Tim Farin
· 25.01.2023
Die belgische Region Flandern ist das Herzland des Querfeldeinsports, auch die Jedermannszene ist groß und bunt und bietet unzählige Startmöglichkeiten. Unser Autor hat sich an sein erstes flämisches Cyclocross-Rennen gewagt.
Die Siegerehrung drinnen wird noch eine ganze Weile dauern, denn das Bier fließt und die Stimmung ist gut. Im Sportzentrum sitzen vielleicht 150 Menschen. Ich packe meine Wasserwaage ein, meinen Beutel mit der Kleidung und mein Rad. Man könnte noch bleiben, unter Neonröhren, auf Stühlen mit rostbraunen Lehnen, im steinernen Ambiente aus grauem Beton, grauen Steinen, kahlen Wänden und großen Fensterfronten, hinter denen der eben noch sattgrüne Sportplatz längst nicht mehr zu sehen ist.
Ein Name nach dem nächsten dröhnt durch die Boxen, auf dem Podium freuen sich die Sieger der Altersklassen über eine besondere Ehre: Sie ziehen Trikots in Schwarz-Gelb-Rot über, die Trikolore ihres Heimatlandes. Und ich ziehe von dannen, mit Wasserwaage und sehr guter Laune.
Es ist der zweite Sonntag im November, die Hochsaison im Querfeldein-Radsport hat begonnen. Es ist mein erstes Crossrennen seit langer Zeit, vor allem aber ist es mein erstes Gastspiel bei einem Wettbewerb im Epizentrum dieser dynamischen Disziplin. Ich hatte Glück beim Termin: An diesem Renntag stehen im flämischen Aalter, einer Kleinstadt zwischen Gent und Brügge, die Belgischen Meisterschaftsrennen im Radcross an. Über Umwege hatte ich einen Sportler auf Facebook ausfindig gemacht, der sich später als Chef der Veranstaltung herausstellt. “Alle sind willkommen!”, meinte er.
Und so setze ich mich ins Auto und fahre von Köln ins flache grüne Land kurz vor der Nordseeküste, um als einziger Deutscher an diesem Wettkampf teilzunehmen. Natürlich starte ich nicht bei der Meisterschaft des belgischen Radsportverbands, sondern bei den Titelkämpfen einer Jedermann-Organisation. Eine Chance auf das Meistertrikot habe ich allerdings nicht, dafür müsste ich Belgier sein.
Wer schon einmal bei einem belgischen Profi-Crossrennen zugeschaut hat, kennt die einzigartige Atmosphäre. Es ist eine Welt aus Gras, Schlamm, Sand, mit Wind und Wetter, Gummistiefeln, Sekt aus Plastikflöten und Pommes frites. Es ist eine raue Welt, und ihre Ureinwohner grölen, wenn blasse Bubis mit schlammbespritzten Wangen über holprige Wege brettern.
Nach dieser Erfahrung sehnen sich auch Jedermänner: Einmal über schmale Wege rasen, über Hindernisse springen und Treppen hinaufsprinten. Einmal in diesem Ambiente alles geben. Bei den Rennen der Organisation LRC geht das in den kühlen Monaten nicht nur einmal, sondern zwanzigmal oder öfter pro Saison.
LRC steht für Landelijke Recreative Crossers, also: Ländliche Freizeit-Crosser. Fabien Hanssens, mit dem ich zuvor telefoniert hatte, ist amtierender LRC-Präsident, von Beruf Wartungsmanager einer Firma für Textil- und Webmaschinen. Er sagt: “Wir versuchen, für sehr wenig Geld ein großartiges Sporterlebnis zu bieten. Das hier ist Familie, alle sind hier.”
Es ist tatsächlich überraschend, wie viele Menschen in Aalter sind. Im kalten Nebel des Sonntagmorgens sieht es so ähnlich aus wie am Rande der größeren Profirennen: Auf den Parkplätzen stehen Camper, Transporter und Anhänger, dazwischen flattert Signalband, es stehen Rollentrainer bereit, Fahrräder auf Ständern, Hochdruckreiniger und Wasserkanister.
Vor dem modernen Sportzentrum der Stadt und auf den Parkplätzen in der Nähe ist bereits alles besetzt. Wer vorher nur die etwas antiquiert wirkende Website des LRC besucht hat, kann hier schon staunen. Es ist ein richtiges Sportfest, und der lokale Veranstalter Gorik De Dobbelaere sowie seine 40 Mitarbeiter werden im Tagesverlauf mehr als 2000 Besucher an der Strecke und im Forum des Sportzentrums bewirten. “Wir müssen gar nicht viel Werbung machen, die Leute kommen sowieso”, sagt LRC-Chef Hanssens, “wir brauchen sie nicht zu locken.”
Als ich das alles sehe, spüre ich Ehrfurcht und Nervosität. Ich könnte Ausreden vorbringen, mein Crosser ist neu, meine Form nach einigen Infekten in jüngster Zeit desaströs, aber ich habe gar nicht so sehr Angst vor dem letzten Platz. Ich habe Angst davor, hier völlig überfordert zu sein als Fremder in einer Welt, in der die Fahrerinnen und Fahrer sowie ihre Begleiter jeden flämischen Rundkurs, jede matschige Kurve und jeden passenden Reifendruck auswendig kennen.
Ich drehe erst ’mal eine Runde auf dem Parcours, vor den Nachwuchsrennen ab 12.30 Uhr können das alle tun. In Zivilkleidung, aber mit Radschuhen, rolle ich behutsam über die Strecke, vorbei an Fußballplätzen, durch einen Sandkasten, eine Böschung an der Autobahn entlang und schließlich in die Haarnadeln beim Ziel. Schon nach der Proberunde tropft mir der Schweiß von der Stirn, dann gehe ich zur Einschreibung. Ein Papierformular reicht für die Tageslizenz, dazu Personalausweis und 20 Euro Startgeld - fünf davon bekomme ich später wieder, wenn ich meine Startnummer 100 zurückgebe.
In der Hand halte ich auch einen Papierbon, auf dem etwas von einem Naturalienpreis steht. LRC-Chef Hanssens erklärt mir, dass ich wie alle anderen Kinder, Frauen und Männer im Ziel den Bon einlösen darf. “Es gibt Geschenke für alle”, sagt er, “es geht gar nicht so sehr um den Platz, sondern ums Teilnehmen.” Diese Worte sollen mir Mut machen, doch andererseits ist Hanssens, ein Routinier im Feld, selbst froh, wenn er irgendwo in der Mitte landet. “Das Niveau ist immer besser geworden”, sagt er. So stieg der neue Europameister in der U23, Emiel Verstrynge, von LRC-Rennen in die Weltspitze auf. “Ganz vorne ist es verrückt”, sagt der LRC-Chef, “da sind Leute, die für die Rennen leben.”
Das senkt nicht gerade meinen Respekt vor der sportlichen Prüfung. Während nacheinander die Unter-Achtjährigen, dann die Neun- bis Elfjährigen und dann die Zwölf- bis Vierzehnjährigen über die Rennstrecke fahren, zum Teil begleitet von ihren nebenher laufenden Eltern, gehe ich zurück zum Auto. Ich wechsele in Rennkleidung, und auf dem Weg zurück zum Sportgelände passiere ich eine gesellige Runde neben einem Neunsitzer. Hier haben drei Generationen einer Familie Platz genommen, Oma Chantal erzählt, dass ihr Enkel Bruce eben mitgefahren ist. Der Siebenjährige hat dieses Jahr angefangen mit den LRC-Rennen, und die Familie macht aus den Wettkämpfen ein Fest. Sie essen, sie trinken Sekt, Bier und Limo, sie plaudern auf ihren Campingstühlen.
Ein paar Meter weiter, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, geht es konzentrierter zu. Die 15 Jahre junge Hannah De Keyser sitzt mit ohrumschließenden Kopfhörern auf der Rolle, ihr Vater Sven vor dem geöffneten Transportanhänger, Oma Ingrid sitzt still lächelnd daneben. “Ich mache das jedes Wochenende”, sagt Hannah, nachdem der Vater ihr die Kopfhörer zurückgezogen hat. Ob es auch um Geld gehe?
Der Vater macht ein Zeichen mit den Fingern, das heißen soll: Ich zahle für das Hobby. Aber offenbar tut er das gern, er hat Hannah in den Sport gezogen, weist auf ihre Facebook-Fanpage hin. “Ja”, sagt die Jugendliche auf die Frage, ob sie Cross-Profi werden wolle. Anderthalb Stunden später wird Hannah erschöpft im Gras hinter der Ziellinie liegen - totale Verausgabung für Platz sechs im Rennen der Frauen unter 25 Jahren.
Hannah De Keyser wird eine Wasserwaage bekommen, so wie der 73 Jahre alte Johan De Smet aus Adegem. Früher startete er bei jedem LRC-Rennen, jetzt zum ersten Mal wieder nach Corona. Auch ich werde später eine Wasserwaage in der Hand halten, ein Geschenk, das alle Teilnehmer bekommen. Aber vorher muss ich auf den Kurs, kurz vor Hannah bin ich dran - und verpasse fast meinen Einsatz. Man muss sich schon ein bisschen auskennen. Ich fahre meine Aufwärmrunden bei inzwischen bestem Altweibersommer-Wetter.
Die erste ist noch nicht ganz nach meinem Geschmack, also fahre ich wie so viele andere noch eine. Vergesse, auf die Uhr zu schauen. Da sehe ich einen Knubbel Menschen, eng gedrängt im Feld. Das sieht aus wie der Start. Ich gehe vor, da ruft jemand, dass es losgeht. Der Mann sagt, ich solle unter einer Reling durch, ganz hinten in den Knubbel aus Fahrern mit meiner Startfarbe.
So stehe ich zwar ganz hinten, aber immerhin noch in meiner Kategorie. Ich komme auch nicht gleich in die Pedale, verliere beim Start locker zwanzig Meter, die ich aber bis zur ersten Kurve wieder aufhole. Ein harter Start, gefolgt von einem der wenigen gelungenen Überholmanöver des Tages in meinem Rennen.
In meiner Kategorie D, geöffnet für Teilnehmer der Jahrgänge 1967 bis 1976, stehen 39 Männer mit weißen Nummern am Start. Dass es um etwas geht, ist schnell klar. Ich sehe die Spitze davonrauschen, ich versuche, der Linie der Männer vor mir zu folgen, doch es geht hier nur noch ums Anschlusshalten. Ein Magendarmvirus zum Wochenbeginn hat mich sicher zusätzlich Kraft gekostet, sodass ich eigentlich nur ans Durchkommen denke - ohne mich dabei vor den Augen des eingefleischten Cross-Publikums zu blamieren, in den 90-Grad-Kurven oder beim Sprung zurück aufs Rad nach den Hindernissen.
Das Rennen kommt mir lang vor. Angesetzt sind 35 Minuten, das Kampfgericht lässt sechs Runden zu, sodass ich 36:39 Minuten unterwegs bin. Für einen Schnitt von 20 Stundenkilometern fühle ich mich hinterher recht platt, vor allem am Ende der zweiten Runde und ganz zum Schluss fehlt mir an den Hindernissen die Kraft. Einmal rutsche ich an einem Hindernis beim Wiederaufsatteln ab und schlage mit dem rechten Oberschenkel unangenehm an, kann aber einen Sturz oder eine größere Peinlichkeit vermeiden. Die fehlende Technik kostet Zeit, das merke ich an jeder anspruchsvollen Passage. Ich füge mich.
Ich versuche, so sauber wie möglich durchzufahren, setze nicht auf Kraft, überrunde Teilnehmerinnen der anderen Kategorien und werde erst überrundet, als die Kuhglocke im Ziel die vorletzte Durchfahrt signalisiert. Standesgemäß zieht der Belgische Meister an mir vorbei und es dauert mehrere Hundert Meter, bis die nächsten Konkurrenten eine Runde auf mich gewinnen. Damit kann ich leben.
Im Ziel brennt mir die Lunge, mein Gesicht ist rot, ich bleibe neben dem erfolgreichen Titelverteidiger stehen. Dass ich auf Platz 33 von 39 lande, werde ich erst am nächsten Tag lesen und damit sehr zufrieden sein. Das Rennen sei schnell und tough gewesen, sagt der durchtrainierte, drahtige 52-Jährige aus Ypern, neben dem ich mir vorkomme wie eine Tonne. “Ich habe mich abgesetzt und konnte mich in der letzten Runde schon erholen”, sagt Bart Pattyn, der auch schon die Europameisterschaft des LRC gewonnen hat.
Nach unserem Schulterklopfer im Ziel geht noch das Top-Feld ins Rennen, das sportliche Niveau ist erheblich, ebenso die Begeisterung vor der Bratwurst- und Burgerbude. Die Sonne sinkt hinter die hohen Bäume vor der Lärmschutzmauer der Autobahn, schöner kann Herbststimmung nicht sein, und der Renntag endet gleich im Sportzentrum.
Ich kaufe mir für einen Bon ein Bier, Wert zwei Euro, für Bratwurst und Burger wären zwei Bons fällig. Neben der Tombola holen die letzten Finisher ihre Preise ab, eine Wasserwaage. Die Dame am Stand ist schon seit dem Morgen im Dienst, gleich packt sie zusammen. Die restlichen Fahrer, Familien mit Kindern, Opa und Oma sitzen noch unter den Neonröhren, trinken blondes Bier und Pils, während junge Frauen und ältere Herren auf der Bühne in ihre Belgischen Meistertrikots schlüpfen. Nur noch zwei Wochen bis zur WM.
Die Rennserie des Jedermannverbandes “Landelijke Recreative Crossers” (LRC) läuft in der Saison 2022/23 noch bis mindestens 4. Februar 2023; für Anfang März ist noch ein Wettbewerb in Vorbereitung. Mit einer Tageslizenz können Hobbyfahrer aus Deutschland (versichert und mit Startnummer) für 15 Euro plus 5 Euro Pfand für die Nummer starten; eine Saisonlizenz, mit der man an der Gesamtwertung teilnehmen kann, kostet 45 Euro. Für die Qualifikation zum Start bei WM und EM gibt es eine Mindestanzahl an LRC-Rennen, die die Teilnehmer gefahren sein müssen.