Seit Jahren gehört die Maratona dles Dolomites zu den beliebtesten Rennradterminen in Europa. Für Freunde von langen und höhenmeterreichen Strecken bieten die Maratona-Organisatoren seit vergangenem Jahr eine echte Prüfung: die Supermaratona bietet verteilt auf 286 Kilometer stolze 8400 Höhenmeter. Dabei bewegt man sich auf historischen Spuren des Dolomitenmarathons. Die neue Challenge “Supermaratona” greift die Historie auf und bietet alle 13 Pässe die in der Geschichte des Radmarathons je befahren wurden. Wir haben 2024 über das Projekt berichtet und Thilo Schnelle und seinen drei Radkumpels auf die Idee gebracht den Ritt zu wagen. Anfang Juni war es dann soweit: die vier Jungs haben die 8400 Höhenmeter in Angriff genommen. Kaum waren sie wieder daheim, haben sie uns eine Mail geschickt. Hier ist Thilos Bericht von der Fahrt.
“Seid ihr die Verrückten?” - mit diesen herzlichen Worten begrüßte uns unser Gastgeber Igor Tavella (Ex-Cyclocrosser, Ex-Mountainbiker) in unserer Unterkunft Ustaria Posta in Abtai Badia. Wir waren angekommen in den Dolomiten, die aufgrund ihrer landschaftlichen Schönheit und Einzigartigkeit seit 2009 zum UNESCO-Weltnatuerbe zählen. Hier kann man wunderbar das süße Nichtstun genießen, während man die märchenhaften Landschaften betrachtet und den Geräuschen der Natur lauscht.
Kann man aber auch lassen und sich der Supermaratona widmen: eine epische Reise auf zwei Rädern, die Sport, Geschichte und Landschaft vereint – gedacht für alle, die das Gebirge auf authentische Weise erleben möchten, fernab von jeder Rangliste. Über 285 km. 8500 Höhenmeter. 13 legendäre Pässe. Die Supermaratona feiert die ikonischsten Anstiege der bekannten Maratona dles Dolomites. Das allerdings nur auf einer Strecke und an einem Tag. Eine Herausforderung, die über die Leistung hinausgeht: eine Hommage an die Kultur, die Anstrengung und die Schönheit der Dolomiten.
Gestartet wird die Supermaratona direkt vor der Ustaria Posta, also unserem Hotel - dem Ort, an dem die Maratona dles Dolomites geboren wurde und wo sich die Startlinie der ersten Ausgaben befand.
Der Passo Gardena, unser erster Pass des Tages war mit 9,3 km und einer durchschnittlichen Steigung von 6,5 Prozent eher ein Aufwärmprogramm. Was bei einer Temperatur von 4 Grad in kurz/lang auch notwendig war. Die Wahl der richtigen Kleidung war gemäß Regel #21 [Wer beim Start nicht friert, ist zu warm angezogen] bei angekündigten Höchsttemperaturen von 26 Grad wieder einmal tricky.
Nach einer kurzen Abfahrt ging es in den Passo Sella, der mit nur 5,5 km und 6,8 Prozent eher der Kategorie Gegenwelle entspricht und somit eigentlich nicht weiter erwähnenswert ist. Aber die atemberaubende Landschaft mit dem Blick auf den Langkofel und flankiert vom mächtigen Sellastock vorbei an der Cittá dei Sassi, der steinernen Stadt, machten den Anstieg zu etwas Besonderem.
Als nächstes stand der Passo Fedaia auf dem Programm. Mit 9 km bei 6,2 Prozent einer der Schlüsselpunkte der Supermaratona. Der Pass führt zum Fedaiasee, einem echten Highlight, umgeben von spektakulärer Natur am Fuße der Marmolada, dem höchsten Berg der Dolomiten.
Im Radsport gibt es ja bekanntlich verschiedene Fahrertypen. Es gibt Kletter, Sprinter, Puncheure, Rouleure und so weiter. Ich bin ein sogenannter negativer Allrounder. Ich kann also alles und das nicht wirklich gut. Da für mich Essen immer noch die Erotik des Alltags ist, kann ich nicht vernünftig klettern und ich kann auch nicht besonders gut abfahren, weil ich einfach im offenen Verkehr viel zu viel Angst habe.
Da man zwischen Alleghe und Agordo, dem einzigen flachen Teil am heutigen Tag, bei Gegenwind besser mit einem Partner fährt, war mein Plan, im Anstieg genug Abstand auf Martin herauszufahren, in dem Wissen, dass ich diesen auf der folgenden Abfahrt wieder verlieren werde. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 103,4 km/h meines Verfolgers ist die Rechnung voll aufgegangen. In Argordo zusammen dann links ab in den Passo Duran, Kategorie 1, 12,3 km und 8,1 Prozent im Durchschnitt steil, aber wunderschön, da der Pass für den Verkehr anscheinend uninteressant ist.
Es folgte der Forcella Staulanza. Ein Pass von 12,5 km Länge und einer Durchschnittssteigung von vermeintlich entspannten 6,6 Prozent . (Kat. 2)…. Für’n Arsch! Mathematisch mag das zwar richtig sein, aber die vielen kurzen Flachstücke zwischendurch machen das Ding im Endeffekt deutlich steiler. Es war so richtig eklig, unrhythmisch und außerdem hatte das Thermometer jetzt die 20 Grad Marke überschritten. Viel trinken war angesagt. Aber wir hatten ja ein Teamfahrzeug in Form von Trinkbrunnen dabei, dessen Standorte Martin in professioneller Vorbereitung auf das Event als Roadmap uns allen auf den Vorbau geklebt hatte.
Am Mittwoch vor unserer Anreise hatte ich mir noch schnell eine 11/34 Rettungsring-Kassette besorgt. Sicher ist sicher. Und weil ich das als STRAVA-Junkie auch noch gepostet hatte, kommentierte ein lieber Freund von mir: “Was kommt als nächstes? Kompakt? Einfach? Das neue Schwalbe Ventil”.
Also habe ich auf den vermeintlichen Experten gehört und doch nochmal die Kassette gewechselt, in dem Glauben mit der Profi-Übersetzung 54/40-11/30 kann auch ich in den Alpen überleben. Spätestens nach dem Passo Giau, mit 9,9 km und 9,3 Prozent im Schnitt, werde ich mir die Sache mit der Freundschaft noch mal überlegen.
29 tonare!, also 29 Kurven standen auf dem Schild am Fuße des Anstieges. Und jede Kurve ist beschildert. Ich hasse es. Bei den Prozenten macht dich das gedanklich fertig. Irgendwann macht man in der Kehre einfach die Augen zu und beschließt erst in 10 Minuten einen Blick auf die nächste Nummer zu werfen, was im Endeffekt noch demotivierender ist weil man realisiert, dass man erst drei Kehren weiter ist. Zu allem Überfluss geht es nach der Letzten noch einen knappen Kilometer geradeaus weiter bevor der höchste Punkt erreicht wird. Aber genau dann nicht einzuknicken und stattdessen noch mal den Druck auf dem Pedal zu erhöhen, um einfach noch ein bisschen mehr Tempo zu machen, bedeutet doch für uns Radsportler, „sich großartig zu fühlen“. Das ist unsere Raison d´Étre, unsere Agonie – unser Ehrenabzeichen – unsere Sünde. Für mich war der Climb der absolute Endgegner. Hors Categorie.
Am Gipfel war ich trotz allen Leidens wieder auf Jens und Mathis aufgefahren, die sich schon im ersten Anstieg, dem Passo Gardena, abgesetzt hatten, aber zwischenzeitlich einen unfreiwilligen Boxenstopp einlegen mussten, um Sonnencreme zu shoppen. Ich hingegen war nach wie vor auf einer Zweistopp-Strategie unterwegs.
Wir stürzten uns also gemeinsam in die Abfahrt nach Cortina d'Ampezzo, wo mir plötzlich in einer Kehre auf schmierigem Belag das Hinterrad wegrutschte. Ich konnte durch geschicktes Aussteuern einen Sturz vermeiden und stand zum Glück nur auf der Bankette. Als ich gerade die bei dem Manöver abgeflogene Kette wieder auflegte sah ich den mir folgenden Mathis an gleicher Stelle wegrutschen und in der Leitplanke landen. Auch hier ist zum Glück nichts Schlimmeres passiert. Auch er konnte noch einigermaßen gut aussteuern. Mit einem kaputten Lenkerband, ein paar Kratzern an der Gabel und etwas verlorener Pelle am Knie kann man doch gut leben. Das war knapp.
Von Cortina aus überquerten wir den Passo Tre Croci der mit 7,3 Prozent nicht so steil und mit nur 7,9 km auch nicht so lang ist in Richtung Lago di Misurina von dem wir bei weiterhin strahlendem Sonnenschein einen ikonischen Blick auf die Südwestwände der Drei Zinnen werfen konnten. Langnese Dolomiti lässt Grüßen.
“Es wird hier gar nichts leichter”, war die Antwort von Jens bei einem kurzen Pitstop auf meine Aussage, dass es, wieder zurück in Cortina, ab jetzt einfacher werden würde. Doch! Wurde es, zumindest in Relation gesehen. Der Passo Valparola ist mit seinen 17,4 km zwar lang, aber mit 5,7 Prozent moderat und vor allem gleichmäßig.
Die Regeln der Supermatatona besagen, dass die Strecke exakt dem auf der Website bereitgestellten Gpx-Track folgen muss. Und hier war das Problem. Wir hatten die Passierbarkeit der Pässe schon im Vorfeld gecheckt und wussten, dass die Abfahrt nach St. Kassian wegen Bauarbeiten gesperrt war . “In Italien arbeiten die Freitags eh nicht so lange, zu der Uhrzeit, wenn ihr da seid, könnt ihr da die 2 km durchgraveln”, war am Vorabend die Aussage von Igor. Am heutigen Tag machten die Bauarbeiter aber anscheinend Überstunden und waren not amused als sie uns sahen. Aber wir kamen, zwar auf recht abenteuerliche Weise, irgendwie durch.
Damit es uns nicht so langweilig wird, hat die Rennleitung neben den 13 Pässen im Übrigen in La Villa auch noch die Mür dl Giat, die Katzenmauer, eingebaut. Eine kurze, aber mit 19 Prozent steile Rampe, die zwar herausfordernd war, uns aber nach Lüttich-Bastogne-Lüttich nicht wirklich schocken konnte.
Keine Frage, der Radsport ist ein schwerer Sport. Nicht schwer in dem Sinne, dass dein dich verfolgender Gegner gerade von hinten zur Blutgrätsche ansetzt weil du ihn soeben mit einem eleganten Trick verladen hast und nun alleine mit dem Ball aufs gegnerische Tor zustürmst wie beim Fußball. Nicht schwer in dem Sinne, dass man gegen das Ertrinken kämpfen müsste wie beim Schwimmen. Nicht schwer in dem Sinne, dass man mit einen viel zu kleinen Ball ein viel zu kleines Loch treffen müsste wie beim Golf. Der Radsport ist schwer, weil unsere Ausfahrten in Stunden und Hunderten von Kilo- und Höhenmetern gemessen werden. Dieser Sport ist schwer in dem Sinne, dass das größte Hindernis nicht etwa das Rad oder das Streckenprofil, sondern unser Geist ist.
Da wir nun den Zielort Corvara schon ziemlich angeschlagen passierten, mussten wir also der Verlockung widerstehen, an dieser Stelle abzubrechen und uns entspannt bei einer Flasche Lagrein den Spezialitäten der ladinischen Küche zu widmen. Diese vereint italienische, österreichische und deutsche Genüsse für ein einzigartiges Geschmackserlebnis. Dabei sind Knödel sicherlich das berühmteste Gericht. Knödel gibt es hier in allen Varianten: mit Spinat, Käse, Speck oder roter Beete, in gepresster Form, als Suppeneinlage oder einfach nur mit gebräunter Butter. Einfach lecker!
Uns fehlte aber halt noch das Quartett der für Skifahrer bekannten orangenen Sella-Ronda, also die im Uhrzeigersinn. Um keine Probleme mit den Lichtverhältnissen zu bekommen, hatten wir im Vorfeld berechnet, dass wir für die verbleibenden 60 km Corvara schätzungsweise bis spätestens 18:00 Uhr erreichen mussten. Alles andere würde ziemlich dunkel werden. Es passte!
Der 5,8 km lange und mit 6,1 Prozent moderate Passo Campolongo führte uns also weiter zum Pordoijoch und durch das idyllische Bergdorf Arabba, in dem der Spar gerade renoviert wurde und bedauerlicher Weise geschlossen war. Wir mussten ab jetzt also mit dem auskommen was noch am Mann und in den Flaschen war.
Der Respekt vor dem Passo Pordoi, dem 9,2 km langen Anstieg und 6,9 Prozent mittlerer Steigung stellte sich als unbegründet heraus. Die 33 Kehren mit der atemberaubenden Aussicht bei langsam untergehender Sonne auf den plateauförmigen Sellastock waren erstaunlich gleichmäßig und trotz unseres Erschöpfungszustandes relativ gut zu fahren.
Am Gipfel angekommen, wussten wir, ab hier hält uns keiner mehr auf. Der mit 5,5 km verhältnismäßig kurze, aber mit 7,9 Prozent knackige Passo Sella diesmal von der anderen Seite als heute morgen verlangte uns allerdings noch einmal alles ab. Total unrhythmisch das Biest und die letzte große Herausforderung.
Wenn man vollkommen grau ist, ist es im Übrigen erlaubt, in einem Anstieg anzuhalten und zu verschnaufen. Es erweist sich dabei als clever, sein Handy zu zücken und so zu tun, als ob man nur schöne Fotos machen will. Unter keinen Umständen darf allerdings geschoben werden, es sei denn du bist Radprofi und fährst bei Rund um Köln in den 27 Prozent steilen Agathaberg und kommst im Stau plötzlich zum Stehen.
Unsere Challenge näherte sich mit der letzten Überquerung des Grödnerjochs nun allmählich ihrem Ende entgegen. Dabei erlebten wir erneut die spektakuläre Landschaft rund um den Langkofel diesmal im Sonnenuntergang. Der Passo Gardena mit 5,8 km Länge und 4,3 Prozent mittlerer Steigung war dann keine wirkliche Herausforderung mehr. Nach all den legendären Anstiegen spürten wir am Gipfel bereits die Nähe zum Ziel - mit einem traumhaften Blick auf das Tal von Alta Badia.
Die Supermaratona endet in Corvara - auf derselben Zielgeraden wie die des Maratona dles Dolomites. Der majestätische Sassongher empfing uns am Horizont, als wir jubelnd, nach etwas mehr als 14 Stunden im Sattel, über die Ziellinie gefahren sind - das Symbol eines außergewöhnlichen Abenteuers über die ikonischen Berge der Dolomiten.
Laut STRAVA habe ich heute 9.103 Kalorien verbraucht. Die durch Riegel, Gels, exzellenten Mortadella Brötchen, Iso Drinks und mehrere obligatorische Rettungs-Cola gegen absolute Grauheit zugeführten Kalorien dürften geschätzt bei ca. 4.000 liegen. Da die Gasthausküche leider schon geschlossen war, konnten wir das Defizit somit nicht durch Südtiroler Spezialitäten ausgleichen. Für ein Forst Premium Bier mit 4,8 Prozent Alkoholgehalt kann man aber mit etwa 240 kcal pro 0,4 Liter rechnen. Rein rechnerisch macht das 21 Regenerationsbiere. An der Herausforderung bin ich letztlich aber doch gescheitert.
Erschöpft und stolz schickten wir noch schnell unsere STRAVA-Aktivität an die E-Mail-Adresse der Rennleitung, um in die Hall of Fame aufgenommen zu werden. Vorher checkte ich interessehalber mal die Liste, um zu wissen, wie viele andere Verrückte die Supermaratona schon bewältigt hatten. Ich war etwas verwundert, dort standen nur zwei Namen: Hervé Barmasse, zusammen mit Igor der Initiator der Supermaratona am 02.07.2024 und Marco Loguercio am 11.08.2024. Da kann doch was nicht stimmen. Warum kann man nicht weiter runter scrollen? Letztlich war mir das zu diesem Zeitpunkt und in meinem Zustand aber auch irgendwie egal. Ich glaube, ich spreche für alle: Wir waren einfach nur fertig. Doch als wir dann von Igor als Anerkennung für das Absolvieren der Supermaratona an einem Tag die offizielle und durchnummerierte Supermaratona Cap als Symbol für unsere Leistung überreicht bekamen, waren plötzlich alle Schmerzen vergessen. Die Caps tragen die Nummern 3, 4, 5 und 6!
Hinweis: Der Leser-Bericht gibt die Meinung und das Erlebnis des Autors und nicht der Redaktion wieder. Da wir nicht dabei waren können wir nicht überprüfen ob alle Aussagen korrekt sind. Alle geäußerten Meinungen sind Leser-Meinungen und nicht die der TOUR-Redaktion.