Kinder ab etwa sechs Jahren gedacht und soll dank eines verstellbaren Vorbaus bis zu fünf Jahre lang mitwachsen. Großen Wert legten die Entwickler auf Sichtbarkeit; neben dem reflektierenden Lack soll vor allem die Rückleuchte in beiden Hinterbaustreben dazu beitragen, dass Kinder im Straßenverkehr nicht übersehen werden. Die Auslieferung soll im Frühjahr 2024 beginnen, zu Preisen ab 829 Euro. Vertrieben werden die Pedal-Löwen über den Fachhandel und direkt über das in Erfurt beheimatete Unternehmen li:on bikes.
Robin Schemdel (Chief of Product) und Daniel Conka (Senior Product Manager) haben es geschafft: Sigmas neuer Radcomputer ROX 12.1 EVO wird in Deutschland produziert. Genauer gesagt, werden hierzulande die Platinen mit Elektronikbauteilen bestückt und verlötet sowie das Gehäuse wasser- und staubdicht montiert.
Das geschieht in Bayern bei sogenannten EMS (Electronic Manufacturing Services), während die abschließende Qualitätskontrolle und Verpackung am Firmensitz in Neustadt an der Weinstraße vorgenommen wird, wo der GPS-Computer entwickelt wurde. Schemdel und Conka sind froh, dass ihr unternehmerischer Mut und die Entscheidung für eine kurze Lieferkette in Deutschland belohnt wird. Die Umsetzung hat vier Jahre gedauert, das Basismodell des ROX 12.1 EVO wird 380 Euro kosten.
Der Zubehörhersteller SKS blickt auf eine mehr als 100-jährige Firmengeschichte zurück – und wäre das runde Jubiläum nicht ausgerechnet in das Corona-Jahr 2021 gefallen, hätte es am Firmensitz ein rauschendes Fest gegeben. Der Firmenname setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben des Nachnamens seines Gründers Karl Scheffer-Klute und des Ortsnamens Sundern. 650 Mitarbeiter an drei Standorten im Sauerland beschäftigt der Zubehörspezialist heute – und hätte gerne noch mehr. „Wir haben überall Flyer zur Mitarbeitersuche ausgelegt, auch im Dönerladen“, erzählt Vertriebsleiter Marcel Spork.
Wie viele in der Branche sucht auch der Mittelständler aus dem Sauerland, der nach eigenen Angaben 5 Millionen Schutzbleche und 1,5 Millionen Pumpen pro Jahr produziert, ständig nach Mitarbeitern. Gut ausgebildetes Personal sowie die Fertigungstiefe von der Produktidee und Konstruktion über Werkzeugbau und Produktion bis zu Montage und Verpackung seien der Schlüssel zum Markterfolg, so Spork: „Wir können schnell reagieren, weil wir alles selbst machen.“ Selbst während Corona sei man aufgrund der geschlossenen Lieferkette und der geringen Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern immer lieferfähig gewesen. „Wir sind in der Lage, für einen 40 Jahre alten Rennkompressor passende Ersatzteile wie eine Dichtung oder ein Messingventil zu liefern!“, wirbt Spork für den Standort mit Tradition.
„Wir sind mit dem Anspruch gestartet, leicht zu sein.“ So fasst Christoph Kirsch, neben Max Barnsteiner einer der beiden Gründer des Taschenherstellers Cyclite, die Motivation zusammen, warum die begeisterten Biker jetzt Fahrradtaschen verkaufen. Kirsch und Barnsteiner fahren Rennrad, Gravel- und Mountainbike und ärgerten sich immer wieder über das hohe Gewicht von Radtaschen. „Ein Rennrad ist leicht, also müssen die Taschen auch leicht sein“, fasst Kirsch den Kern ihrer Firmenphilosophie zusammen; die notwendige Erfahrung und das Know-how hatten die beiden Gründer zuvor in der Outdoorbranche gesammelt.
Am Firmensitz in Grassau am Chiemsee werden die neuen Produkte entwickelt und ausprobiert, das Material stammt aus Taiwan, geschweißt werden die Taschen in China, da es die verwendeten wasserdichten Laminate weder in Deutschland noch in Europa gibt und auch keine Dienstleister, die das hauchdünne Material präzise schweißen können. „Die Custom-Rahmentasche wird in Halle an der Saale produziert, aber das ist eine Maßanfertigung, die genäht und getapt wird.“ Auf die Frage, ob es heute noch zeitgemäß ist, ein Unternehmen auf der Basis von Produktionsbeziehungen nach Fernost zu gründen, antwortet Kirsch: „Als junge deutsche Firma finden wir, dass es Sinn macht, in einer arbeitsteiligen Welt Menschen im Ausland ein Auskommen zu ermöglichen.“
Bei der VSF Fahrradmanufaktur denkt man bislang eher an Alltags- und Trekkingräder mit Stahlrahmen als an hochgezüchtete Sportgeräte. Nach dem großen Erfolg eines Gravelbikes, das als Versuchsballon vor zwei Jahren in limitierter Stückzahl angeboten wurde, steigt die Marke nun ernsthaft in die Produktion sportlicher Räder ein. Auf der Eurobike präsentierten die Oldenburger die GX-Reihe mit einem Großserien-Stahlrahmen aus Asien. Der Rahmen bietet eine recht komfortable Sitzposition und verfügt über etliche Befestigungsmöglichkeiten für Schutzbleche, Gepäckträger und Zubehör.
Das Modell GX-500 kommt mit Aluminiumgabel und mechanischer SRAM-Apex- 1x12-Schaltung für 2399 Euro; das nobler ausgestattete GX-900 mit Carbongabel und Campagnolos Ekar mit 13 Gängen kostet knapp 5000 Euro. Flaggschiff ist das GX-1600: Der aufwendig gemachte Rahmen mit abgeflachtem Oberrohr und auffälligem Sitzknoten wird von einem süddeutschen Rahmenbauer handgefertigt. Ausgestattet mit einer SRAM-Red-Gruppe und etlichen Leichtteilen aus Carbon von Schmolke soll das Rad deutlich unter neun Kilo wiegen. Wer sich dafür interessiert, braucht Zeit und Geld: Bestellungen nehmen VSF-Händler entgegen, der Preis soll 16.000 Euro betragen.