Tour Magazin
· 17.12.2022
Der Angriffskrieg Russlands prägt den Alltag in der Ukraine - trotzdem steigen Menschen weiter aufs Rad. Weiterleben und Weiterfahren lautet ihr Motto. Vier Radsportler erzählen TOUR ihre Geschichte.
(Weltmeister in der Mannschafts- bzw. Einerverfolgung 1998, 2001)
Ich fahre auf verschiedenen Straßen Fahrrad, aber nicht weit von zu Hause entfernt, damit ich schnell heimkommen kann, wenn ich angerufen werde, weil etwas passiert ist. Der Krieg hat das Radsportleben ebenso verändert wie das sonstige Leben: Ich hatte viele Pläne für Radtouren, Wettkämpfe und was sonst noch mit dem Fahrrad verbunden war, aber das musste alles verschoben werden. Ich fahre meistens alleine, an Wochenenden manchmal mit Freunden. Wegen des Krieges trauen sich einige nicht rauszugehen und loszufahren. Es könnte sein, dass genau da eine Rakete einschlägt, wo ich hinfahre. Aber daran denke ich nicht, wenn ich Rennrad fahre - im Gegenteil: Meine Gedanken entspannen sich.
Der Krieg hat mein Leben dramatisch beeinflusst. Das ganze Leben änderte sich nach dem 24. Februar - zum Beispiel gibt es ständig Luftalarm. Am 24. August, dem Unabhängigkeitstag, waren es 13 Alarme. Obwohl wir etwa 150 Kilometer von der Frontlinie entfernt leben, schlugen Raketen 1,5 Kilometer von unserem Haus entfernt ein. Ich sorge mich um die Kinder und die Familie. Viele Freunde und Bekannte zogen in den Krieg. Leider gibt es auch Tote und Vermisste und sehr viele Verwundete unter meinen Freunden. Was ich mir wünsche, wenn der Krieg zu Ende ist? Ich würde so gerne mit meinen Freunden durch Europa reisen, die Strecken besuchen und auf den Straßen fahren, auf denen wir an Radrennen teilgenommen haben.
Sonntags fahre ich zusammen mit Radsportkollegen und Triathleten, die nicht in die Europäische Union geflohen sind. Ein Risiko besteht immer: Die russische Armee feuert mit Artillerie und Panzern auf nahe gelegene Siedlungen. Heute Nacht schlug eine Rakete auf dem Schulhof ein, der 300 Meter von meinem Haus entfernt ist. Eigentlich wollte ich dieses Jahr im Urlaub nach Leipzig fahren und gemeinsam mit deutschen Master-Amateuren an Trainingsausfahrten und ein paar Radrennen teilnehmen. 1983 bis 1984 habe ich in Leipzig in der DDR gelebt und war Mitglied des ACL-Teams, Aufbau Centrum Leipzig.
Ich habe damals am Klassiker Rund um Berlin und einem Straßenrennen in Güstrow teilgenommen. Was das Radfahren in der Ukraine betrifft, so ist der Radsportkalender zu 99 Prozent zerstört. Mein Sportleben hat sich stark reduziert. Vor dem Krieg habe ich an 20 Radrennen pro Jahr teilgenommen - in diesem Jahr gab es nur ein Radrennen, und das war online. Wenn die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt, möchte ich zu einem Radrennen oder einer Radtour in die Europäische Union fahren.
Im August habe ich eine zweitägige Fahrradtour gemacht. Wir waren eine Gruppe von sechs Leuten mit Gravelbikes und Mountainbikes und sind entlang historischer Befestigungsanlagen aus dem 15. Jahrhundert geradelt. Ich fahre viel weniger Rad als vor dem Krieg. Meistens fahre ich die gleiche 50 Kilometer lange Strecke. Hier gibt es keine sicheren Orte - alles liegt in Gottes Hand. Der Krieg hat mein ganzes Leben verändert. Viele Freunde und Verwandte sind ins Ausland gegangen, meine Mutter lebt jetzt in Deutschland. Ich wurde nicht in die Armee aufgenommen, weil ich keine militärische Erfahrung habe. Ich half Rentnern, ging in Apotheken, um Medikamente und Lebensmittel für sie zu kaufen.
Ich wohne am Rande der Stadt. Alle Geschäfte wurden bombardiert, die Apotheken sind geschlossen. Die nächste geöffnete Apotheke war zehn Kilometer von mir entfernt, dorthin bin ich mit dem Fahrrad gefahren. Es war nicht sicher, die Stadt wurde ständig beschossen. Weil die Tankstellen geschlossen waren, hatte ich kein Benzin für mein Auto. Eigentlich hatte ich vor, im Sommer 2022 nach Rumänien zu reisen und die Transfogarascher Hochstraße durch die Berge zu radeln, aber das geht nicht. Mein Fahrrad-Traum, wenn der Krieg vorbei ist? Dann fliege ich in die Schweiz und fahre von dort mit dem Rad über Österreich und die Slowakei zurück in die Ukraine.
Zuerst konnte ich nicht glauben, dass das alles wirklich passierte, aber dieses Gefühl ging schnell vorbei. Stattdessen hatte ich beim Anschauen der Nachrichten Angst - und Mitleid mit denen, die sich in den Gebieten aufhalten, in denen die Besatzer alles auf ihrem Weg zerstörten. Und ich war verzweifelt. All dies verstärkte sich, weil ich erkrankte und am zweiten Kriegstag ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Obwohl ich mich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt habe, dass wir uns im Krieg befinden, erschaudere ich jedes Mal, wenn ein Flugzeug vorbeifliegt oder ich andere laute Geräusche höre.
Jetzt gibt es nirgendwo in der Ukraine einen absolut sicheren Ort. Aber in meiner Gegend ist es recht ruhig. Dank unserer Armee habe ich die Möglichkeit, nicht weniger als letztes Jahr zu fahren. Doch viele Pläne bezüglich Brevets und mehrtägigen Radtouren musste ich verschieben. Ich fahre meistens allein Rad oder mit meinem Mann. Seltener schließen sich ein, zwei Freunde an. Es ist mein Traum, viele Städte der Ukraine mit dem Rad zu besuchen, wenn der Krieg vorbei ist.