Die Privatstraße ist für den Verkehr gesperrt, auch für Radfahrer (!) – vor allem, weil von Mai bis Oktober Pendelbusse die Besucherscharen die enge Straße hinauf- und hinabkarren. Ab November kehrt Ruhe ein. Die ideale Zeit, über das Verbotsschild für Radfahrer hinwegzusehen, dachten sich ein Dutzend Rennradler und machten sich bei eisigen Temperaturen auf den Weg …
Drinnen, in der Watzmann-Therme, hätte an diesem Sonntagmorgen alles so schön sein können. Auf uns warten eine warme Solegrotte und eine heiße Stollensauna. Dem Gast, so schreibt es der Ober-Bademeister aus Berchtesgaden, werde ein Schwitzvergnügen bei 90 Grad sowie ein einmaliges Ambiente mit Bergwerk-Optik geboten: Alte Holzbalken, massiver Naturstein und eine Lore – ein Transportwagen – für die genüsslichen Aufgüsse vermittelten ein Gefühl wie unter Tage.
Und was machen wir? Wir stehen draußen. Draußen vor der Therme, mitten im Winter. Alle sind wir mehrlagig in sündhaft teure Lycra-Klamotten eingewickelt wie eine fette Kohlroulade von Oma Waltraud und hören Falk Nier zu.
“Männer”, sagt der Mittvierziger, der sich ums Marketing für das Profi-Team Alpecin - Deceuninck um Superstar Mathieu van der Poel kümmert. Der Niederländer gewann 2023 und 2024 den Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix, eines der fünf Monumente des Radsports. Auf dem Kopfsteinpflaster in Nordfrankreich ist es meistens nass, dreckig und arschkalt. Nass und dreckig ist es heute nicht auf dem Parkplatz der Therme. Noch nicht! Die Sonne scheint, um uns herum zeigt sich der goldene Herbst in den Nördlichen Ostalpen von seiner besten Seite. Die Blätter sind gelb, rot oder rostbraun gefärbt. Es ist schöner als im Sommer. Bis zu dem Moment, als Falk uns warnt: “Verausgabt euch nicht. Denn: Wer früher oben ist, muss auf die anderen warten. Und oben bedeutet: Frieren! Frieren! Frieren!” Oben liegt das Ziel: das Kehlsteinhaus auf 1838 Metern Höhe. Genau genommen erreicht die Straße nur 1710 Meter – das letzte Stück zum Haus überbrückt ein Wanderweg oder, im Sommer, ein Lift.
Das Kehlsteinhaus, nahe an Adolf Hitlers Machtzentrum Obersalzberg gelegen, war ein Projekt Martin Bormanns, seines Privatsekretärs. Entgegen weit verbreiteter Annahmen war das Kehlsteinhaus aber kein Geschenk zu Hitlers 50. Geburtstag im Jahr 1939. Hitler besuchte das Kehlsteinhaus auch nur äußerst selten. “Eagle’s Nest” heißt es, weil die Alliierten nach der Befreiung es so nannten. “Nid d’Aigle”, “Adlerhorst”, nannte es der französische Botschafter nach einem Besuch 1938. Egal wie man das Kehlsteinhaus nennt: Es zieht bis heute Menschen aus der ganzen Welt an. Sie fahren mit dem Bus nach oben. Das machen vernünftige Menschen.
Wir nicht. Wir kurbeln. Eigentlich ist die Kehlsteinstraße – auch ohne Busbetrieb – für Fahrzeuge oder Sportgeräte gesperrt. Ronald Fischer, Blogger des “Wurzlwerks”, ist hingegen anderer Meinung. Die Tour sei “sicher befahrbar”, wenn sich die Buslinie von Ende Oktober bis Anfang Mai in der Winterpause befinde. Offiziell, so schreibt die “Urlaubsberaterin” Feriel Boga von der Touristen Information “Bergerlebnis Berchtesgaden”, sei die Kehlsteinstraße auch ohne einen Busbetrieb für jeglichen Verkehr, ob mit Fahrzeugen oder Sportgeräten, gesperrt. Hinter vorgehaltener Hand verraten die Berchtesgadener, dass noch kein Fall bekannt sei, bei dem die Behörden eingeschritten wären. Zum einen wimmelt es an schönen Wintertagen von Fußgängern, Rodlern und Rennradfahrern, zum anderen sei ja kein Auto auf der Straße. Außerdem, so die einhellige Meinung all jener, die seit Jahren ihre Fabelzeiten auf der Kehlsteinstraße in den sozialen Medien öffentlich machen, hätten wir ja alle gar kein Sportgerät unter dem Hintern. Schon seit Langem sei das Rad endlich dort, wo es hingehört, sagt Fares Gabriel Hadid, einst Chef der Berliner Fahrradschau: “Es ist mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es ist soziokulturelles Verbindungsglied, Designobjekt, Kunstgegenstand und Statussymbol in einem.” Na also: kein Sportgerät!
Also nutzen wir die Gunst der Stunde, um die Straße hochzufahren, die ihresgleichen in der gesamten Republik sucht. “In Deutschland gibt es keine anspruchsvollere und zugleich architektonisch schönere Straße für Rennrad Fans als die Straße rauf zum Eagle’s Nest”, sagt Falk. Der Mann muss es wissen, er kennt jeden Pass in Europa, jede Straße und jeden noch so kleinen Hügel.
Unterstützung bekommt er von Hermann Leikauf. “Landschaftlich2, so schreibt der Autor des Buches “Die höchsten Rennradtouren”, gebe es hierzulande “keine schönere und beeindruckendere Strecke”. “Gemma!”, brüllt Falk. “Zieht euch aber nicht so warm an, es wird euch sowieso gleich heiß!”, warnt er, und dann fährt er mit uns auch schon los. Sag mal: Hat der Typ einen Schuss? Das Thermometer zeigt gerade mal zwei Grad – und wir sollen uns nicht warm anziehen? Spinnt er? Ein Langarmtrikot und ein Baselayer reichen aus, sagt er. Handschuhe bräuchten wir erst mal gar nicht. Ich bin völlig überfordert, sitze ich sonst unter 15 Grad doch nie auf meinem Rennrad. Die Skisaison geht schließlich im Oktober los, ab dem Zeitpunkt bin ich normalerweise im Kaunertal auf Skiern unterwegs und nicht am Kehlsteinhaus mit einem Renner.
Die ersten vier Kilometer fahren wir uns entspannt ein, dann biegen wir in Unterau rechts ab. Von nun an führt die Straße 6,5 Kilometer zum Obersalzberg stetig bergauf. Noch nicht so steil, aber schon mit Spitzen bis zu 15 Prozent Steigung. Am Obersalzberg geht die Kehlsteinstraße dann links weg. Besser gesagt: senkrecht hoch. Nach ein paar Metern kommt der erste Anstieg mit 27 Prozent. Das sieht aber nicht nach einem Anstieg aus, sondern wie ein Notbremsweg für Lkw an viel befahrenen Passstraßen. Binnen weniger Minuten schießt mir das Laktat in meine Haxen, dann fange ich an zu schwitzen, als säße ich in der Stollensauna der Watzmann Therme. Ich muss das erste Mal rechts ranfahren, meine Handschuhe ausziehen. Eine Hitze ist das. Boah ey.
Nach den ersten Brutalo Minuten ist die Strecke ein Traum. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Auch kein Auto, kein Motorrad, keine Wanderer. Die Straße des Todes gehört nur uns. Uns Hobbyradlern. Viel Zeit zum Quatschen haben wir allerdings nicht. Viel zu herausfordernd ist die Straße, viel zu schön die Landschaft. “Wenn ich ehrlich bin”, sagt Mitradler Heiko Wild, Chef des Bikedress Ladens in München, “habe ich von der Landschaft im oberen Teil der Strecke nicht so viel mitbekommen.” Im ersten Teil konnte er noch auf den traumhaften Königssee herunterschauen, um den herum Watzmann und Hochkalter in die Höhe ragen. Auch der Reck Tunnel, der Martinswand Tunnel und der Gams Tunnel, die einst in den Berg gesprengt wurden, waren problemlos für ihn zu fahren. Bei den letzten beiden hingegen, dem Hirsch- und dem Schwalbennest-Tunnel, ging die Plackerei für uns alle los. Und wie! Danach verwandelten Millionen von Lärchennadeln den Asphalt in einen schmierigen und seifigen Untergrund. Weiter oben belegte zuerst Tau die Straße, dann Schnee. Das erste Mal, als mir das Hinterrad durchdreht, bleibt mir das Herz fast stehen. Okay, der Wiegetritt funktioniert auf Schnee und Eis doch nicht so gut. Also verlagere ich meine geschmeidigen 80 Kilo auf das Hinterrad und meinen Po noch weiter gen Sattel-Ende. Die Taktik geht auf.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich von der Landschaft im oberen Teil der Strecke nicht so viel mitbekommen. - Heiko Wild, Bikedress München
Plötzlich steht die fränkische Lokomotive Heiko vor mir. Er steigt ab. War nicht er es, der die Idee zu diesem Trip hatte? Während ich, der vom Skirennsport kommt, eigentlich auf zwei Brettern mit über 100 Sachen über Eisplatten knalle, geht mir nun auf zwei Rädern die Düse. Wie zwei Abenteurer in der Arktis schieben Heiko und ich unsere Carbon-Schlitten über das Eis. Danach will ich wieder auf mein Rad steigen. Es geht nicht. Was ist denn nun schon wieder los? Ich komme einfach nicht in meine Klickpedale. Immer wieder versuche ich es, bis mir klar wird, dass ein halbes Kilo Eis unten an meinem Pedal angefroren ist. Während man beim Skifahren den Schnee unterm Schuh an der Bindung abstreift, kann ich schlecht gegen mein sündhaft teures Carbonrad treten. Also hole ich mein Mini-Tool raus und haue damit das Eis weg. Das nervt. Nach zehn Minuten geht es weiter.
Ich schwitze wieder wie ein Ochse. Kein Wunder, trete ich in den steilen Passagen doch zwischen 300 und 400 Watt, weil die 6,2 Kilometer lange Strecke es in sich hat: 711 Höhenmeter, durchschnittliche Steigung, 11,5 Prozent. “Solche Werte haben in den Alpen nur der Mortirolo-Pass in der Lombardei und der Monte Zoncolan in Friaul”, erklärt Falk schnaufend während des Aufstieges. Beide, so Falk, sind legendäre Klassiker des Giro d’Italia. Na dann …
Die letzten 300 Höhenmeter fühlen sich wie bei einer Skitour an. Um uns herum nur schneebedeckte Gipfel, Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Die Kulisse hier oben am Eagle’s Nest könnte nicht bezaubernder sein. Und verstörender. “Heute kaum vorstellbar, dass in dieser malerischen Bergkulisse einst ein Diktator und Massenmörder Entscheidungen über Krieg und Holocaust traf”, schreibt das ZDF über seine Serie “Böse Bauten”. Alle Versuche, Gras über die NS-Vergangenheit wachsen zu lassen, konnten nicht verhindern, dass der Ort bis heute eine große Anziehungskraft ausübt. Mehr als 300.000 Menschen kommen jedes Jahr hierher. Ich halte inne und denke über unsere dunkle Vergangenheit nach.
Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es radtechnisch noch viel schlimmer kommen würde. Einfach so runterfahren würde nicht gehen. “Fahrt bitte alle mit maximal 50 Prozent Speed runter”, sagte Falk noch. Bei Heiko und mir wurden es zehn, schließlich hatten wir auf den ersten hundert Metern Strecke immer einen Fuß aus den Pedalen geklickt. Uns war es zu gefährlich, auf Eis und Schnee zu stürzen. Unsere Finger spürten wir nicht mehr, auch nicht unsere Zehen. Mein Körper zittert wie Espenlaub.
“Im Winter ist die Kehlsteinstraße aufgrund höchster Lawinengefahr gesperrt. Eine Schneehöhe von drei Metern ist dann keine Seltenheit”, fällt mir der Warnhinweis der Ortsvorsteher ein, als ich gerade mit krassen 12 km/h über eine Eisplatte rutsche. Man kann auch sagen, dass wir zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind. Ich muss daran denken, dass es dem Luxemburger Charly Gaul auf der 19. Etappe des Giro d’Italia 1956 ähnlich erging, als das Peloton über den Monte Bondone fuhr. Das Wetter schlug um, die Temperatur sank um 30 auf minus zehn Grad. Die meisten gaben wegen Erfrierungssymptomen auf. Es war lebensgefährlich. Nur nicht für Learco Guerra, den Sportlichen Leiter von Gaul. Er hatte eine geniale Idee. Er ließ Gaul in einen Bottich mit heißem Wasser steigen, damit er die Anstiege später besser bewältigen könnte, so seine Vorstellung. Sagen wir so: Die Idee ging nicht ganz auf. Ein paar Stunden später mussten Retter Gauls steif gewordenes Trikot aufschneiden. Damit er nicht krepierte, hüllten sie ihn in Wolldecken und brachten ihn ins Hotel. Das war knapp.
In Deutschland gibt es keine anspruchsvollere und zugleich architektonisch schönere Straße für Rennrad-Fans. - Falk Nier, Marketing Profi- Team Alpecin - Deceuninck
Treffend hat es Paul Fournel, Autor des Buches “Die Liebe zum Fahrrad”, formuliert: “Im Gebirge, wo im Winter beißende Kälte herrscht, besteht die Fahrbahn aus großen dunklen Gesteinskörnern: Dieser kaviarähnliche Belag löst ein winziges Dauerbeben aus, das den Damm gefühllos werden lässt, durch die Handschuhe dringt und in den Händen ein Kribbeln verursacht. In der Abfahrt zieht dieses Gefühl an beiden Seiten der Wirbelsäule hinauf, zu den Schultern und weiter bis in die Arme und Hände”, schreibt der Schriftsteller. Besonders meine Füße sind es, die bei den Minustemperaturen vom Kehlsteinhaus runter fast abgestorben sind. Heiko, der nicht so viele Haare auf dem Kopf trägt, brüllt: “Alter, mir friert das Hirn ein!”
Anders als am 5. Juni 1988, als der Giro d’Italia über den 2618 Meter hohen Passo di Gavia ging. Man denke bloß, schrieb die NZZ 25 Jahre danach, was das für ein Skirennen bedeuten würde: Absage! Für ein Fußballspiel: Absage! Ein Eishockeyspiel: Absage! Und für ein Radrennen: Zu nass? Zu kalt? Zu viel Schnee? Zu schlechte Straßen? Zu gefährlich für Körper und Geist? Absage wegen des schlechten Wetters: “Ich bitte Sie, pédalez, Messieurs!” “Bruttissima Italia”, titelte der Tages-Anzeiger über das Schneerennen.
Und heute? Heute kennt man Bilder, wie Chris Froome wegen eines Defekts am Rad zum Mont Ventoux hochjoggt. Damals aber, am Gaviapass, stand ein Francesco Moser mit einer Schneeschaufel mitten auf der Straße und schaufelte Schnee weg. In kurzen Hosen. Unfassbar. Unfassbar war es auch, als unten in Bormio Andrew Hampsten als Erster ins Ziel fuhr. Über den Höllenritt schrieb der Amerikaner Jahre später einen Bericht. Der Titel: “The Day the Strong Men Cried”, also “Der Tag, an dem starke Männer weinten”. Hampsten: “Ich hörte auf, Gott um Hilfe anzuflehen, stattdessen überlegte ich mir, ob ich mich auf einen Deal mit dem Teufel einlassen sollte.” Der Pakt mit dem Teufel funktionierte, wenngleich auch mit Schmerzen, die er nie vergessen würde. In der Abfahrt musste er die Bremsen von Hand enteisen. “Ich schaute auf meine Beine, durch eine Schicht von Eis und Massageöl leuchteten sie knallrot. Ich entschied, nicht wieder hinzusehen.” Hampsten, der sich fast drei Finger erfror, hatte drei Monate danach immer noch Schmerzen von dem Höllenritt. Manchmal spürt er seine Finger bis heute nicht.
Wir haben es geschafft, wir sind wieder unten. Unten an der Kreuzung. Alle zittern, alle bibbern. Statt lange zu warten, machen wir uns gleich wieder auf den Weg. Nun geht es die 6,9 Kilometer lange und 540 Höhenmeter hohe Rossfeld-Panoramastraße nach oben. In den oberen Kurven präsentiert sich uns das Berchtesgadener Land mit Blick auf das verschneite, breite Bergmassiv des Hohen Gölls als schönes Wintermärchen.
Die Straße hinauf aufs Rossfeld ist nicht nur breit und schön, sie ist auch frei von Eis und Schnee. Es ist schon faszinierend, wie schnell es mir wieder warm wird. Schon nach wenigen Metern ziehe ich Jacke und Handschuhe aus und gehe aus dem Sattel. Oben an der lang gezogenen Passhöhe ist es wieder zapfig kalt. Kein Wunder, auf fast 1600 Metern Höhe herrscht tiefster Winter. Und in genau diesem, so schreibt es der Berchtesgadener Bürgermeister Franz Rasp, diene das Rossfeld ganz oben als tolles Skigebiet, weil es dank seiner Höhenlage das “schneesicherste Naturschnee-Skigebiet Bayerns” sei. Das merken wir, als wir von dort oben auf das Dachsteingebirge sowie das Berchtesgadener und Salzburger Land blicken. “Die Fahrt über Deutschlands höchstgelegene Panoramastraße ist ein unvergessliches Erlebnis”, jubelt Rasp, der schon Sieger der Bayerischen Triathlon-Meisterschaft der Bayerischen Bürgermeister wurde. Wir jubeln mit. Aber nur vorerst.
Denn wir haben alle die Hosen voll. Schließlich müssen wir, die wir in unseren engen Winterhosen aussehen wie ungelenkige Ballerinos, wieder runter vom Berg. So schlimm wie die eisige und schneebedeckte Abfahrt vom Kehlsteinhaus wird’s allerdings nicht mehr. Uns ist trotzdem bitterkalt, aber der Gedanke an die Watzmann-Therme im Tal wärmt uns ein wenig. Auf uns warten Solegrotte und Stollensauna. Genau das haben wir uns nach 45 anstrengenden Kilometern, knapp 1800 harten Höhenmetern und frostigen Stunden auf dem Rennrad verdient.