Tortour GravelZwischen Genuss und Grenzerfahrung

Jens Vögele

 · 25.06.2023

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Foto: Jens Vögele
Impressionen von der Tortour Gravel
Die “Tortour” ist ein Begriff unter Extrem-Rennradsportlern. Seit sieben Jahren allerdings strecken die Veranstalter ihre Fühler auch in die Gravel-Szene aus. Mit der Tortour Gravel haben sie ein Event zwischen Genuss und Grenzerfahrung kreiert.

Tortour Gravel - 1000 Kilometer, 13000 Höhenmeter

Die Sonne wärmt den fast märchenhaft liegenden Zürichberg, wo Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen den Ausblick auf die Stadt, den See und die naheliegenden Alpen genießen. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein – bei gut und gerne 25 Grad am letzten Wochenende im Oktober. “Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir vor ein paar Jahren unsere Räder eine Dreiviertelstunde durch den Schnee schieben mussten”, erzählt einer, der ­seinen Kopf genüsslich in die Sonne reckt.

David Tschenett aus Winterthur kennt dieses Event schon von Anfang an: die Tortour Gravel, die auf einem Prolog und zwei Etappen gut 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf Schotter-, Wald- und Wiesenwegen zum Wettkampf antreten lässt.

David Tschenett kennt die Tortour Gravel von Beginn an und hat schon alle Wetter erlebtFoto: Jens VögeleDavid Tschenett kennt die Tortour Gravel von Beginn an und hat schon alle Wetter erlebt

Eigentlich kennt man die Tortour aus der hammerharten Ultra-Szene, die sich jeden Sommer in der Schweiz trifft, um das Land auf einer extrem anspruchsvollen Strecke von rund 1000 Kilometern und 13000 Höhenmetern zu umrunden. Die Gravel-Tortour dagegen trägt dem Trend Rechnung, dass immer mehr Menschen mit offroad-tauglichen Rennrädern abseits der Straße fahren – und dabei grundsätzlich entspannter unterwegs sein wollen, als diejenigen, die auf schmalen Reifen über den ­Asphalt hetzen.

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Drei traumhafte Sommertage mitten im Herbst ­führen die Gravel-Tortour 2022 durch Wälder und ­Wiesen rund um Zürich. Wirklich traumhaft ist die Stimmung allerdings nur vor dem Start. Schon beim Prolog geht’s ordentlich zur Sache – und das, obwohl die Veranstalter sich bewusst gegen eine Zeitnahme auf den 20 Kilometern des ersten Tages entschieden haben.

Die Tortour Gravel von einer schönen SeiteFoto: Jens VögeleDie Tortour Gravel von einer schönen Seite

Gemeinschaftsgefühl Gravel

Die Teilnehmer sollen sich kennen lernen – das Gemeinschaftsgefühl ist in der Gravel-Community ein hohes Gut. “Kaum jemand trägt hier ’ne Baggy”, stellen etwa Nadine Stecher und Patrick Gall schnell fest, fast alle sind in enganliegendem Renndress gekleidet. Unterwegs ist angesichts des sportlichen Tempos an einen lockeren Plausch zum Kennenlernen nur selten zu denken.

Nadine Stecher und Patrick Gall schätzen den sportlichen Wettstreit unter GleichgesinntenFoto: Jens VögeleNadine Stecher und Patrick Gall schätzen den sportlichen Wettstreit unter Gleichgesinnten

Für Nadine und ihren Partner Patrick wird da schon klar: Hier geht’s ziemlich sportlich zur Sache. Das trifft genau den Geschmack der beiden, die normalerweise am Rande des Nordschwarzwalds ihre Trainingsrunden drehen. Patrick ist so etwas wie ein Mountainbike-Urgestein, besuchte schon vor 30 Jahren das Gardasee-Festival und liebt Radfahren in all seinen Facetten.

Ob Cape Epic oder Ötztaler Radmarathon – “Ich bin eigentlich alles schon ­gefahren”, berichtet er nicht ohne Stolz. Partnerin Nadine dagegen kam erst während Corona zum Radfahren, hat dann aber ziemlich schnell ziemlich viel Druck auf dem Pedal entwickelt, was sich vor allem am nächsten Tag als überaus hilfreich erweisen wird.

Tortour Gravel - Attraktiv für Racer und Genießer

Die nackten Zahlen der ersten Etappe sind nicht furchteinflößend. 90 Kilometer, 1900 Höhenmeter. Keine Kleinigkeit. Aber wirklich eine Tortur? “Go West”, so lautet das Motto hoch oben über Zürich. Während sich in direkter Nachbarschaft – am Hauptsitz der FIFA – sinnbildlich die dunklen ­Wolken der Katar-WM zusammenziehen – kann die Gravel-Gemeinde in einen völlig ungetrübten Sonnenaufgang vor spektakulärem Panorama starten.

Mystische Stimmung bei der Tortour GravelFoto: Jens VögeleMystische Stimmung bei der Tortour Gravel

Unten im Tal dagegen hängt noch der zähe Nebel, durch den sich nur wenig später die schnellen Gruppen kämpfen, in die sich auch der siebenmalige Schweizer Tour-de-France-Teilnehmer Martin Elmiger einreiht. Die Sonne frisst sich immer weiter durch die dichte Suppe, während sich in dieser atemberaubenden Stimmung weiter hinten das Feld immer mehr in die Länge zieht.



Samuele di Lernia lässt dort – als einer der wenigen mit einer goldenen Startnummer – gut gelaunt die Kurbel kreisen. Gold, das ist als Neuigkeit in diesem Jahr die Farbe der Enduro-Kategorie, in der es – mit Ausnahme eines kurzen Sprints auf beiden Etappen – keine Zeitmessung gibt.

Die Tortour Gravel soll für Hobby- und Genussfahrer attraktiv seinFoto: Jens VögeleDie Tortour Gravel soll für Hobby- und Genussfahrer attraktiv sein

Die Marke Tortour, so erklärt Felix Evers die Einführung der neuen Kategorie, spreche grundsätzlich eine sehr spitze und sportliche Zielgruppe an: “Mit der Enduro-Idee wollen wir uns perspek­tivisch breiter aufstellen”, sagt der Brand-Manager des Veranstalters: “Wir haben mit Ex-Profis und Voll­blut-Amateuren einerseits ein extrem hohes sportliches Niveau, wollen aber genauso für Hobby- und Ge­nuss­fahrer attraktiv sein.”

Die Anstrengung ist den Teilnehmern ins Gesicht geschriebenFoto: Jens VögeleDie Anstrengung ist den Teilnehmern ins Gesicht geschrieben

Bei Samuele di Lernia trifft er damit voll ins Schwarze: “Ich habe mich angemeldet, weil ich die Tage genießen wollte”, sagt der Lokalmatador und fügt augenzwinkernd hinzu: “Allerdings habe ich unterwegs nicht so viele Genießer getroffen.”

Der Spaß steht im Vordergrund

Oliver Bishop und Euan Ramsay überzeugt die Enduro-Kategorie ebenso: “Für uns ergibt es wenig Sinn, Rennen auf einer nicht komplett abgesperrten Route zu fahren”, erklären der Schweizer und der Brite, die zwar flott, aber dennoch ohne übertriebenen Ehrgeiz als Zweier-Team unterwegs sind.

Das Risiko, im Wald im Renntempo mit Fußgängern, Hunden oder Reitern in Konflikt zu kommen, wollen die beiden nicht eingehen. Stattdessen pflegen sie ihre Freundschaft. “Wir sind die meiste Zeit nebeneinander gefahren”, erzählen sie. Und das sei für sie, neben der abwechslungs- und ausblickreichen Streckenführung, das schönste Erlebnis während der drei Tortour-Tage gewesen.

Damit treffen sie genau dieses Lebensgefühl, das so viele aus der Gravel-Szene unterstreichen. Rein in die Natur. Weg vom Verkehr. Mehr Erlebnis, weniger Ergebnis. Diese Schlagworte hört man immer wieder von den Rennradfahrern auf den breiten Reifen. “Es ist eine andere Art, Rad zu fahren”, sagt auch Andrea Gallo, die zusammen mit Guido Küng in der Mixed-Wertung fährt.

Das Schöne am Graveln ist, dass du sofort siehst, ob jemand fahrtechnisch was drauf hat oder nicht. (Katharina Seidel)

Eigentlich kommen sie vom Triathlon, aber trotzdem steht für sie eindeutig der Spaß an der Bewegung im Vordergrund: “Das sind ja keine Olympischen Spiele hier”, stellen sie unisono fest. Vielmehr komme es auch auf Koordination und Geschick an. Und darauf, keine Angst zu haben, durch den Matsch zu fahren.

Koordination und Geschick ist gefragtFoto: Jens VögeleKoordination und Geschick ist gefragt

Trotz der warmen und trockenen Bedingungen hat sich nämlich in den Tagen vor der Tortour Gravel so manche Pfütze angestaut. Insbesondere rund um Kloten, wo ein Flugzeug nach dem anderen unter ohrenbetäubendem Lärm direkt über der Rennstrecke den Flughafen anfliegt, zeigt die Strecke ihre Tücken. Das Feld zieht sich extrem auseinander – die Fahrt durch teilweise tiefen Schlamm und über rutschiges Gras erweist sich für viele als kräftezehrender Balanceakt.

Matsch ist für viele ein kräftezehrender BalanceaktFoto: Jens VögeleMatsch ist für viele ein kräftezehrender Balanceakt

Strahlend auf dem Treppchen

“Das Schöne am Graveln ist, dass du sofort siehst, ob jemand fahrtechnisch was drauf hat oder nicht”, sagt Katharina Seidel, die in der Französischen Schweiz lebt und sich der Gruppe Lausanne-Gravel angeschlossen hat. Gemeinsam nehmen sie in ihrer Wahlheimat anspruchsvolle Touren unter die Räder und wollen sich diesmal den Extra-Kick eines Rennens gönnen. Mit beachtlichem Erfolg. Katharina fährt am Ende der beiden Tage, nach einer deutlich rhythmischeren und etwas kürzeren zweiten Go-East-Etappe, auf Platz zwei – und steht strahlend auf dem Treppchen, auf dem ausschließlich Lausanne-Gravel-Trikots zu sehen sind.

Katharina landet am Ende des Rennens auf dem TreppchenFoto: Jens VögeleKatharina landet am Ende des Rennens auf dem Treppchen

Auch David Tschenett gehört solch einer Gravel-­Gruppe an – den Hill’s Angels. “Jeder kann kommen und mit uns fahren”, beschreibt er die Atmosphäre dort, die äußerst offen und sehr cool sei. Während David sich diesmal nicht ganz so austrainiert durch die Tortour-Strecken kämpft, gibt sein Team-Kollege Andreas Fröhlich dagegen deutlich mehr Gas und landet auf Platz 11 bei den Männern.

“Hills Angels” bei der Tortour GravelFoto: Jens Vögele“Hills Angels” bei der Tortour Gravel

Entspannt, cool, trotzdem sportlich: Es ist diese Bandbreite, die der Gravel-Szene ihre Faszination verleiht. Selbst einem sportlich positionierten Event wie der Tortour Gravel gelingt der Spagat zwischen Höchstleistung und Genuss. “Graveln ist einfach cool”, sagt David dazu: “Du kannst Gas geben, wenn es dir gutgeht. Und wenn es dir nicht gutgeht, dann gibst du eben kein Gas.”

Wahrscheinlich ist es genau diese Leichtigkeit und Lockerheit, die das Graveln in den vergangenen Jahren so beliebt gemacht hat. Wie schön es sein kann, ­demonstrieren diese Tage in und um Zürich eindrucksvoll. Und das, obwohl sie eigentlich fast zu schön sind, um wahr zu sein.

Schöne Atmosphäre, bei der Tortour GravelFoto: Jens VögeleSchöne Atmosphäre, bei der Tortour Gravel

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