Text: Stefan Wolf
Sommerzeit ist Radfahrzeit! So fand sich auch dieses Jahr unsere bewährte Truppe – fünf Männer und eine Frau – zu einem Abenteuer zusammen. Waren wir im vergangenen Jahr vom Atlantik zum Mittelmeer durch die Pyrenäen pedaliert, so sollten es diesmal die Alpen sein. Aber eben nicht einfach nur drüber. Sondern der Länge nach, in West-Ost-Richtung, genauer gesagt, von Konstanz nach Triest, rund tausend Kilometer und 18.000 Höhenmeter in neun Tagen. Und weil man als Rennradfahrer ungern Gepäck auf dem Rücken hat, gönnten wir uns, wie im vergangenen Jahr, einen Kleinbus als Begleitfahrzeug, der immer abwechselnd, halbtageweise von einem von uns gefahren wurde.
Los ging’s bei perfektem Wetter morgens um acht Uhr in Konstanz – und dann gleich über die Schweizer Grenze. Vorbei an Kreuzlingen und auf kleinen, gut asphaltierten Sträßchen nach Rapperswil, über den Seedamm des Zürichsee nach Pfäffikon und weiter über Schwyz zum Vierwaldstätter See und zur ersten kleinen „Bergprüfung“, dem Sattelpass. Mit 930 Metern nicht wirklich hoch und deshalb gut zur Eingewöhnung. Endpunkt des ersten Tages war dann Altdorf, wo sich laut Überlieferung die Geschichte um Wilhelm Tell abgespielt haben soll.
Der St. Gotthard-Pass auf 2.091 Meter mit Auffahrt über die Nordrampe von Andermatt aus bildet die erste alpine Herausforderung. Oben wartet der Bus mit der Mittagsverpflegung: Brot, Käse, geschnippeltes Gemüse und Obst. Zur Abkühlung ein Sprung in den Gipfelsee … und weiter geht’s. Diesmal abwärts über 14 Kilometer m durch das Val Tremola nach Airolo, sehr malerisch, und weiter nach Roveredo in Graubünden, in der Nähe von Bellinzona. In der Nacht entlädt sich ein heftiges Gewitter mit Starkregen, doch am Morgen ist alles wieder klar und sonnig.
Wir starten heute bei radelfreundlichen 18 Grad und nehmen Kurs auf den San-Bernadino-Pass, 2.065 Meter hoch. Wir bewegen uns aus dem fast mediterranen Tessin über viele Aufstiegskilometer durch verschiedenste Landschaftsformen bis auf die Passhöhe, wo wir uns in rauer und felsiger Hochgebirgslandschaft wiederfinden – der Kontrast könnte nicht größer sein! Nun aber auch die erste Radpanne, leider. Dem Schreiber dieser Zeilen fällt plötzlich aus unerfindlichen Gründen die linke Tretkurbel ab – dafür braucht man Spezialwerkzeug! Und wieder bewährt sich unser Bus: Kurzer Anruf, das defekte Rad eingeladen, Fahrerwechsel. Der eigentlich eingeteilte Fahrer kommt in den (unerwarteten) Genuss von 1.000 Höhenmetern, der andere sucht (und findet) auf der anderen Passseite, in Thusis, einen kompetenten Schrauber, der alles wieder heile macht. Die Gruppe genießt unterdessen eine traumhafte, lange Abfahrt und bewundert unter anderem die sagenhafte Via-Mala-Schlucht. Abends treffen wir uns alle wider im Quartier im Engadiner Dorf Filisur.
Unser Pässehunger ist geweckt: Heute fahren wir – unter anderem – über den Albulapass, 2.615 Meter hoch. Ein Pass wie aus dem Bilderbuch! Wenig Verkehr, von Preda aus wird die Schmalspurbahn durch den Albulatunnel geführt. Die Züge der Rhätischen Bahn zeigen sich uns während der Auffahrt mit dem Rad immer wieder auf den kühn angelegten Viadukten. So ist diese Bahnlinie auch als UNESCO-Weltkulturerbe eingetragen. Oben, nach 23 Kilometern Auffahrt ab Filisur, gibt es dann einen Cappuccino – und auf der Café-Terrasse eine besondere Begegnung: Ein rüstiger älterer Herr aus der Schweiz setzt sich an unserem Tisch, trinkt Tee und isst sein Nuss-Kipferl. Er erzählt, er sei mit dem E-Bike durch die Schweizer Bergwelt unterwegs, übernachte spontan und habe sein Gepäck in den Satteltaschen dabei. Auf unsere Frage, ob er das allein mache und wie alt er denn sei, kommt die Antwort: „Ich bin jetzt 87…. und habe doch keinen mehr, der mitkann.“ Wow, denken wir nur – und Chapeau! Gestärkt fahren wir weiter nach Pontresina bei St. Moritz, dann aber auch gleich wieder bergauf, vorbei an der Diavolezza über den legendären Berninapass, 2.330 Meter. Direkt vor uns die Giganten Piz Bernina und Piz Palü. Nach einem kurzen Stück bergab geht’s links gleich wieder bergauf zur Forcola di Livigno. Die letzte Abfahrt des Tages führt nach Livigno, Wintersportzentrum und Freihandelszone, unser heutiges Ziel. Wir belohnen uns, jetzt in Italien, mit einem Aperol Spritz für die heutigen 2.300 Höhenmeter. Später gibt’s dann in der Pizzeria noch Schmucker-Bier vom Fass (!!!) aus unserem heimischen Odenwald. So klein ist die Welt.
beginnt mit dem lombardischen Pässeduo Eira (2.209 Meter) und Foscagno (2.291 Meter). Wir denken an die Radlegende Eddy Merckx, der hier den Grundstein für seinen dritten Giro d’Italia-Gesamtsieg 1972 legte. Dann folgt wieder eine schöne, lange Abfahrt ins italienische Bormio. Der Hauptakt des heutigen Tages steht uns aber noch bevor, das Silftser Joch. Nach dem Col de l'Iseran der zweithöchste Alpenpass mit 2.758 Metern. Im Laude des Tages bekommen wir die Info, dass der Pass wegen Straßenschäden infolge von Unwettern für den Verkehr gesperrt sei – und tatsächlich: Ein Stück nach Bormio stehen wir vor der Straßensperre. Was tun? Zwei Rennradler kommen uns entgegen und ermuntern uns, trotzdem zu fahren. Tatsächlich: Ein paar Steine und etwas Schotter behindern uns nicht wirklich und die italienischen Straßenarbeiter lassen uns freundlich passieren. Das Projekt Stilfser Joch ist gerettet, zudem mit dem Extra-Highlight, kein Auto und kein Motorrad auf der sonst vielbefahren Passstraße anzutreffen. Stattdessen tummeln sich Murmeltiere auf dem Asphalt. Genial – so etwas erlebt man nicht allzu oft in seinem Radfahrerleben. Dann die wahrscheinlich längste Abfahrt der gesamten Tour – zwischendurch mit Regen – hinunter in den Ort Prad. Durch die Südtiroler Apfelplantagen rollen wir gemütlich nach Algund, direkt bei Meran gelegen.
Unser Weg führt uns zuerst durch das verkehrsreiche Bozen – sehr ungewohnt nach den eher einsamen Bergtagen – weiter nach Kastelruth, St. Ulrich, St. Christina und Wolkenstein aufs Grödnerjoch mit 2.121 Metern. Wir übernachten auf der Passhöhe und genießen die bizarre Bergwelt der Dolomiten unterhalb des Langkofels, zwischen Sellajoch und Puezgruppe.
Am nächsten Morgen geht’s bergab nach Corvara, an diesem Tag Durchfahrtsort für das jährliche Rennradspektakel „Maratona dles Dolomites“ mit Tausenden Teilnehmenden – wir kommen kaum durch die Massen. Unsere heutigen „Bergwertungen“ heißen Passo Valparola (2.192 Meter) und Passo Falzarego (2.105 Meter). Danach geht es hinunter in den Olympiaort Cortina d’Ampezzo und weiter zum heutigen Ziel Kartisch in Tirol. In unserem Hotel Garni gibt es zwar kein Abendessen, dafür aber eine komfortable Sauna – auch nicht schlecht … und der Pizza-Service funktioniert auch.
Auf einer hügeligen, wenig befahrenen Straße rollen wir über Obertillach und Maria Luggau nach Kärnten. In Podlanig im Lesachtal werden wir von Blasmusik empfangen. Wir erfahren, dass am heutigen Sonntag das alljährliche Bezirksmusikkapellen-Treffen stattfindet. Ein Augen- und Ohrenschmaus! Wir radeln weiter durch das Gailtal zum Nassfeld und dann hoch zum gleichnamigen Nassfeldpass oder Passo Pramollo (1.530 Meter). Dort befindet sich Kärntens größtes Skigebiet – und der Pass macht seinem Namen alle Ehre. Oben, kurz nach der Grenze zu Italien, regnet’s heftig. Wir überbrücken die Zeit bei einem relaxten Cappuccino auf der Passhöhe. Die Abfahrt verläuft dann eher unspektakulär, dafür aber mit viel Spritzwasser. Zielort ist heute Tarvis, italienisch Tarvisio. Die Auswahl der Abendeinkehr übernimmt dieses Mal Mitfahrer Franz. Unsere Anforderungen: Max. 200 Meter weg vom Hotel (wg. Regen), gute Bewertungen im Internet und landestypische Küche (wir sind ja schließlich im kulinarischen Hotspot Friaul). Und Franz macht’s richtig gut: Volle Punktzahl für eine sehr nette Osteria, in der es sogar die Friauler Spezialität Frico gibt, den leckeren Käse-Kartoffel-Fladen. Perfetto!
Zum Start: strömender Regen! Wir teilen uns auf. Drei Mitradler steigen in den Bus und drei („die Harten“) aufs Rad. Am Passo del Predil (1.156 Meter), der Grenze zwischen Italien und Slowenien, regnet es noch. Die Abfahrt, vorbei an Bovec und Kobarid, ist dann bereits trocken und unser Mittagspicknick am schönen Fluss Soca findet sogar bei tollem Sonnenschein statt. Nach der Pause wieder der obligatorische Fahrerwechsel im Bus. Die zweite Tageshälfte führt uns auf einem fantastischen Radweg immer an der Soca entlang, durch viele kleine malerische slowenische Ortschaften und schließlich an die Uferstraße der Adria. Wir sehen zum ersten Mal das Mittelmeer und in der Ferne auch schon unser Ziel - Triest. Leichtes Bergabrollen, der Verkehr nimmt stetig zu, vorbei am Schlösschen Miramar, zwischen 1856 und 1860 für Erzherzog Ferdinand Maximilian von Österreich erbaut, den Bruder Kaiser Franz Josephs I. In Triest angekommen schnuppern wird erst einmal Hafenluft, bevor wir zum „Belohnungs-Drink“ die Innenstadt ansteuern. Triest war lange Zeit Teil der Habsburger-Monarchie bzw. von Österreich-Ungarn – prachtvolle Stadtvillen zeugen von dieser Epoche. Für unsere letzte Nacht haben wir eine Ferienwohnung in der Innenstadt gebucht. Wir verbringen einen letzten lustigen Abend und lassen unsere Reise Revue passieren. In den neun Tagen haben wir so viel erlebt, Wahnsinn! Am nächsten Morgen werden die sechs Räder und das Gepäck verladen und es geht zurück nach Konstanz am Bodensee – und für drei von uns am nächsten Tag nach Griesheim.
Hinweis: Die “Leser-Story” ist ein Format, in dem TOUR-Leser in Wort und Bild ihre Radsport-Erlebnisse schildern. Die Redaktion nimmt auf Entstehung und Umsetzung keinerlei Einfluss. Die redaktionelle Bearbeitung beschränkt sich auf technische bzw. orthografische Anpassungen.