Schüler-Etappenfahrt zum Mont Ventoux

Kristian Bauer

 · 15.09.2023

Rennradberg Mont Ventoux
Foto: Witters / Fred Porcu
Die Schüler-Etappenfahrt zum Mont Ventoux ist das Projektseminar Erlanger Gymnasiasten. Eine sportliche Herausforderung bei der sie mehr lernen als Wiegetritt und Schlauchflicken.

Der Mont Ventoux hat schon viele Radrennfahrer gebrochen: Flimmernde Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Tom Simpson in Schlangenlinien die Straße hochschleichen, bevor er vom Rad kippt und stirbt. Auf vielen Fotos von der Tour de France ziehen Fahrer in der Hitze hilflos am Lenker und stieren mit leerem Blick auf die Rampe vor ihnen. Niemand wird den Ventoux unterschätzen – er ist ein Radsportmythos. Auch 23 Schülerinnen und Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Erlangen wollen ihn bezwingen. Sie sind Teil des Projekt-Seminars „Rennrad-Etappenfahrt“, die vor ihrer Schultür beginnt und bis auf den Gipfel des Mont Ventoux führt. „Von null auf Ventoux“, könnte man ihr Projekt auch nennen: Niemand in der Gruppe hat Rennraderfahrung.

Rennrad-Etappenfahrt oder auch “von null auf Ventoux”

Organisator Christian Jechnerer, sein Rennradkumpel Benny Wagner und Sportlehrerin Verena Löffler wollen dafür sorgen, dass dennoch alle ihren Gipfelerfolg erzielen. Rein optisch wirken die 23 Schülerinnen und Schüler wie eine eingespielte Rennrad-Equipe: Beim Start der Schüler-Etappenfahrt in Erlangen tragen alle das einheitliche Team-Outfit, in geordneter Zweierreihe fahren sie vom Schulhof. Eltern und jüngere Schüler verabschieden die Gruppe unter Applaus. Seit 2013 findet die Etappenfahrt nach Frankreich statt, alle zwei Jahre - nur Corona erzwang eine Pause. Jule Baier kann sich noch gut erinnern, wie sie als Fünftklässlerin zuschaute, als die „Großen“ losfuhren – heute ist die 17-Jährige selbst dabei. Erfinder und Motor der Etappen fahrt ist Französischlehrer Christian Jechnerer - seine Liebe zu Frankreich und zum Rennrad inspirierte ihn zu dem Projekt. Im P-Seminar beginnt die Arbeit Monate vor dem Start: Planung der Strecke, Unterkünfte suchen, Sponsoren anwerben und besuchen, Trikots bestellen - und vor allem Radtraining. Es sind ganz normale Schüler, die sich für das Seminar bewerben, keine erfahrenen Rennradler.

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Schüler entdecken das Rennrad

So wie Sophia Becker: Die 17-Jährige spielt Handball als Leistungssport und kann ihren kräftigen Körper dort gut einsetzen. Obwohl gut trainiert, bringen sie auf dem Rad die kleinen Anstiege auf dem Weg nach Pforzheim gehörig ins Schwitzen. Links und rechts der Straße liegen ausgedörrte Felder, die Sonne brennt vom Himmel und heizt den Asphalt auf – mehr als 40 Grad zeigt der Radcomputer. Immer wieder ragen Stiche mit zweistelligen Steigungsprozenten auf. Sophias Respekt vor dem Mont Ventoux wächst. Wenn die kleinen Hügel schon so weh tun – wie wird es dann erst am großen Berg? Sie sitzt auf einem älteren Alu-Renner, den sie von einem Mitschüler, der vor vier Jahren mitgefahren ist, gebraucht gekauft hat. Gebrauchte Räder sind Standard bei der Schüler-Etappenfahrt, ebenso wie Alu-Rahmen und Felgenbremsen. Plötzlich ruft Sophia laut nach vorne: Reifenpanne – mal wieder. Ihre 23 Millimeter schmalen Reifen sind ziemlich abgefahren, aber sie weiß, was zu tun ist: Rad raus, Schlauch wechseln, wieder aufpumpen. Die Schüler haben in der Vorbereitung handwerkliche Fähigkeiten und Teamwork gelernt. Ganz selbstverständlich reicht jemand seine Pumpe, und eine andere Mitfahrerin hält das Rad.

Schüler-Etappenfahrt als Intensivkurs

Als erfahrener Rennradler und Lehrer weiß „Directeur sportif“ Christian Jechnerer natürlich, dass man im Sport, im Radsport zumal, fürs Leben lernen kann. Teamfähigkeit, Kommunikationstalent und Empathie sind „soft skills“, die den Schülern nicht nur später im Arbeitsleben nützlich sein werden. Insofern ist das Rennrad-Abenteuer auch ein Intensivkurs in sozialer Kompetenz – in zehn Etappen. Raphael Rogner gefällt das. Jahrelang hat er Judo trainiert, war dann aber genervt von der Ego-Kultur im Sport. Rennradfahren in der Gemeinschaft hingegen „macht großen Spaß“, freut er sich. Er gehört zu den Fitten in der Gruppe, fährt oft an der Spitze und lange im Wind. Zuverlässig gibt er Handzeichen, wenn Straßenschäden oder Hindernisse auftauchen. Wenn es bergauf geht, lässt er sich zurückfallen und schaut, ob schwächere Mitradler Hilfe gebrauchen können. Auf der dritten Etappe schlängelt sich die Straße leicht ansteigend durch elsässische Weinberge. Am Ende des Pelotons wird das Schnaufen lauter. Sophia fällt zurück, Benny Wagner schiebt sie immer mal wieder ein wenig. Er ist jahrelang Radrennen gefahren und als Begleiter dabei. Nach den vergangenen heißen Tagen ist der Himmel bewölkt. Auf einem Parkplatz wartet das Begleitfahrzeug mit der Mittagsverpflegung: Fruchtsaft, Brot, Käse und Wurst sowie Obst stehen zur Stärkung bereit. Es ist kalt, die Mädels wickeln sich in Decken. Noch rund 50 Kilometer bis Straßburg.

Schülergruppe am Mont VentouxFoto: Witters / Fred PorcuSchülergruppe am Mont Ventoux

Bildungs- und Erholungstag

Am Sitz des Europäischen Parlaments ist der folgende ein Bildungs- und Erholungstag zugleich. Von ihrer Unterkunft in einer Jugendherberge radelt die Truppe zum EU-Parlament, wo eine Führung gebucht ist. Damit dabei schöne Fotos für die Sponsoren entstehen, treten die Jugendlichen den Rundgang durchs Parlament in Radtrikots an. Nachmittags haben die Schüler Zeit zur freien Verfügung. Die körperlichen Strapazen meistern sie bisher ohne große Probleme – nur einer musste erkältet aussteigen. Nach der dritten Etappe der Schüler-Etappenfahrt machen allerdings nicht die Beine, sondern die Motoren schlapp: Beide Begleitfahrzeuge bereiten Probleme. Während die Schüler ihre freie Zeit genießen, telefonieren die Betreuer unentwegt, um eine Lösung für das Problem zu organisieren. Das Budget des P-Seminars ist knapp bemessen, einfach einen Mietwagen zu buchen, ist nicht drin. Zum Glück stellen letztlich die Eltern eines Schülers ihr Auto zur Verfügung – aber es muss in Erlangen abgeholt werden.

Wenig Unterstützung für die Schüler-Etappenfahrt

Dass das Projekt sparsam wirtschaften muss, zeigt sich auch in Mulhouse: Das Hotel am Rande des Industriegebiets ist ein größerer Wohncontainer, aus den offenen Fenstern schauen Männer in Unterhemden neugierig auf die Gruppe. Abends essen die Jungs und Mädchen auf dem Parkplatz – Couscous aus dem Supermarkt, mitgebrachter Käse und Wurst. Am selben Platz gibt es in der Früh Müsli und Brot. Low-Budget ist das Grundprinzip der Schülerfahrt – anders geht es nicht. Immer wieder versuchte Christian Jechnerer, Zuschüsse zu bekommen, meistens vergeblich. Während Theateraufführungen oder Zugfahrten nach Berlin bekannte Muster erfüllen und finanzielle Zuwendungen erhalten, ist die Schüler-Etappenfahrt nach Frankreich selbst dem Deutsch-Französischen Jugendwerk keine Unterstützung wert. So bleibt nur, über Trikotwerbung Sponsorengelder zu sammeln und möglichst günstig zu planen. Privatautos von Eltern oder Firmenfahrzeuge von Sponsoren und ehrenamtliche Begleiter sind die Voraussetzung - die beiden Lehrer müssen sogar den Teilnehmerbeitrag von 500 Euro selbst bezahlen. Niemand vergütet ihnen den Mehraufwand, der über ihre regulären Unterrichtsstunden hinausgeht. Auch die beiden Fahrer der Begleitautos engagieren sich ehrenamtlich: Sie transportieren das Gepäck und richten am Mittag die Verpflegungsstelle ein.

Schüler-Etappenfahrt mit Bildungsauftrag

Neben dem Sport verfolgt Organisator Jechnerer auch ziemlich konsequent seinen Bildungsauftrag. Die Besichtigung der Straßburger Altstadt, ein Besuch des Geburtshauses von Albert Schweitzer, ein Schlenker durch das historische Colmar, die romanische Abteikirche Saint-Philibert in Tournus oder der römische Tempel in Vienne – nicht immer löst das bei den erschöpften Schülern Begeisterungsstürme aus. Wie weggewischt ist die Müdigkeit aber, als die erste Gruppe spitzkriegt, dass die Tour de France gerade in der Nähe ist. Nach 30 Kilometern Umweg stehen sie tatsächlich an der Strecke, Werbekarawane und Profi-Peloton zum Greifen nah. Der Anblick ist aber hart erarbeitet: 175 statt der geplanten 140 Tageskilometer stehen am späten Abend auf dem Tacho. Bislang waren die Etappen zwischen 93 und 155 Kilometer lang und führten über bis zu 1450 Höhenmeter. Keiner der Radsport-Schüler hat zuvor jemals so viele Kilometer auf dem Rad zurückgelegt. Das radelnde Klassenzimmer teilt sich meist: in eine etwas schnellere „Gruppe 1“ und eine etwas sozialere „Gruppe 2“, die sich an Langsameren orientiert. Die zwischen die zehn Etappen eingestreuten Ruhetage haben aber beide Gruppen gleichermaßen nötig. Besonders, nachdem – glimpflich verlaufene – Stürze zusätzliche Kraft gekostet haben. Das Erholungsprogramm: Stadtbummel, gemeinsames Kochen oder essen gehen, ein Bad im Swimmingpool des Campingplatzes, Musik hören oder einfach nur in der Hängematte liegen. „Ich habe vor allem viel geschlafen“, meint Raphael.

Finale der Schüler-Etappenfahrt am Mont Ventoux

Das macht er auch am Morgen der letzten Etappe und kommt verspätet zum Frühstück, bei dem es an den Tagen zuvor selten so still war. Sophia und Jule schauen konzentriert auf den Tisch, ihre Gedanken kreisen nur um eines: Heute geht es zum Mont Ventoux. Vor zwei Tagen hatte sich der „Géant de Provence“ bereits als einsamer Bergriese am Horizont abgezeichnet – heute steht die ultimative Kletterprüfung an. Drei Anstiege führen auf den Mont Ventoux; die Schüler wählen den längsten, aber flachsten Weg über Sault und das Chalet Reynard. Rund 25 Kilometer und 1200 Höhenmeter sind es bis zum höchsten Punkt. Die Angst der meisten war, dass die Beine schlappmachen, aber jetzt sind es die Reifen, denen die Luft ausgeht. Zwölf Schüler ziehen Reißnägel aus ihren Pneus – man kann nur vermuten, dass der explosiv gewachsene Rennradtourismus in der Region um den Ventoux der Grund für die Reißnagel-Sabotage ist. Am Fuße des Anstiegs noch einmal Pause. Die nächsten 19 Kilometer verlaufen durch den Wald und sind noch nicht allzu steil. Die Schüler dürfen jetzt ihr Tempo fahren. Raphael nutzt die Gelegenheit und macht sich mit drei anderen davon. „Ich konnte sogar auf dem großen Blatt fahren“, berichtet er später stolz. Auch Jule fährt weit vorne in ihrem Tempo und fühlt sich so fit wie nie zuvor. Sophia radelt weiter hinten und bewusst kontrolliert.

Wind am Mont Ventoux

Am Chalet Reynard trifft sich die Gruppe und stärkt sich noch einmal. Den schwierigsten Abschnitt bis zum Gipfel wollen alle gemeinsam fahren. Der Ventoux zeigt sich so, wie man ihn von Fotos kennt: rechts der Straße die steinigen Hänge, weit vorne ragt der weiße Turm des Observatoriums in den Himmel. Von vorne bläst starker Wind, die Führenden müssen kräftig treten. Raphael fährt dahinter, ihm kommt es vor, „als ob wir stehen“. Sophia hängt am Ende der Gruppe, Verena schiebt sie gelegentlich. Die Steigung pendelt zwischen fünf und zwölf Prozent. Die Gruppe fährt betont langsam, damit alle mitkommen. 2200 Höhenmeter haben sie bereits in den Beinen, dann liegt das Ziel in Sichtweite: Nachdem auch die letzte steile Rampe vor dem Passschild bezwungen ist, breitet sich bei allen ein Gefühl der Freude und des Stolzes aus. „Das langsame Tempo am Schluss hat etwas genervt, aber es war gut für das Erlebnis als Gemeinschaft“, meint Jule, während kühle Böen über den Parkplatz vor dem Observatorium jagen. Die Freude wird von der Kälte verdrängt – es wird Zeit, abzufahren. Richtige Freude über die Leistung kommt erst bei der Rückkehr an der Unterkunft auf. Endlich fällt der Druck ab.

Positives Fazit der Schüler-Etappenfahrt

„Alle haben gesagt, dass der Ventoux so schwer ist“, meint Raphael, „aber es gab anstrengendere Etappen.“ Sein Fazit: „Es war schön mit meiner Gruppe, und ich werde auf jeden Fall weiter Rennrad fahren. Ich habe schon mit zwei Freunden einen Radurlaub ausgemacht.“ Ähnlich denkt auch Jule: „Ich bin sehr, sehr froh, dass ich die Fahrt gemacht habe. Das Erlebnis in der Gruppe ist ein besonderes Gefühl.“ Auch Sophia blickt positiv auf die Zeit zurück: „Wir sind richtig zusammengewachsen.“ Ihr Highlight war die Fahrt auf den Mont Ventoux: „Am Anfang hätte ich nicht gedacht, dass ich es schaffe, aber jetzt bin ich stolz auf mich.“ Durchgefallen ist keiner bei der praktischen Kletterprüfung – alle haben es geschafft. Im Paket mit zehn Etappen, 1300 Kilometern und 10.500 Höhenmetern haben sie eher nebenher viel über Kommunikation, Teambuilding und praktische Organisation gelernt. Wenn Schule fit machen soll fürs Leben, dann hat die Etappenfahrt nach Frankreich für 22 Jugendliche aus Erlangen ganz bestimmt ihren Teil dazu beigesteuert. Damit wäre Christian Jechnerers wichtigstes Anliegen auch erfüllt: „Erstes Ziel war, dass es alle bis oben vor das Passschild schaffen. Aber für mich als Pädagoge ist wichtiger, was ich abends gesehen habe: lauter Gesichter mit einem Lächeln. Das Glück, es in der Gemeinschaft geschafft zu haben, ist am wichtigsten.“

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