Ein leiser Fluch kommt David Jung über die Lippen. Mit erkennbarer Anstrengung wuchtet er seinen Carbonrenner bergauf. Der Tritt wird langsamer, der Oberkörper arbeitet heftig, Jung fährt Schlangenlinien. „Kann nicht mehr“, sagt er, japst nach Luft und fügt mit einem gequälten Lächeln hinzu: „So steil hab ich das gar nicht in Erinnerung.“ Die „Wand von Wiblingwerde“ heißt das schmale Sträßchen, das sich unscheinbar zwischen Wald und Wiesen versteckt. Ein Geheimtipp sei die Rampe, hat mir Jung erzählt: 650 Meter, durchschnittlich 14 Prozent steil. An der fiesesten Stelle zeigt mein Tacho satte 24 Prozent Steigung an. „Das geht richtig in die Beine“, keucht er, oben angekommen, noch nach Luft ringend. Besonders, wenn das Rad länger in der Ecke stand.
Als berufstätiger Vater zweier Kinder kommt er nicht mehr so oft wie früher aufs Rad – und das kann sich rächen. Das Märkische Sauerland hält nämlich auf seinen tausend Quadratkilometern neben ein paar hübschen Stauseen und Flusstälern auch einige giftige und zum Teil längere Anstiege bereit. „Früher als Elite-Rennfahrer kein Problem. Da gehörte mir hier der eine oder andere KOM (King of Mountain; virtuelle Auszeichnung für die Bestzeit an einem Anstieg auf der Internet-Plattform Strava; Anm. d. Red.)“, erzählt Jung. Jetzt ist es nicht hilfreich, dass sein Rad noch mit der alten Rennübersetzung von 53/39 und 11-23 ausgestattet ist. Deswegen zeigt er mir nach der Rampe ein Terrain, auf dem er inzwischen lieber unterwegs ist: die flachen Flusstäler der Region, in denen es besser rollt.
Das Lennetal ist so eines. Aus dem Hochsauerland kommend, durchquert die Lenne den Märkischen Kreis und mündet bei Hagen, südlich des Ruhrgebiets, in die Ruhr. Das Tal ist mal felsige, schmale Klamm, mal grüne Au. Viele Abschnitte sind sehenswert und mit dem Rad gut zu befahren. Es sei denn, es ist Rushhour. Seit die A 45 bei Lüdenscheid wegen Brückenschäden gesperrt ist, klagt die Region über deutlich mehr Verkehr. „Nachmittags meide ich Lennetal und insbesondere Lüdenscheid. Dann sollte man besser in ruhigeren Gefilden sein“, empfiehlt Jung. Während die Bauarbeiten für eine neue Autobahnbrücke bei Lüdenscheid noch Jahre dauern dürften, gibt es zum Glück zahlreiche abgelegene Strecken, auf denen man kaum einem Auto begegnet. Etwa am verträumten Flugplatz von Altena-Hegenscheid. Abgesehen vom rot-weißen Windsack über dem Hangar bewegt sich hier gar nichts. Goldene Strahlen der Nachmittagssonne verleihen dem grünen Plateau oberhalb des Lennetals sanfte Konturen. Ein paar Kühe grasen auf einer Weide neben der Straße, der Wind spielt leise mit dem Zaun. Sonst herrscht Stille.
Diese Idylle ist es, die raue Schönheit des Mittelgebirges, die üppige Vegetation und nicht zuletzt die Berge, die viele in die Region locken. Und die Nähe zu den Ballungszentren an Ruhr und Rhein ist ein Standortvorteil. 2,3 Millionen Gäste zählte das Sauerland im Vorjahr, und insbesondere bei den Radtouristen beobachtet Jörg Scherf einen Aufwärtstrend. „Der Radtourismus boomt bei uns“, erzählt der Versicherungsunternehmer, der nebenberuflich das drittklassige Profiteam Saris Rouvy Sauerland leitet. „Hier bewegt sich einiges“, sagt Scherf, der früher beim Team Gerolsteiner fuhr. Er beobachtet, wie immer mehr Hotels und Pensionen im Sauerland das Fahrrad für sich entdecken, mit eigenen Radkellern, geführten Touren, Karten und Radverleih. Die breite Basis sei da, sagt Scherf, aber er will mehr, träumt von einem Highlight: Nach der erfolgreichen Austragung der Deutschen Meisterschaft 2022 folgt im August die Deutschland-Tour – und, wenn es nach Scherf und seinen Mitstreitern geht, 2027 vielleicht sogar die Rad-Weltmeisterschaft: „Wir haben die Fläche, das Terrain, die Möglichkeiten, das Wissen und die Tradition, um so ein Event zu stemmen – natürlich gemeinsam mit umliegenden Regionen.“ Wenn sein Traum wahr wird, sind Steilrampen wie die Wand von Wiblingwerde bald kein Geheimtipp mehr.
Von Köln dauert die Fahrt zu unserem Standort Iserlohn knapp anderthalb Stunden: Bis Hagen per ICE, von dort aus weiter per RE 16. Von Hannover sind es drei Stunden und die Fahrt führt ebenfalls per ICE nach Hagen und per Regional-Express nach Iserlohn. Von Frankfurt am Main fährt man mit dem IC 2320 bis Iserlohn-Letmathe ohne Umstieg in knapp drei Stunden. Für die Fahrradmitnahme im ICE bucht man eine Fahrradkarte (9 Euro) und eine Stellplatzreservierung; die Fahrradkarte ist auch im Nahverkehr gültig.
Iserlohn liegt an der A 46. Von Frankfurt am Main sind es etwas mehr als 200 Kilometer (von der A 45 muss man aufgrund der gesperrten Rahmede-Talbrücke in Lüdenscheid abfahren), von Hamburg 360 Kilometer.
Die westfälische Küche prägt auch das Sauerland: Restaurants mit regionaler Küche servieren Westfälische Dicke Bohnen, hausgemachte Sülze, Bauernomelette oder Schlachtplatte. Hinzu kommen Sauerländer Spezialitäten wie Sauerländer Kröse (ein Gericht aus Hafergrütze, Schweinebrühe, Salz, Gewürzen und Schweineblut), Reh- oder Wildschweinbraten, Potthucke (ein mit Fleisch gefüllter und gebackener Kartoffelteig) oder Dicke Sauerländer Bockwürstchen mit Kartoffelsalat. Viele Gerichte sind allerdings so deftig, dass sie besser erst nach einer Radtour verzehrt werden sollten. Eine gute Gelegenheit zum Probieren und Schlemmen in Iserlohn bietet das „Genuss pur“-Festival im August mit regionalen Gastronomen auf dem Museumsplatz.
Iserlohn, Jagdhaus im Kühl, Telefon 02371/41388, www.jagdhaus-kuehl.de
Deftiges von Wald und Wiese: Hirsch, Reh, Wildschwein, Rind.
Iserlohn, El Toro, Telefon 02371/20585, www.eltoro-iserlohn.de
Steakhaus mit üppigen Portionen.
Hemer (9 km südlich von Iserlohn), Gaststätte Elfenfohren, Telefon 02372/80760, www.gaststaette-elfenfohren.de
Deftige westfälische Küche, uriges Ambiente.
Iserlohn, Hotel Neuhaus, Telefon 02374/5109608, www.hotel-neuhaus.de
Gemütliche, gastfreundliche Poststation aus dem 18. Jahrhundert im Ortsteil Lössel (sechs Kilometer südwestlich von Iserlohn). Das 4-Sterne-Hotel serviert gute regionale Küche, besitzt einen Spa-Bereich mit Außenpool und bietet Mountainbikes und E-Bikes zum Verleih an. Doppelzimmer mit Frühstück ab 140 Euro.
Iserlohn, Hotel Vier Jahreszeiten, Telefon 02371/9720, www.vierjahreszeiten-iserlohn.de
Familienbetrieb mit Spa-Bereich und Minigolf, schön gelegen am nördlichen Stadtrand im Wald. Doppelzimmer mit Frühstück ab 104 Euro, Frühstück 15 Euro pro Person.
Das Sauerland ist längst nicht mehr nur ein Mekka für Mountainbiker und Downhill-Enthusiasten. Die Region pusht auch den Straßenradsport: 2022 waren die Deutschen Meisterschaft zu Gast, 2027 will man sogar die Rad-WM dorthin holen. In diesem Jahr gibt es für Amateure beziehungsweise Jedermänner am 17. September das Bundesliga-Rennen Sauerland-Rundfahrt (www.sauerlandrundfahrt.de), ebenfalls im September das Einzelbergzeitfahren Bildchensprint (www.bildchen-sprint.de) und am 13. August die Iserlohner RTF.
Iserlohn, Megabike Manasse, Telefon 02371/944100, www.megabike.de
Nicht auf Rennräder spezialisiert, aber Meisterwerkstatt mit Shimano-Service-Center.
In der erstaunlich gut erhaltenen Burg auf einem Bergsporn über dem Lennetal können mehrere Museen besichtigt werden. Infos unter www.maerkischer-kreis.de – dort unter „Kultur & Tourismus“.
Vor den Toren der Stadt zeugt die historische Fabrikanlage Maste-Barendorf von der industriellen Vergangenheit der Region; www.iserlohn.de, dort unter „Kultur“ und „Museen“. In Iserlohn-Grüne lohnt die Dechenhöhle mit angeschlossenem Höhlenmuseum; Infos unter www.dechenhoehle.de
Im Städtchen Hemer, das östlich an Iserlohn angrenzt, wartet der 27 Hektar große Sauerlandpark auf dem ehemaligen Gelände der Landesgartenschau 2010 auf Besucher und bietet auf dem Jübergturm einen guten Überblick auf die Landschaft; Infos unter www.sauerlandpark-hemer.de
ADFC-Regionalkarte „Sauerland“ mit GPS-Tracks Download, 1:75.000, BVA BikeMedia 2019; 8,95 Euro.
Die Bike Arena Sauerland verschickt für 17,50 Euro ein Rennrad-Kartenpaket inklusive 75 Rennrad-Touren. Bestellen unter: ww.bike-arena.de/de; dort unter „Service“ und „Kartenwerke“.
Sauerland-Tourismus e. V., Telefon 02974/96980, www.sauerland.com
Tourist-Info Iserlohn, Telefon 02371/217-1819 oder -1820, www.iserlohn.de/stadtmarketing-tourismus
Fahrrad-Routenplaner des Landes Nordrhein-Westfalen: www.radroutenplaner.nrw.de Bike Arena Sauerland: www.bike-arena.de/rennrad
87 Kilometer, 1.770 Höhenmeter, max. 24 % Steigung
Der flache Aufgalopp an der Lenne ist trügerisch: Nach den ersten zwölf Kilometern ist diese Tour ein konstantes, forderndes Auf und Ab. Bereits der erste Anstieg nach Veserde hat es mit durchschnittlich neun Prozent Steigung in sich. Am Kreinberger Weg bei Wiblingwerde geht’s mit durchschnittlich 14 Prozent bergwärts. Die Belohnung: Der Ausblick von und auf die Burg Altena.
Rasttipp: Altena (Km 67,2 und 70,3), Pizza Castello (www.facebook.com/pizzacastello). Einfache Pizzeria mit großen Portionen.
Auf kurzen Abschnitten unserer Routen ist derzeit mit mehr Verkehr zu rechnen als während unserer Recherche, besonders auf Tour 1. Grund ist die Sperrung der A 45 bei Lüdenscheid, wo die Rahmede-Brücke neu gebaut wird. Insbesondere um die Anschlussstellen Lüdenscheid und Lüdenscheid-Nord kann es zu Staus kommen. Auch das Lennetal sowie die Strecke zwischen Rosmart und Altena sind betroffen. Für Tour 1 gibt’s auf der TOUR-Webseite einen alternativen GPS-Track zum Download: Die Route (115 Kilometer, 2.200 Höhenmeter) umfährt Lüdenscheid großräumig im Norden und Süden.
98 Kilometer, 1.100 Höhenmeter, max. 15 % Steigung
Entspanntes Einrollen: Wir folgen den vielen Windungen des Lennetals bis Eiringhausen, wo erst nach 40 Kilometern der erste Berg der Tour wartet: Der Anstieg nach Birnbaum mit 3,3 Kilometern und fast acht Prozent im Schnitt. Wälder, Felder und viel Grün erwarten uns auf dem folgenden Plateau. Und natürlich das Highlight der Tour, eine Beinahe-Umrundung des Sorpesees. Letzte Schwierigkeit: ein drei Kilometer langer Rollerberg bei Leveringhausen.
Rasttipp: Sundern-Langscheid (Km 63,2), Seegarten, www.hotel-seegarten.com. Direkt am Sorpesee kocht Fernsehkoch Olaf Baumeister aus regionalen Zutaten hervorragende und kreative Gerichte.