TOUR-Leserin Ines Brückle treibt eine ganz besondere Leidenschaft an: In diesem Jahr ist sie zum 36. Mal aufs Stilfser Joch gefahren.
Text: Ines Brückle
Wir stehen oben auf 2800 Metern hinter der Tibethütte und schauen gen Ortlermassiv. Ein bisschen verdutzt, ein bisschen fassungslos darüber, das Unfassbare, zumindest für Menschen wie du und ich, doch wieder einmal bewerkstelligt zu haben, zum 36. Mal. Allein nur die oberen 22 der insgesamt 48 Kehren, die wir von unserem Aussichtsplatz sehen, erscheinen so unendlich, so unwirklich.
Um 6 Uhr waren wir beide in unserer Ferienwohnung in Prad wach geworden. Müslifrühstück und Spiegeleier sind unser Starter in einen Tag, der es in sich haben wird. Wir, der 71er Bernhard und die 65erin Ines, die es noch einmal wissen wollen. Zeit lassen. Pausieren. Fotografieren. Aussicht genießen. So ist der Plan, der uns aufs Stilfser Joch bringen soll.
Die Strecke bis Stilfserbrücke ist schön zu fahren, seit hier ein Radweg über dem Suldenbach hängt. Nach dem Ortsausgang von Prad passieren wir wie jedes Jahr die „Knochenskulpturen“ im Freilichtmuseum des Lorenz Kuntner. Eine bunte Abwechslung und Gesprächsthema für die nächste Viertelstunde. Die sieben Kilometer nach Gomagoi ziehen sich trotzdem, die Aussicht auf einen Espresso wirkt wie ein Magnet. Dann auf nach Trafoi zur Bella Vista. Da lassen sich die schönsten Fotos der ersten Jochhälfte machen. Ein bisschen showmäßiger Wiegetritt gehört dazu.
Im serpentinenreichen Wald oberhalb kennen wir jede Kurve. Jetzt kommt gleich das Nationalpark-Werbeschild mit dem Fuchs, zwei Kehren höher erinnern immer noch Riefen im Asphalt an ein überlanges Wohnwagengespann, das hier mal entlangschrammte und für mindestens eine Stunde die Auffahrt für vierrädrige Fahrzeuge blockierte. Stories, die uns die Zeit verkürzen, während wir uns gleichmäßig bergan kämpfen. Gleich wird die 14-Prozent-Steigung am „Weißen Knott“ ein paar Zusatzkörner verlangen. Besser schon drei, vier Kehren vorher einen Riegel einwerfen!
Das Stilfser Joch fahre zumindest ich mit dem Kopf. Ich will da rauf, also trapse ich da rauf. Mir gefällt die Vorstellung, etwas Ungewöhnliches aus eigener Kraft zu schaffen. Vielleicht heute zum letzten Mal? Der Gedanke fährt seit etwa fünf Jahren mit. Wie lang geht es noch? In welchem Alter sollten wir unserem Körper solch einen Einsatz nicht mehr abverlangen?
Mein Sohn Martin kommt mir in den Sinn, er läuft Ultramarathons und geht da auch mal über seine Grenze. Dann muss er auch mal pausieren, auch wenn es ihn noch so nervt. Er würde jetzt sagen: „Freilich schaffst du das, Mutter“ - und bei dem letzten Wort würde er mir zuzwinkern.
Nun gut, also weiter – oder doch erst einmal nicht? Manchmal hat es keinen Sinn, sich gegen den Körper zu stellen. Allein mit dem Kopf geht’s halt dann doch nicht. Den braucht man, um nach der erzwungenen Pause wieder an das Ziel zu glauben.
Als ich kurz vor der Franzenhöhe (2188 Meter) doch die dünner werdende Luft spüre – das Herz schlägt wie wild und die Beine fühlen sich nicht so an, wie sie sollen – steige ich ab und gönne mir eine längere Pause. Besser mal am Rand an einer Kehre hinsetzen und den Puls runterkommen lassen. Trinken, zum Essen zwingen.
Bernhard dagegen scheint seine Atemschwierigkeiten im Griff zu haben. Unten, nach nur zwei Kilometern, meinte er, er könne jetzt nix reden, brauche die Luft zum Fahren. Gestern auf der Probefahrt mit nur 400 Höhenmetern lief es bei ihm nicht so gut, war allerdings auch 10 Grad wärmer. Er macht dann einfach richtig langsam, schaut nur auf den Puls, nicht auf den Tacho. Jetzt erscheint er mir fitter als ich, fährt trallala zum nächsten Motiv seiner To-Do-Liste am Stilfser Joch.
Zur Erklärung: Mein Mann liebt Projekte. Nur das Joch reicht ihm nicht. Dieses Jahr hat er rund 20 alte Aufnahmen aus den Jahren 1979 und 1980 dabei und will an genau den Stellen wieder ein Bild machen. 1979 war er das erste Mal alleine auf dem Stilfser Joch. 1980 das erste Mal mit mir.
Da muss ich auch immer wieder dran denken, wie alles begann … Und es läuft wieder, die Erholung hat gut getan und vielleicht auch der Riegel, auf den ich gar keine Lust hatte. Schon liegen sie vor mir, die oberen 22 Kehren. Wie Korkenzieher schrauben sie sich gen Himmel. In jeder sitzen ein kicherndes feixendes Teufelchen und ein motivierend winkendes Engelchen. Ersterem die Zunge rausstrecken und Letzterem danken, ist meine Methode.
Hach, herrlich, endlich Kehre 19, also unter 20. Die lange Querrampe läuft erstaunlich gut. Bernhard meint, ich sei flott drauf. Na, wenn er das glaubt! In Kehre 16 hockt er grinsend auf der Randmauer und spielt Paparazzo. Klick, klick, klick - Mindestens 16 Bilder von mir. Ich muss lachen und das macht sich auf den Aufnahmen echt hübsch.
Rauf, immer weiter rauf, gen Himmel fahren wir. Die Kehren 10, 9, 8, 7, 6. Irgendwie werden die Dinger immer steiler. Aber das merken andere auch. Schwankend zieht ein ambitionierterer Rennradler im Teamtrikot an mir vorbei. Der keucht mehr als Bernhard oder ich. Ruft aber trotzdem ein anerkennendes „Brava“ (Tapfere).
Überhaupt, fast jeder Überholer schaut erst auf mein Tretlager, dann in mein Gesicht und hat irgendwas Nettes in irgendeiner Sprache auf Lager. Manch einer fragt auch, ob man das Wasser der Brunnen an der Strecke denn echt trinken könne oder wird erst durch mein Rumgeturne auf ein lohnendes Fotomotiv aufmerksam. Kleine Wortwechsel würzen die Mühen des Aufstiegs schon sehr.
Die gefürchteten Kehren 4 und 3 haben es in sich, irre steil. Und dann, mit Elton-John-Sound erklimmen wir nebeneinander die letzten beiden engen Kurven und haben es geschafft. Wieder einmal. Und nein, es wird nie langweilig. Und ja, es ist die tollste Sache überhaupt, so eine Leidenschaft zu teilen.
Anstrengend, aber sehr befriedigend. Klar, dass wir uns noch die zusätzlichen 43 Höhenmeter zur Tibethütte geben. Aber erst einmal noch ein Erinnerungsfoto beim Wärschtlamo am Joch. Da gibt es nämlich auch ein Bild von 1980.
Wir sind stolz aufeinander. Stolz trägt, Stolz motiviert. Bussi, Erinnerungsfoto wie in alten und auch jungen Zeiten. Geschafft, in doppeltem Sinn. Wir sind bei einer kurzen Regenstrecke unten bei Trafoi nicht umgedreht. Wenn‘s ganz blöd gekommen wäre, hätten wir am Weißen Knott oder auf der Franzenshöhe übernachten können. Geflucht haben wir freilich, ich hab‘ schon überlegt, dass wir uns oben am Joch neue trockene Klamotten kaufen, es irgendwie durchziehen, so lange der Regen nur so leicht bleibt und die Temperaturen nicht zu stark absinken. Doch dann klarte es auf. Wetter in den Bergen, auch das ist immer wieder eine elementare Größe.
Hinter der Tibethütte ziehen wir alles über, was wir mit raufgebracht haben. Es sind 9 Grad und bei der Abfahrt wird das noch kälter wirken. Nun heißt es, noch einmal alles an Konzentration zu bündeln. Aber das kriegen wir auch gar hin. Über den Umbrailpass geht es ins Müstairtal hinab und weiter an der Etsch entlang nach Prad zurück. Wie ein Traum wirkt die Erinnerung, dass wir vor knapp zwei Stunden und 46 Kilometern noch rund 1900 Meter höher waren. Wir haben die Tour unseres Lebens zum 36. Mal bewältigt.
Vermessenheit, Verrücktheit, Leidenschaft, Liebe – keine Ahnung, was es ist, das uns immer wieder zu „unserem“ Joch zieht. Wir sehen uns als Normalos, sind keine ambitionierten Sportler. Wir machen einfach, was uns Spaß macht. Radfahren ist für uns ein Lebenselixier. Unsere gemeinsame Passion seit fast 50 Jahren.
Training, Testfahrten und Konditionsaufbau holen wir uns alljährlich auf vertrauten Runden mit Höhenmetern und Langstrecken rund unsere Heimatstadt Rehau, im angrenzenden Fichtelgebirge, in der Fränkischen Schweiz und im Maintal.
Für unsere Tour aufs Joch sind wir bewusst schon zwei Tage vorher angereist, kleine Runden gefahren. „Akklimatisation“ heißt das Zauberwort. Erst unterwegs kann man dann sagen, ob ich oder mein Mann oder idealerweise beide heute „gute Beine“ haben, wie es im Giro- und Tour-Jargon heißt.
Bisher haben wir es jedenfalls jedes Mal geschafft. Meistens sind wir mit Euphorie, im Flow, Händchen haltend oder mit Siegesgeste, mit Musik von Bernhards Handy am Passo di Stelvio angekommen und gleich noch Richtung Tibethütte weitergestrampelt, um auf 2800 statt nur 2757 Metern unseren Triumph zu feiern. Den Triumph über Bedenken, Zweifel, Begrenztheit. Manchmal denke ich, dass es das letzte Mal war, und fahre dann im gleichen Jahr oder auf jeden Fall im nächsten wieder hoch. Nur um noch einmal dieses erhebende Gefühl auszukosten, mit eigener Kraft auf den Traumpass vieler Radfahrer gekommen zu sein.
Die Passstraße über das Stilfser Joch besteht seit 200 Jahren. Aus diesem Anlass findet dieses Jahr eine Reihe von Veranstaltungen statt.