Andreas Kublik
· 18.11.2022
Im Jahr 2016 gab es schon einmal eine Weltmeisterschaft in Katar: die der Straßenradsportler. Sie war eine Art Generalprobe für die diesjährige Fußball-WM. TOUR hat sich vor sechs Jahren in der dortigen Radszene umgesehen und Extremes erlebt - in Sachen Klima wie beim Gefälle zwischen Topverdienern und schlecht bezahlten Dienstleistern.
Wie ein Feuerball klettert die Sonne zwischen den beiden Hochhaus-Türmen empor, die das Portal zur künstlichen Insel The Pearl bilden. Das Minarett der nahegelegenen Moschee zeichnet sich scharf gegen den silbrig-roten Morgenhimmel ab. Es ist eine schöne, ruhige Stimmung an diesem Freitagmorgen im Oktober 2016 am Rande von Doha in Katar. Kurz vor sechs Uhr morgens.
Unten auf dem Parkplatz an der Commercial Bank ist es noch duster - aber es beginnt ein reges Treiben. Auto-Heckklappen öffnen sich, Rennräder werden ausgeladen, Laufräder in die Ausfallenden gesteckt, Begrüßungen zugerufen. Freitag, das ist der Radsporttag in Katar. In muslimisch geprägten Ländern haben an diesem Wochentag fast alle frei, viele Geschäfte sind zu - es ist wie sonntags in Europa. Man hat Zeit. Gelegenheit, Qatar Chain Reaction zu besuchen - eine von rund einem halben Dutzend großer Radsportgruppen, die den Bedingungen im Wüstenstaat trotzen. Die Gruppe hat sich um das Jahr 2006 gebildet, in den Anfangszeiten der Katar-Rundfahrt der Profis (die Rundfahrt wurde 2016 letztmals ausgetragen; Anm. d. Red.). 2016 hatte die Gruppe fast 2.100 Facebook-Mitglieder, an guten Tagen sammeln sich rund 100 Radsportler zum Training. 50, 60 sind es bestimmt auch an diesem Morgen.
In vielen Ländern der Erde lässt die Sonne Radsportler aufblühen, in Katar ist sie ein Gegner, mit dem sich die Radsportler einen unerbittlichen Wettlauf liefern - gegen die minütlich steigenden Temperaturen. Schnell werden Gruppen gebildet: “Terminators” heißt die mit den Schnellsten, dann gibt es die Gruppen 35s und 32s - die Zahlen stehen für das Durchschnittstempo, das angeschlagen wird. Immerhin gibt es noch den “Cookie Club”, wie der US-Amerikaner Steve Brault erklärt: Die langsamste Gruppe sei gut, wenn man ein bisschen quatschen wolle. Durchgeschnittsgeschwindigkeit: auch noch 30 km/h. Der Botschaftsangestellte Brault hat schon an vielen Orten der Welt gearbeitet, aber Katar sei zum Radfahren schon “speziell”. Er meint das im positiven Sinn.
Das kann man so sagen. Die Hitze ist den Radsportlern als Gegner nicht genug. “Was an Bergen fehlt, machen wir mit Tempo wett”, sagt Neil Melville, ein Schotte, der die Webseite der Radsportgruppe pflegt. Warum man in Katar - topfeben und außerhalb der Stadt eine einzige Steinwüste - darauf kommt, fast jede freie Minute bei Tageslicht mit Radfahren zu füllen, kann er auch nicht genau erklären. “Es ist kein schönes Land”, hat er festgestellt, “und es ist wirklich langweilig hier.”
Seit gut zwei Jahren lebt er mit seiner Frau Julie und den Kindern in der Boomtown Doha. Neue Wolkenkratzer schießen hier wie Pilze aus dem Boden. Das Emirat verfügt dank der - nach Russland und Iran - drittgrößten Erdgasvorkommen über geradezu märchenhaften Reichtum. Man kann als Europäer im gleichen Job schnell mal das Zwei- bis Dreifache verdienen, die Mieten in Katar sind horrend, werden aber oft vom Arbeitgeber bezahlt. Für die “Expats” - die Einwanderer aus den verschiedensten Ländern - eine gute Gelegenheit, sich innerhalb weniger Jahre finanziell zu sanieren beziehungsweise Schulden oder Kredite zu Hause schneller abzutragen. “Wir sind eine bessere internationale Vertretung als die UN”, scherzt der Ire Ben Keane, eines der Gründungsmitglieder der Gruppe - mehr als 30 Nationalitäten haben sie bei Ausfahrten schon gezählt.
Los geht’s. Zur Feier des Tages fährt die Gruppe auf die WM-Strecke der Profis. Es gibt kein Warm-up, eher einen scharfen Start. Schon nach wenigen hundert Metern verliert einer seine Trinkflasche. Ohne Wasser in die Wüste? Keine gute Idee. Also umdrehen, Flasche aufsammeln. Die Gruppe verschwindet derweil am Horizont. Zum Glück folgt jeder Gruppe ein Taxi - für den Pannenservice oder als rollende Kühlzelle für überhitzte Radfahrer. Der Abgehängte winkt das Begleitauto vorbei, hängt sich in dessen Windschatten und beginnt seine Aufholjagd. Etliche Kilometer später schafft er es zurück in die Gruppe.
Für ihn hat sich der kleine Teilnehmerbeitrag von 15 katarischen Rial, knapp vier Euro, schon ausgezahlt. Begleitfahrzeug inklusive Fahrer kosten 50 Rial pro Stunde, umgerechnet rund 12,50 Euro. “Ein sehr alter Preis”, murrt Shiameer, der 25-jährige Taxifahrer aus Indien, der den Terminators mit eingeschaltetem Warnblinker rund fünf Stunden geduldig hinterherfährt. Wobei: So viel Geduld braucht er gar nicht. Die Tachonadel seines Honda Accord pendelt meist zwischen 40 und 50 km/h. Die Hatz wird nur von kurzen Trinkstopps nach jeweils knapp 50 Kilometern unterbrochen. Die weit verstreuten Tankstellen mit den angeschlossenen Shops leuchten in Katar wie Oasen in der Wüste.
Hitze? “Es ist der beste Tag seit Wochen”, sagt der 33-jährige Australier Glenn Bull, der sich als Gruppenleiter bemüht, abgehängte Fahrer wieder an die Gruppe heranzuführen. Acht Monate im Jahr sei das Klima okay, sagen die Radfahrer im Golf-Staat - okay heißt: für dortige Verhältnisse. Nur in den Sommermonaten zwischen Juni und September setzen sich viele lieber drinnen vollklimatisiert auf den Rollentrainer. Nur die Härtesten treffen sich auch in den Sommermonaten für Ausfahrten - dann für eine schnelle Runde um vier Uhr morgens. Mittags steigen die Temperaturen bis nahe 50 Grad.
Aber auch an diesem vergleichsweise milden Oktobertag drehen sich Bauarbeiter, die sich mit Nackentüchern vor der sengenden Sonne schützen, verwundert nach den Radgruppen um, die sich freiwillig in der Hitze plagen. Auto- und Lastwagenfahrer filmen die Radfahrer mit ihren Smartphones. Auch die Einheimischen, längst eine Minderheit im eigenen Land, lassen sich mittlerweile vom Radsport anlocken. Die meisten sammeln sich bei den Qatar Cyclists. Fawaz Alshammari ist der einzige Katari bei den Terminators - das Trikot mit Regenbogenstreifen sitzt straff am schlanken Körper des 31-Jährigen. Seit einem Jahr fährt er Rad, hat sich vom Cookie Club bis zu den Terminators hochgearbeitet. Und von 97 auf 69 Kilogramm abgespeckt. Eine von vielen kleinen Erfolgsgeschichten im noch jungen Radsport Katars.
Das Thermometer im Begleittaxi zeigt am Ende der 140-Kilometer-Runde 34 Grad an - im Schatten, den es in der Wüste nirgends gibt. Durchschnittstempo 37 km/h lesen die Terminators am Ende der WM-Testrunde von ihren Radcomputern ab. Wieder ein guter Tag - auch wenn mancher arg abgekämpft aussieht. Die Plackerei in der Hitze ist schick, die Radszene wächst so schnell, wie das Land an Einwohnern zunimmt. Katar zählte 1950 ganze 47000 Einwohner, 2004 waren es rund 750000 - aktuell sind es fast drei Millionen. Neil Melville sagt, er habe beim Radsport keine Ziele: “Es geht nur um Schmerz.” Einfach mal raus aus der Komfortzone der Besserverdiener in einer Boomtown.