Vincenzo Torriani war zeit seines Lebens auf der Suche. Auf der Suche nach Straßen, insbesondere nach Bergstraßen. Nach spektakulären Bergstraßen, über die er ein Profipeloton jagen konnte. Das war sein Job – und vermutlich seine Leidenschaft. Denn Vincenzo Torriani war bis 1992 für den Giro d’Italia das, was einst der noch berühmtere Henri Desgrange für die Tour de France war: Renndirektor einer dreiwöchigen Landesrundfahrt.
Nachdem Torriani bereits 1953 das Stilfser Joch und 1960 den Passo di Gavia in den Giro eingebaut hatte, war er einmal mehr auf der Suche nach Herausforderungen für die Profis. Oder sollte man sagen, nach neuen Quälereien? Denn nicht immer stießen die Anstiege, die Torriani oder sein Pendant Desgrange neu in ihre Rundfahrten aufnahmen, auf Gegenliebe. Vor allem nicht bei den Fahrern. Man erinnere sich nur an die legendären Szenen bei der Erstbefahrung des Col d’Aubisque in den Pyrenäen im Jahr 1910, als der damalig Führende Octave Lapize die Organisatoren der Tour als Mörder bezeichnete. Ganz so dramatisch dürfte es sich 1969 nicht abgespielt haben, als Torriani das Giro-Peloton zum ersten Mal über den Passo Fedaia schickte.
Immerhin waren die Rennmaschinen inzwischen mit Gangschaltungen ausgestattet. Da sollte es doch möglich sein, einen Fedaia anständig zu bezwingen. Den hatte Torriani nämlich schon lange auf seiner Wunschliste stehen. Ein spektakuläres Finale sollte es sein, am Fuße der Marmolada, der Königin der Dolomiten. Doch der Renndirektor hatte die Rechnung ohne den Wettergott gemacht. Regen, Schnee und Hagel prasselten an diesem Tag so extrem auf die Straße, dass die Fedaia-Etappe nicht einmal gestartet werden konnte.
Im Nachhinein kamen Torriani die Wetterkapriolen aber recht. Denn nun konnte er die Spannung auf diesen Pass weiter schüren. Zunächst 1970, mit einer Bergankunft auf halber Höhe an der Malga Ciapela, dort, wo der härteste Teil des Anstiegs erst beginnt. Fünf weitere Jahre sollten vergehen, bis der Passo Fedaia erstmals in seiner ganzen Länge beim Giro enthüllt wurde. Torriani hatte das Peloton damals über den südlich gelegenen Passo Staulanza zum Fedaia geführt. Aber die Anfahrt spielt im Grunde fast keine Rolle, denn durch dieses Gebirge schlängeln sich Passstraßen, wohin man auch schaut.
Fast 50 Jahre später klettere ich auf den Spuren von Giancarlo Polidori, der die Passhöhe bei der Giro-Premiere als erster überquerte, in Richtung Marmolada. Von Norden kommend, als Aufwärmübung bereits den Passo Valparola in den Beinen, ist die moderate Steigung im unteren Teil des Fedaia angenehm zu fahren. Über der Straße spannt sich ein dunkelblauer Himmel, der goldene Herbst lässt die Dolomiten in ihrer ganzen Pracht erstrahlen.
“September und Oktober sind die besten Monate für Pässetouren mit dem Rennrad”, sagt mein Begleiter Klaus Irsara. Klaus ist Hotelier aus Abtei und hat sich seit vielen Jahren auf Radsportler spezialisiert. Nicht nur wegen des Geschäfts, sondern weil er selbst leidenschaftlich gern im Sattel sitzt. Und diese Leidenschaft will er seinen Gästen vermitteln. “So oft es die Zeit zulässt, führe ich auch die eine oder andere Tour selbst”, erzählt Klaus weiter. “Oder ich düse morgens vor der Arbeit mal schnell hoch auf den Valparola, meinen Hauspass.”
Mit einer endlos langen Geraden, die wie die nahe Marmolada-Seilbahn in den Himmel zu führen scheint, wirft einem der Passo Fedaia den Fehdehandschuh vors Rad. - Matthias Rotter
Wir plaudern – und ich will Klaus eigentlich nach seiner Lieblingstour in den Dolomiten fragen, als mir schlagartig die Luft ausgeht. Wir haben Malga Ciapela erreicht. Von hier schwingt sich die Seilbahn auf die Marmolada und fast ebenso steil die Straße zum Pass. Wer sich bis hierher in Sicherheit wähnte, der bekommt hinter einer Rechtskurve einen Schlag in die Magengrube verpasst. Mit einer endlos langen Geraden, die wie die Seilbahn in den Himmel zu führen scheint, wirft einem der Passo Fedaia den Fehdehandschuh vors Rad. Zehn, zwölf, bis zu sechzehn Prozent steil klettert die Straße nach oben. Und wer hofft, die folgenden Serpentinen würden Erlösung bringen, wird schmerzhaft enttäuscht.
Ich muss an Polidori denken, und dass unsere Carbonmaschinen schätzungsweise halb so viel wiegen wie sein damaliger Stahlrenner. Und zudem ausgestattet sind mit der doppelten Anzahl an Gängen. In die Analyse der Übersetzungen will ich lieber nicht einsteigen... Einziger Trost, der mir bis zur Passhöhe bleibt: Dieser Abschnitt zählt zu den fünf steilsten Kilometern in den Dolomiten. Kein Vergleich zu Grödnerjoch, Campolongo oder Pordoi, deren Anstiege sich vergleichsweise entspannt fahren lassen. Zum Glück! Denn zwei der genannten liegen auf dem Rückweg nach Abtei heute noch vor uns.
Aber Klaus hatte mich ja bereits gewarnt, dass im Herzen der Dolomiten Rundkurse mit weniger als drei Passüberfahrten kaum zu finden sind. Jouf de Fedaa, Passo Fedaia – geschafft! Wie üblich in der Region, stehen mindestens zwei Namen auf dem Passschild, je nachdem, welche Sprachräume der Übergang verbindet. Rund um die Sellagruppe sind es in der Regel der ladinische und der italienische Name. In Richtung Etsch- und Pustertal kommt meist noch die deutsche Bezeichnung dazu, wie beispielsweise am Würzjoch.
Am Fedaia-Stausee lässt das Flachstück genügend Zeit, wieder zu Atem zu kommen und die Szenerie zu genießen. Der Anblick der 3343 Meter hohen Marmolada, des höchsten Berges der Dolomiten, ist und bleibt spektakulär, auch wenn sich Polidori 1975 ein ganz anderes Bild eingebrannt haben dürfte. Denn seit den Fünfzigerjahren hat der Berg rund 85 Prozent seiner Vergletscherung eingebüßt. Ein Mahnmal des Klimawandels. Glatt geschliffene Felswände beweisen, dass die Gletscherzunge einst sogar bis zur Passhöhe hinunterreichte.
Bei einer Rast an der geschwungenen Staumauer am westlichen Ende des Sees kann ich Klaus auch endlich nach seiner Lieblingstour fragen. “Für mich gibt es keine beste oder schönste Tour in den Dolomiten”, erwidert er ein wenig empört. “Die Schönheit ist überall, wenn du mit offenen Augen durch diese Berge fährst.” Aber dann rückt er doch noch mit ein paar Tipps raus. “Die Sella Ronda hat ihren Klassikerstatus durchaus verdient. Aber die etwas abgelegeneren Pässe wie Giau oder Würzjoch sind ruhiger und landschaftlich wunderschön.”
Vom Fedaia-Stausee rauschen wir hinunter nach Canazei, wo die Straße unmittelbar wieder zu steigen beginnt. Das ist typisch für die Dolomiten: Man findet kaum lange Transfers zwischen den Pässen, meist geht es sofort zur Sache. Dieses Sägezahnprofil macht auch für die Profis Dolomitenetappen schwer. Erholsame Flachstücke? Niente! Serpentine für Serpentine rücken die lotrechten Felswände des Sellamassivs näher. Und für die Sella ist das Anhängsel “Massiv” gerechtfertigt. Denn es findet sich selten ein so beeindruckender Felsklotz in den Alpen. Zudem kein anderer, der sich mit einer so einzigartigen Vier-Pässe-Tour umrunden lässt, wie mit der Sella Ronda.
Auf halber Höhe des Anstiegs, an einem Gedenkstein für Italiens 50er-Jahre-Radidol Fausto Coppi, gabelt sich die Straße. Wir entscheiden uns für die Variante über den Passo Pordoi und folgen damit den Spuren des berühmten Radrennfahrers und italienischen Nationalhelden. Fünfmal hat Coppi den Pordoi als Erster überquert, zuletzt 1954. Auch Italiens Klettergott Marco Pantani lebt am Pordoi weiter, in bunten Lettern auf dem Asphalt; hier haben die Fans wohl besonders wetterfeste Farbe verwendet. Kurios: Mit 2239 Metern Höhe gilt der Pordoi als höchster Dolomitenpass, obwohl die Straße übers nahegelegene Sellajoch laut Passschild 2244 Meter hoch ist. Der Grund ist einfach: Die Straße verläuft aus bautechnischen Gründen oberhalb des 2218 Meter hohen Sellajochs.
Sicher ist, dass kein anderer Pass so eng mit der Geschichte des Giro d’Italia verbunden ist wie der Pordoi – fast so eng, wie der Tourmalet in den Pyrenäen mit der Tour de France. Dort sieht man auch gerne über die allgegenwärtigen Spuren des Skitourismus hinweg. Und darüber, dass die Passhöhe in der Sommerferienzeit Ähnlichkeiten mit einem Rummelplatz aufweisen kann. Als Klaus und ich die Passhöhe erreichen, ist davon glücklicherweise kaum etwas zu spüren.
Wir nehmen am großen Coppi-Denkmal Platz und schauen: auf die über 100 Jahre alten Berghotels an der Straße, die einen gewissen Charme versprühen; zum westlichen Horizont, an dem die Langkofelgruppe ihre gezackten Konturen in den Himmel zeichnet; und Richtung Osten, wo der vergleichsweise unbekannte Padonkamm, an dem während der Weltkriege erbitterte Kämpfe tobten, den Horizont begrenzt.
Noch heute findet man überall in den Dolomiten alte Kasernen und Geschützstellungen. Am Pordoi erinnern ein Soldatenfriedhof und ein Museum daran. Nach einem schnellen Espresso in der Bar an der Boé-Seilbahn schwingen wir uns wieder auf die Räder, schließlich wartet auf dem Heimweg hinüber ins Gadertal noch der Passo di Campolongo auf uns. Kein Riese wie der Fedaia, aber mit schon drei über 2000 Meter hohen Pässen in den Beinen kann auch ein laut Papierform einfacher Anstieg wehtun. So ist das halt, im Pässewunderland der Dolomiten.
Bahn: Der nächstgelegene Bahnhof zu unserem Standort Abtei liegt 28 Kilometer nördlich in Bruneck. Ab beispielsweise Frankfurt am Main dorthin in 7:35 Stunden mit zwei Umstiegen (München und Franzensfeste). Fürs Rad einen der wenigen reservierungspflichtigen und oft schon lange im Voraus belegten Stellplätze zu buchen, können wir nicht empfehlen. Ab Frankfurt würde ein Platz 22,90 Euro kosten, Bahnticket und Fahrradkarte sind zusammen aber nicht online zu buchen. Letztere ist laut DB zudem nur bis Franzensfeste gültig. Ab dort braucht man ein Radticket von Trenitalia für 3,50 Euro.
Tipp: Den Renner zerlegt in Radtasche oder -koffer mitnehmen – so verpackt, kann das Rad auch in den Bus (Linie 460, www.suedtirolmobil.info), der in 50 Minuten von Bruneck nach Abtei fährt.
Auto: Aus Deutschland entweder über München nach Innsbruck oder über Füssen und den Fernpass. Weiter über den Brenner und durchs Pustertal nach Bruneck, dort ins Gadertal (Val Badia) Richtung Corvara bis Abtei. Von München 280 Kilometer, von Frankfurt am Main 640. Die Autobahnen in Österreich und Italien sowie der Brennerpass sind mautpflichtig, hin und zurück summiert sich die Maut auf rund 40 Euro.
Die Pässe rund um die Sellagruppe sind ganzjährig befahrbar. Das gilt auch für Passo Giau, Valparola, Falzarego und Fedaia. Sperrungen bei Neuschnee sind aber jederzeit möglich. Generell sind Mai/Juni und September/Oktober ideal zum Rennradfahren. Dann ist es nicht zu heiß, und auf den Straßen herrscht in der Regel wenig bis moderater Verkehr. Stabile Wetterlagen sind tendenziell im Herbst zu erwarten. Wer kann, sollte die verkehrsreichen Ferienmonate Juli und August meiden.
Breakout Sport: Shop, Werkstatt und Vermietung von Specialized-Rennrädern. (Telefon: 0039/0471/830346)
Hotel Melodia del Bosco: Das Melodia ist Mitglied bei “Roadbike Holidays”, einer Gruppe von Hotels, die sich auf die Bedürfnisse von Rennradfahrern spezialisiert haben, und zählt zu den ältesten Betrieben im Tal. Die Architektur mischt Tradition und Moderne auf charmante Art. Chef Klaus Irsara, selbst Rennradler aus Leidenschaft, hat das Haus im Sommer ganz dem Radsport verschrieben. Das Angebot umfasst von Werkstatt bis zu geführten Touren und individuellen GPS-Tracks alles, was sich Radler wünschen. Exzellente Küche! Doppelzimmer mit Frühstück pro Person ab 86 Euro. Telefon: 0039/0471/839620
Wie in fast allen Bergregionen basiert auch die Küche in den ladinischen Tälern auf einfachen Gerichten, denn die Zutaten waren früher knapp. Auch wenn sich deren Verfügbarkeit längst verbessert hat, gibt es in vielen Restaurants das Bestreben, Traditionen zu bewahren und regionale Gerichte auf moderne Art zu interpretieren. Man findet auf der Speisekarte fast immer Gerstensuppe und Teigtaschen mit ganz verschiedenen Füllungen, zum Beispiel Spinat oder Sauerkraut. Ebenfalls beliebt sind Schlutzkrapfen, eine Art Ravioli. Überregional berühmt ist der Südtiroler Speck, ebenso die riesige Auswahl an Rot- und Weißweinen. Und zum Nachtisch gibt’s Apfelstrudel – was will man mehr? Vielleicht ein Stück Bergkäse aus der Milch der Kühe, die an den Hängen des Gadertals grasen?
Auch wenn die Küche des Hotels Melodia del Bosco, in dem wir wohnten, keine Wünsche offenlässt, hier noch eine Empfehlung vom Hotelchef persönlich für ein typisch ladinisches Erlebnis. Reservieren ist in der kleinen Gaststube allerdings Pflicht.
Maso Runch Hof (Badia): Telefon 0039/0471/839796
Kompass-Fahrradkarte 3420 “Südtirol” (4er-Set), 1:50.000, Kompass-Karten 2022; 18 Euro.
Bruneck: Der rund 30 Kilometer entfernte Hauptort des Pustertals lohnt einen Besuch. Innerhalb der imposanten Stadttore drängen sich kunstvolle Häuser und prachtvolle Kirchen. Man sagt, die Stadtgasse sei die schönste Einkaufsstraße Südtirols. Außerdem interessant: das weithin sichtbare, auf einem Hügel thronende Schloss Bruneck. Das dortige Messner Mountain Museum, eines von sechs Einrichtungen des berühmten Bergsteigers, ist den Bergvölkern in aller Welt gewidmet.
Kriegsmuseum: Schauplätze des Ersten Weltkriegs sind in den Dolomiten allgegenwärtig. Auf dem Passo Valparola wurde in der restaurierten Festungsruine Tre Sassi das Museo della Grande Guerra eingerichtet. Neben Infos über den Ersten Weltkrieg sind Ausrüstung, Waffen und Gebrauchsgegenstände der Soldaten ausgestellt. Im Sommer täglich geöffnet von 10 bis 12.30 Uhr und 14 bis 16.30 Uhr.
Tipp: Eine Fahrt mit der Gondelbahn am nahen Passo Falzarego auf den Gipfel des Lagazuoi. Oben kann man in den Fels getriebene Stollen und Geschützstellungen begehen. Das Panorama ist ohnehin atemberaubend. Auch am Passo Pordoi befindet sich ein Kriegsmuseum, es wurde 2018 an der Talstation der Sass-Pordoi-Seilbahn eröffnet. Die Ausstellung zeigt Rekonstruktionen von Kasernen und Schützengräben, aber auch originale Gegenstände der Soldaten. Erwachsene zahlen sechs Euro Eintritt.
Unser Standort Abtei (italienisch “Badia”) zählt rund 3500 Einwohner und liegt 30 Kilometer südlich von Bruneck im Gadertal in den Dolomiten; durch das in Nord-Süd-Richtung verlaufende Gadertal führt die Zufahrt vom Pustertal in die Dolomiten. Abteis Höhenlage auf rund 1300 Metern ist eine gute Basis für Touren über die umliegenden Pässe. Auf der Westseite des Tals erstreckt sich der Naturpark Puez-Geisler mit berühmten Bergen wie den Geislerspitzen und dem Peitlerkofel. Auf der Ostseite liegt der Naturpark Fanes, in dem die Berge sogar bis über 3000 Meter Höhe erreichen. Das Gadertal zählt zu den fünf Dolomitentälern (Gadertal, Gröden, Buchenstein, Cortina d’Ampezzo und Fassatal), in denen die Bevölkerung mehrheitlich Ladinisch spricht, das zur Gruppe romanischer Dialekte zählt.
101 Kilometer | 2800 Höhenmeter | maximal 12 % Steigung
Eine nicht zu unterschätzende Tour, die aufgrund des zackigen Profils Stehvermögen erfordert. Dreh- und Angelpunkt dieser Runde ist das 1987 Meter hohe Würzjoch. Dieser etwas abgelegene Pass verbindet das verkehrsreiche Eisacktal mit dem Gadertal. Das Besondere am Würzjoch: Mehrere Zustiege von beiden Seiten bilden ein eigenes kleines Netzwerk aus überwiegend schmalen Nebenstraßen, ein Paradies für Pässefahrer. Gleich der erste Anstieg schlängelt sich kaum einspurig durch Almwiesen empor, passiert prächtige Bergbauernhöfe und durchquert urige Weiler. Bald rückt der Peitlerkofel ins Blickfeld, der wegen seiner steilen Nordabbrüche als nordwestlicher Eckpfeiler der Dolomiten bezeichnet wird. Seine markante Gestalt wird uns auch auf dem Rückweg Orientierung bieten.
Die Hochfläche an der Passhöhe des Würzjochs ist ein Naturjuwel ersten Ranges. Es folgt eine technisch anspruchsvolle Abfahrt auf holperigem Belag durchs abgelegene Lüsental, die oberhalb von Brixen abrupt endet. Eine steile Rampe zweigt links ab, und es beginnt die Querung des Brixener Hausbergs, der Plose. Ständige Tiefblicke ins Eisacktal verschönern das anstrengende Auf und Ab. Der auf einer Terrasse liegende Ort Sankt Andrä lädt ein zu einer Rast, bevor es noch einmal zum Würzjoch hinaufgeht – ein fast 24 Kilometer langer Anstieg, geprägt von zahlreichen Wellen und Zwischenabfahrten, an dem von rechts die berühmten Geislerspitzen herübergrüßen und auch der Peitlerkofel am Horizont als Wegmarke auftaucht. Man weiß, erst an seinem Fuß ist das Würzjoch erreicht. Bis dahin heißt es: stark bleiben!
67 Kilometer | 1880 Höhenmeter | maximal 10 % Steigung
Die Sella Ronda, die Runde um das Bergmassiv der Sellagruppe, zählt zu den berühmtesten Rennradtouren in den Alpen. Mindestens so berühmt ist sie unter Skifahrern, denn die Sella-Umrundung ist mithilfe von Liften auch im Winter möglich. Und auch wenn viele Radler diese Tour vielleicht bereits kennen – sie ist immer wieder ein Genuss. Kaum irgendwo sonst in den Alpen kann man vier Pässe zu einer so kompakten Rundtour aneinanderreihen. Noch dazu drei der namhaftesten: Sellajoch, Passo Pordoi und Grödnerjoch. Der vierte im Bunde, der Passo di Campolongo, zählt eher zur Kategorie “beschaulich”.
Eine weitere Besonderheit ist, dass die Anstiege nicht schwer zu bezwingen sind. Selbst Pass-Neulinge mit guter Grundkondition können die Runde mit entsprechender Bergübersetzung schaffen. Besonders, wenn sie gegen den Uhrzeigersinn fahren. Dann wird die harte Südrampe des Sellajochs, als steilste Passage der Runde, zur rauschenden Abfahrt. Auf der Sellarunde erwarten uns zahllose Serpentinen und Schauplätze legendärer Dramen des Radsports. Hinter jeder Kurve öffnen sich die großartigsten Panoramen. Man passiert hautnah markante Felszacken wie Langkofel und Sassongher oder an der Südflanke des Sellastocks Felswände von beeindruckender Dimension. Nicht zu vergessen: der Blick nach Süden auf den Gletscher der Marmolada (3343 m), des höchsten Berges der Dolomiten.
97 Kilometer | 2700 Höhenmeter | maximal 10 % Steigung
Der Höhepunkt dieser Runde, der 2236 Meter hohe Passo di Giau, ist ein potenzieller Anwärter auf den Titel des schönsten Dolomitenpasses. Zum einen liegt er etwas abseits der stärker frequentierten Sella Ronda, zum anderen macht die Kletterei auf einer schmaleren Straße einfach viel Spaß. Zudem ist die Landschaft am Passo di Giau auf ihre ganz eigene Art reizvoll. Rund um die Passhöhe spannen sich Almwiesen, überragt von den Felsnadeln der Ra Gusela und den Cinque Torri. Doch bevor die Runde den Giau erreicht, gilt es, den Passo Valparola zu überqueren, der ebenfalls die 2.000er-Marke knackt. Keine leichte Aufgabe also, zumal am Ende noch der 1875 Meter hohe Passo di Campolongo auf die müden Beine wartet.
Der Auftakt durchs idyllische hintere Gadertal bietet Gelegenheit zum Einrollen, denn die Nordrampe des Valparola wird mehrmals von Flachstücken unterbrochen. Erst die letzten fünf Kilometer bis zur Passhöhe erfordern ständig kleine Gänge. Vorbei an den Kriegsschauplätzen am Lagazuoi fällt die Straße nach dem höchsten Punkt nur kurz in die Tiefe, dann endet die Valparola-Scheitelstrecke unmittelbar am Passo Falzarego. Die Abfahrt nach Cortina d’Ampezzo rollt perfekt auf glattem Asphalt. Auf ihr heißt es: ausruhen für den Passo di Giau, dessen knapp 800 Höhenmeter kurz vor Erreichen des Olympiaortes beginnen. Während die untere Hälfte des Anstiegs hauptsächlich im Wald verläuft, ist die Scheitelstrecke durch die offene Bergwelt ein Fest für die Sinne.
105 Kilometer | 3000 Höhenmeter | maximal 15 % Steigung
Mit einer Höhe von 3343 Metern ist die Marmolada der höchste Berg der Dolomiten. Von fast jedem Dolomitenpass aus ist ihre weiß strahlende Gletscherflanke zu sehen. Besser gesagt, das, was von dem Gletscher noch übrig ist. Laut Glaziologen wird das Eis in rund 30 Jahren verschwunden sein; erst am 3. Juli 2022 brach ein riesiger Block heraus und riss elf Bergsteiger in den Tod. Wie weit das Eis vor nicht einmal 200 Jahren hinunterreichte, kann man am 2054 Meter hohen Passo Fedaia sehen, über dem Felsplatten den einstigen Gletscherschliff zeigen.
Mit einer Durchschnittssteigung von mehr als acht Prozent zählt die Ostrampe des Fedaia zu den schwersten Anstiegen in den Dolomiten, sie ist auch landschaftlich schöner als der Westanstieg von Canazei. Wer zum Fedaia abkürzen will, kann auch über den Passo di Campolongo fahren, was aber nur wenige Höhenmeter im Vergleich zum schöneren Passo Valparola spart. Außerdem ist die von uns empfohlene Abfahrt via Valparola und Falzarego hinunter nach Saviner di Laste purer Genuss. Danach beginnt der Anstieg zum Fedaia moderat. Auf halber Strecke, in Sottoguda, bot sich für viele Jahre eine schöne Variante an – ein nur für Fußgänger und Radfahrer geöffnetes Sträßchen kletterte spektakulär durch die Schlucht von Sottoguda.
Leider zerstörte 2018 ein Unwetter das Sträßchen. Die Renovierungsarbeiten laufen, die Schlucht soll in nicht allzu ferner Zukunft wieder befahrbar sein. Kurz oberhalb der Stelle, wo das Sottoguda-Sträßchen wieder in die Passstraße mündet, liegt die Talstation der Marmolada-Seilbahn. Ab dort macht die Fedaia-Ostrampe ernst, verlässt nicht mehr den zweistelligen Steigungsprozentbereich und erreicht an den steilsten Stellen 15 Prozent. Für den Rückweg gibt es ab Canazei wieder zwei Möglichkeiten: steiler über Sella- und Grödnerjoch oder etwas leichter über Pordoi und Campolongo. Insgesamt aber eine schwere Runde, egal wie man es dreht.
Pässetouren in den Dolomiten haben ihren eigenen Reiz. Zum einen die wunderbare Mischung aus Almwiesen und schroff aufragenden, hellen Felsen, zum anderen das relativ dichte Straßennetz und die hohe Anzahl der Passübergänge, die oft nah hintereinander folgen. Entsprechend vielfältig sind die Möglichkeiten, die Pässe zu Rundtouren zu verbinden. Man muss sich aber im Klaren darüber sein, dass es in den Dolomiten nur bergauf oder bergab geht. Und auch wenn die Anstiege nicht zu den schwersten und längsten in den Alpen zählen, ist es kaum möglich, Tagesrunden unter 2500 bis 3000 Höhenmetern zu planen.
Extrem steile Rampen findet man eher in der Nähe von Etsch- und Eisacktal. Im vorgestellten Tourenrevier tanzt lediglich der Passo Fedaia mit bis zu 15 Prozent steilen Rampen auf der Ostseite aus der Reihe. Und der Passo di Giau ist von Süden her auf knapp zehn Kilometern durchgehend steil (bis zu 15 Prozent); unsere Tour 3 nimmt aber den moderateren Anstieg von Nordosten. Ansonsten fahren sich die meisten Anstiege bei durchschnittlich fünf bis acht Prozent Steigung aber recht angenehm.