USA: Route 66

Die Route 66 ist ein Sinnbild für das motorisierte Amerika. Radler, die sich dennoch auf diese Straße wagen, werden respektiert wie Außerirdische. TOUR hat die 2.400 Meilen unter die Räder genommen.

Vor dem Kunstmuseum in Chicago stehen zwei grüne Löwen. Sie stellen unternehmungslustig ihre Schwänze und blicken nach Westen. Hier beginnt die Route 66.

Als ich in den Morgenverkehr einfädle, ist mir mulmig in der Magengegend. Schwach und einsam fühle ich mich, denn Meile um Meile lässt sich kein anderer Radler blicken. Die Fahrbahn ist voller grausamer Schlaglöcher und mörderischer Abflussgitter, wie Gebirge türmen sich links und rechts die Hochhäuser, in deren Fenstern sich die Morgensonne spiegelt. Es ist gigantisch, und es ist schön. Doch ich muss mir Mut machen: “Frisch gewagt, ist halb gewonnen” und ähnlichen heroischen Quatsch flüstere ich mir zu. Da fühle ich den festen Blick der beiden Löwen im Rücken, und zum Glück treffe ich in drei Wochen meinen Freund Pete, der ab Albuquerque, New Mexico, das letzte Drittel mitfahren wird.

Um Chicago hinter sich zu lassen, radelt man einen halben Tag lang. Endlos sind die Avenuen und Boulevards, aussichtslos scheint das stundenlange Strampeln zwischen Einkaufszentren, Fabrikgeländen und Autohalden. Amerika ist Auto, nichts als Auto. Die Lenker sind aber so rücksichtsvoll, dass der europäische Fahrstil im Vergleich dazu barbarisch anmutet. Als Radler kommt man auch in den USA zurecht. Wenn man es spielerisch angeht, macht es sogar Spaß – und das Moloch-Erlebnis hat man auf der Route 66 ein halbes Dutzend Mal.

So schwindelerregend die Metropolen sind, so befreiend ist die Weite im Land. Illinois ist flach, ein schöner Rückenwind streicht über die erbsengrünen Felder, der Himmel mit breit ausladenden Wolkenbalken ist unendlich, der Horizont sieht aus wie weggebrochen. Da ist keine aufregende Landschaft, die einem den Blick verstellt. Der Radler empfindet eine Leere und zugleich eine Fülle. Nichts und alles gleichzeitig. Legt man sich ins Gras und blickt in den Himmel, spürt man nach ein paar Minuten die Tiefe des Alls. Man kann hinausblicken zu den Sputniks und Apollos. Beim Vorschlag, mit dem Rad die Route 66 zu befahren, hatten sogar die treuesten Gefährten abgewunken. “Was gibt es denn da zu sehen?”, fragten sie, weil sie sich nur Niagarafälle, Freiheitsstatue und Death Valley vorstellen konnten. Wer sich auf touristische Hübschheiten versteift, wird diesen Hunger auf der Route 66 schwerlich stillen können. Wer sich von ihnen verabschiedet, bekommt eine unvergessliche Welt- und Selbsterfahrung geschenkt.

Die Route 66 ist ein Symbol für den Drang nach Westen, die Sehnsucht nach Kalifornien, dem Gelobten Land. Aus diesem Grund ist klar, dass man sie von Ost nach West befährt. Doch manchmal muss man die “Mutter der Straßen” suchen, Anwohner nach dem Verlauf fragen. Auf der ganzen Strecke entdeckt man immer wieder schön restaurierte Abschnitte der ursprünglichen Chaussee aus den 1920er- und 30er-Jahren.

Die gesamte Reisestory finden Sie unten als PDF-Download.

Die Route führt von Chicago über St. Louis, Amarilla, Alpuquerque, Needles nach Santa Monica. 

Buchtipp: Thomas Schröder:

"Cycling 66 – mit dem Fahrrad von Chicago nach L.A."

Das detaillierte, aber längst vergriffene Roadbook (leider Stand 1994) kann man über die Website www.bikeamerica.de bestellen – als Fotokopie zum Selbstkostenpreis von 5 Euro inkl. Porto.

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  Ende der Strapzen :Pete Mijnssen (links) und Autor Dres Balmer gönnen sich einen Margarita am Pazifik bei Santa Monica/Los Angeles
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