Jörg Wenzel
· 28.07.2022
Neun Pässe im Umkreis von knapp 50 Kilometern – kaum ein anderer Ort in den Alpen ermöglicht so viele hochalpine Rennrad-Touren wie Andermatt. Wer dorthin reist, muss aber zäh sein und ein Kletter-Gen besitzen. Mehr als 100 Kilometer und 3000 Höhenmeter stehen am Ende jeder Pässe-Runde auf dem Tacho.
Andermatt liegt auf rund 1.440 Meter Höhe in den Zentralalpen und auch relativ zentral in der Schweiz: Von Basel nach Andermatt sind es rund 170 Kilometer, von Andermatt nach Chiasso, dem südlichsten Zipfel der Schweiz, rund 130 Kilometer, und auch zwischen Genf im Westen und Martina im Osten (Grenze zu Österreich) liegt Andermatt grob in der Mitte. Die Gemeinde mit rund 1.500 Einwohnern befindet sich am südlichen Rand des Kantons Uri in der Talschaft Urseren. Das Urserental im Quellgebiet der Reuss bildet ein Plateau auf etwa 1.500 Meter über dem Meer und liegt zwischen den Pässen Furka im Westen, Gotthard im Süden und Oberalp im Osten. Die drei Pässe sind gleichzeitig die Übergänge in die Kantone Wallis (Furka), Tessin (Gotthard) und Graubünden (Oberalp). Der Gotthardpass (italienisch: Passo del San Gottardo) war vom Mittelalter an bis zum Bau der Eisenbahn- und Autobahntunnel eine der wichtigen Verbindungen über die Alpen, weil er eine Nord-Süd-Verbindung durch die Zentralalpen ermöglichte, die nur über einen einzigen Pass führt.
Flache Kilometer muss man suchen, rund um Andermatt geht es entweder auf oder ab. Über drei Pässe – Furka, Gotthard, Oberhalp – muss man aus dem Tal klettern; nur nach Norden geht es bergab. Im Umkreis von 25 Kilometern liegen noch Nufenen-, Grimsel-, Susten- und Lukmanierpass; nördlich dieses Umkreises Pragel- und Klausenpass. Alles in allem: neun Pässe eröffnen viele Möglichkeiten für Radrunden, was selten ist für einen Standort mitten in den Bergen. Meist muss man drei Pässe kombinieren, um eine Runde zu schließen – unsere „leichteste“ Tour zählt zwei Pässe und bleibt die einzige mit weniger als 3.000 Höhenmetern. Eine leichtgängige Übersetzung ist also Pflicht, auch wenn die meisten Anstiege nicht steiler als 11 Prozent sind. In Juli und August herrscht an den Pässen viel Motorrad- und Autoverkehr, besonders an schönen Wochenenden; früher Aufbruch schützt davor nur am ersten Pass. Der Straßenbelag ist überwiegend gut, nur in der Abfahrt von Lukmanier (Betonplatten) und Pragel (Asphaltflicken) wurden wir durchgerüttelt.
Tour 1
Furka – Nufenen – Gotthard (120 Kilometer | 3.530 Höhenmeter max. 11 % Steigung)
Runde über die beiden höchsten Passstraßen der Schweiz: Furka- (2.429 m) und Nufenenpass (2.478 m) – und als krönenden Abschluss die gepflasterte, aber gut fahrbare historische Tremola-Straße zum Gotthardpass (2.107 m). Start: Abgesehen von einer kurzen Rampe bei Hospental geht es 9 Kilometer bis Realp nur leicht bergan. Dort beginnt der Anstieg zum Furkapass, dessen steilste Rampen an der Ostflanke 10 Prozent aufweisen. Am geschlosse- nen Hotel Belvédère und dem Trubel am gegen- überliegenden Zugang zur Rhonegletscher- Eisgrotte vorbei führen ein Dutzend Kehren bergab nach Gletsch. Teils auf einem Radweg weiter bis Ulrichen, wo der Anstieg zum Nufenen beginnt. Der zieht lange und teils mit zweistelligen Steigungsprozenten ins Tal, bevor er sich in nicht allzu steilen Kehren zur Pass- höhe windet. Es folgen die 23 Kilometer lange durch nur wenige Kurven gebremste Abfahrt durchs Val Bedretto, nach Airolo, danach die Tremola zum Gotthardpass und eine rauschende Abfahrt nach Andermatt.
Tour 2
Susten – Grimsel – Furka (105 Kilometer | 3.160 Höhenmeter max. 11 % Steigung)
Klassische Runde für Pässe-Liebhaber, die auch schon Teil der Tour de Suisse war. Die Ostseite des Sustenpasses (2.224 m) scheint mit maxi- mal 9 Steigungsprozenten nicht allzu schwer. Die 1.308 Höhenmeter, die mit nur wenigen Kehren aus dem langgezogenen Meiental füh- ren, können aber hart und entmutigend sein, weil man schon von weit unten die Straße kurz vor der Passhöhe (Scheiteltunnel) erkennt. Der Lohn: die rauschende Abfahrt vorbei an Susten- horn und Steingletscher. Es folgt die Nordseite des Grimselpasses (2.164 m), die durch eine karge, von Gletschern geschliffene Granitland- schaft führt und mit 1.550 Höhenmetern zu den großen Anstiegen der Alpen zählt. Der abschlie- ßende Anstieg über die Westrampe des Furkapasses (2.429 m), die sich ab Gletsch in wenigen Serpentinen aus einem scheinbar ausweglosen Talkessel schwingt, ist mit 672 Höhenmetern keine allzu große Hürde.
Tour 3
Oberalp – Lukmabier – Gotthard (153 Kilometer | 3.500 Höhenmeter max. 10 % Steigung)
Lange, kräftezehrende Runde, die keine Zeit zum Einrollen lässt. Sofort geht es in den An- stieg zum Oberalppass (2.044 m). 600 Höhen- meter auf 10 Kilometer sind eine niedrige Hür- de, die man gerne schnell überspringt, weil der Pass zusätzlich zum Touristenverkehr auch eine wichtige Ost-West-Transportachse ist. Ruhiger wird es ab Disentis, wo die Strecke nach Süden zum Lukmanierpass abzweigt und damit ins italienischsprachige Tessin. Die Passhöhe liegt auf 1.917 Meter Höhe, der höchste Punkt der Straße kurz davor, in einem Tunnel, auf 1.972 Metern. Auf der Abfahrt im Tessin durch Almen und lichte Zirbelkiefernwälder rütteln Quer- fugen Radler mächtig durch. Die 37 verkehrs- reichen Kilometer auf der Hauptstrasse 2 von Biasca nach Airolo nerven, der Radweg durchs Valle Leventina (auch im GPS-Download) ist aber vier Kilometer länger, verwinkelt geführt und auf kurzen Abschnitten geschottert. Zum Abschluss warten die gepflasterte Tremola- Straße zum Gotthardpass (2.107 m) und eine rauschende Abfahrt nach Andermatt.
Rasttipp (Km 77,5) in Acquarossa Osteria/ Pizzeria Rubino, www.osteriarubino.ch
Tour 4
Klausen – Pragel (132 Kilometer | 2.740 Höhenmeter max. 14 % Steigung)
Von Andermatt zum Bahnhof Altdorf sind es mit dem Zug 52 Minuten. Die Runde führt nach dem Klausen- (1.948 m) über den Pragelpass (1.548 m), ein stilles, fast unbekanntes Kleinod. Start: Außer ein paar 9-prozentigen Rampen klettert die Straße moderat durchs Schächental zum Klausenpass, der in freier Almlandschaft schöne Aussichten gewährt, ebenso eine Abfahrt durch das Bilderbuch-Trogtal des Urnerbodens. Die Höhe des Pragelpasses (Tipp: Am Wochenende für Autos gesperrt) mag harmlos erscheinen, aber seine Ostseite ist mit Rampen von 12 bis 14 Prozent gespickt. Die grünen Berge, die ihn umrahmen, übertreffen knapp die 2.000er- Höhenmarke – das ist an vielen Pässen der Schweiz spektakulärer. Aber das einsame Sträß- chen und die abgelegenen Almen haben ihren Reiz. Gefährlich ist die Abfahrt nach Westen, wo das ruppige, handtuchschmale, im Wald un- übersichtliche Sträßchen mit bis zu 18 Prozent nach Muotathal stürzt. Dort sind Steuerkünste gefragt – und gute Bremsen. Am Urnersee warten 16 Kilometer bis Altdorf, zehn davon direkt neben der vielbefahrenen Uferstraße (2). Wer das nicht will, nimmt in Brunnen den Zug.
Rast-Tipp Glarus, Glarnerhof (glarnerhof.ch), bei Km 64,7 kurz rechts in die Bahnhofstraße.