Alpentour per GravelbikeBikepacking-Tour von Garmisch-Partenkirchen zum Königssee

Alpentour per Gravelbike: Bikepacking-Tour von Garmisch-Partenkirchen zum KönigsseeFoto: Andreas Vigl

Normalerweise lebt TOUR-Autorin Karen Eller vom Mountainbiken. Aber in Corona-Zeiten saß sie zu Hause mit Kindern und Mann in Garmisch-Partenkirchen. Mit dem Gravelbike zog sie alleine los. Drei Tage Auszeit von der Familie, an den Alpen entlang.


Die Flasche fliegt zum x-ten Mal aus dem Halter, als das Rad über eine Wurzel springt. Ich hebe sie wieder auf und klemme sie unter den Expander an meinem Packsack. Vielleicht ist das einfach nicht der richtige Weg für mich und mein schwer beladenes Gravelbike? Ein feiner Singletrail, der sich über waldigen Boden bergab schlängelt, mit Wurzeln und Steinen gespickt. Durch den Laubwald blitzt die Spätnachmittagssonne. Eigentlich alles genau nach meinem Gusto. Aber mit Kocher, Kochtopf, Schlafsack, Zelt, Ersatzklamotten und einigem mehr, ordentlich verstaut in zwei Packsäcken, verteilt auf Vorder- und Hinterradgepäckträger, ist der Traumtrail unfahrbar. Deshalb schiebe ich seit einiger Zeit mein Rad bergab, in der Hoffnung, dass es nicht mehr allzu lange so weitergeht. Sonst bekomme ich ein Problem. Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit ankommen. Dort, wo ich bereits die noch vom Winter verschneiten Gipfel der Berchtesgadener Alpen in der Ferne erkenne, muss mein Ziel liegen: der Königssee.

Lange schon steht dieser See auf meiner To-do-Liste – aber ganz unten, als letzter Punkt. Dass er überhaupt auf die Liste kam, liegt an einem Bild, das mich täglich begrüßt. In einem dicken goldenen Rahmen glitzert der Königssee auf einem alten Ölgemälde. Wo ich es herhabe, kann ich nicht mal mehr genau sagen, aber selbst nach vielen Umzügen hat es sich doch immer wieder seinen Platz verschafft: Es hängt auf dem Klo. Ich war jedenfalls noch nie an diesem See und hatte es auch in diesem Frühjahr eigentlich nicht vor. Ich träume dann eher von wärmeren Zielen: Italien, Spanien, Sonne, Meer. Aber diesen Pandemie-Frühling verbringe ich zu Hause: mit Mann und zwei Kindern. Home-Schooling, kochen, waschen, einkaufen bestimmen meinen Alltag. Die Polizei kontrolliert und ermahnt, den Landkreis nicht zu verlassen. Ich bin genervt, muss dringend mal raus aus dem Corona-Trott. Auf der Toilette kommt mir die Idee: das Bild, der See unterm Watzmann, im südöstlichsten Zipfel Deutschlands. Da will ich hin!

Sofort plane ich eine Bike-Route entlang der deutsch- österreichischen Grenze, mit so wenig Asphaltpassagen wie möglich und versteckt in den Bergen – nicht, dass ich noch kontrolliert werde. Was für mich ein zwingender Grund ist, das Haus zu verlassen, versteht vermutlich kein Polizist. Hotels sind geschlossen, also kommt das Zelt mit. Restaurants und Bars sind verriegelt, der Gaskocher wird eingepackt. Von Garmisch-Partenkirchen zum Königssee zeigt das Planungstool: rund 250 Kilometer, 4.200 Höhenmeter. Drei Tage habe ich dafür Zeit. Ein Abschiedsbussi von der Familie am frühen, bewölkten Morgen. Nebelschwaden ziehen über den Geroldsee, und ich sauge die frische Luft ein, angereichert mit etwas, das sich nach Freiheit anfühlt.

  Zwischen Wallgau und Vorderriß sieht das Isartal aus wie die Rocky Mountains in Kanada.Foto: Andreas Vigl
Zwischen Wallgau und Vorderriß sieht das Isartal aus wie die Rocky Mountains in Kanada.

Schnell gewöhne ich mich daran, dass sich das Rad, das mit Gepäck 22 Kilo wiegt, schwerfälliger lenkt als sonst. Dafür rollt es super. Ein Schotterweg führt mich zur Isar. Ich bin alleine unterwegs. Nach gut zwei Stunden stoppt eine fette Schranke über der Straße meine Fahrt. An diesem Punkt verläuft meine Route für ein kurzes Stück auf österreichischem Gebiet. Auf bayerischer Seite wäre der Umweg zu groß. Aber der Grenzübergang nach Tirol ist gesperrt. Es macht mich traurig, wenn ich daran denke, wie selbstverständlich es früher war, die Grenzen zu überqueren. Ich schaue mich nervös um, bevor ich samt Bike unter der Schranke durchkrieche, zu diesem Schotterweg auf der Tiroler Seite, der mich bald wieder zurück nach Bayern bringen soll. Ein wenig packt mich die Angst. Werde ich vielleicht verfolgt? Adrenalin treibt mich zur Flucht, ich trete ordentlich rein, kann kaum mehr die Kurbel herumdrücken, so steil ist der Weg. So schnell ich kann, klettere ich und sehe in nicht allzu weiter Ferne ein Schild, das mich aufatmen lässt: Willkommen in Bayern! Die romantische Kapelle, die dahinter steht, kommt mir gelegen. Erschöpft sinke ich auf ihre Holzbank. Meine zu Hause geschmierte Semmel schmeckt dreifach gut. Gestärkt rolle ich entspannt an der Weißach entlang bis nach Rottach-Egern, wo ich vor einem Tante- Emma-Laden halte, um mich fürs Abendessen einzudecken. Fast hätte ich vergessen, meinen Mund-Nasenschutz hochzuziehen, so weit bin ich schon dem Alltag entrückt.

Kalte Nächte: Raureif am Zelt

Eine längere Passstraße führt mich zu meinem Tagesziel in der Nähe des Spitzingsees. Oben steht ein einladend aussehender Gasthof. Ich halte an. Auf der Terrasse sitzen zwei Vollbärtige an getrennten Tischen. Sie genießen das Abendlicht, das zwischen den Gipfeln durchblitzt. Ein Bier, das wär’s jetzt. An der Eingangstür hängt ein großes Schild: "Wegen Corona vorübergehend geschlossen." Ich grüße die beiden bayerischen Originale und frage sie nach einem Platz für mein Zelt. "Überall und nirgendwo", murmelt der eine in seinen Bart. Der andere schaut mich etwas mitleidig an, und als ob er meine Gedanken lesen könne, fischt er aus seinem Rucksack ein Bier heraus und überreicht es mir. Kurz danach finde ich einen wunderschönen Platz. Ein eiskaltes Bier, ein Zeltplatz vor traumhafter Bergkulisse, der aufgehende Vollmond und brodelndes Nudelwasser auf dem Kocher – für mich gibt es in diesem Moment nichts Schöneres.

  Nach einer eisigen Nacht wärmen die Morgensonne und ein Espresso.Foto: Andreas Vigl
Nach einer eisigen Nacht wärmen die Morgensonne und ein Espresso.

Am nächsten Morgen verwandeln die ersten Sonnenstrahlen den Raureif an den Zeltwänden zu Wassertropfen. Ich genieße die Sonne und einen Espresso. Als ich die Passstraße hinunterrolle, könnte ich schreien vor Glück. Sorgen, Ängste und der Stress der letzten Wochen verfliegen im Fahrtwind. Gegen Mittag erreiche ich die Straße zum Sudelfeldpass, normalerweise eine Hochburg der Motorradfahrer. Nicht heute. Motorradfahren zum reinen Vergnügen ist zur Zeit verboten. An einer kleinen Aussichtsstelle halte ich an und schiebe einen Müsliriegel nach. Zwei Motorradfahrer fahren vorbei, sie werden mit einer einsamen Passstraße belohnt. Mittlerweile ist mir mein bepacktes Bike schon so vertraut, dass ich immer mutiger durch Kehren rausche und dabei Fahrtwind und Geschwindigkeit genieße. Auch die Zeit rast dahin, viel zu schnell.

  Die letzte Abfahrt des zweiten Tages führte Karen von der Frasdorfer Hütte nach Aschau.Foto: Andreas Vigl
Die letzte Abfahrt des zweiten Tages führte Karen von der Frasdorfer Hütte nach Aschau.

Nach einer gut verbrachten Nacht im Zelt begrüßt mich am nächsten Tag bereits das Berchtesgadener Land. Das Gelände wird rauher und felsiger und in der Ferne ragen schneebedeckte Gipfel in den Himmel. Blumen blühen in allen Farben, das junge Gras ist saftig grün. Der Pass, auf dem ich mich befinde, ist der letzte vor dem Königssee. In meinen Routenplan hatte ich hier ein kleines rundes Zeichen gesetzt. Es ist braun und heißt "Schiebestrecke". Und so schiebe ich nun über diesen Traum von Singletrail, sammle mit einer Geduld, die mir sonst fremd ist, meine Trinkflasche auf und atme den Duft des Laubwaldes ein. Als der sich lichtet, taucht eine Almhütte vor mir auf – und die letzte Schotterabfahrt meiner Tour. Bevor ich hinab fliege, genieße ich noch die Nachmittagssonne auf einer Bank vor der Hütte. Eigentlich möchte ich weiter fahren als nur bis zum Königssee, noch einen Tag und noch einen. Warum muss erst Corona kommen, damit ich entdecke, wie schön meine Heimat ist? Hinter einer Kurve taucht er dann auf. Dunkel, tief, von hohen Gipfeln umsäumt: der Königssee, so, wie ich ihn von meinem Ölgemälde kenne. Bei einem Bier am Ufer lasse ich die müden Füße im kalten Wasser baumeln. Geschlossene Gaststätten, verbarrikadierte Schiffsanleger, Eisverkäufer mit Mund-Nasenschutz, kaum Menschen. Meine Corona-Auszeit ist vorbei. Wieder zu Hause, sitze ich auf dem Klo, schaue zum Königssee-Gemälde und träume von Freiheit und vom See, der vielleicht bald nie wieder so sein wird, wie ich ihn erleben durfte. Und der auf meiner To-do-Liste als unterster Punkt viel zu lange missachtet wurde.

  Am Ziel: So wird man den Königssee so schnell nicht wieder antreffen: menschenleerFoto: Andreas Vigl
Am Ziel: So wird man den Königssee so schnell nicht wieder antreffen: menschenleer