Leicht ist toll, das gilt auch in Zeiten, in denen Rennräder immer aerodynamischer werden und dem Leichtbau weniger Bedeutung zugeschrieben wird. Wer indes das Fahrgefühl auf einem superleichten Rad vorzieht gegenüber nüchternen Wattberechnungen zum Luftwiderstand, darf sich der Zielgruppe zurechnen, die Wilier für das neue Verticale SLR im Blick hat. Der Name ist Programm, als “lighter than light” beworben, soll das Rad ein reiner Bergspezialist sein, gemacht für steile Anstiege und Abfahrten. Gelungen sei dies durch eine gezielte Anordnung unterschiedlicher Fasern und ein neues Fertigungsverfahren, bei dem der Harzanteil im Carbon optimiert werde, so der Hersteller.
Eine neue Lenkereinheit soll zusätzlich das Gewicht senken, außerdem wurden an Kleinigkeiten wie Sattelklemmung, Umwerfersockel und Schaltauge weitere Gramm gespart. Zehn Prozent leichter soll das Verticale sein, als Referenz dient der Vorgänger Zero SLR, dessen nackter Rahmen 2019 mit 922 Gramm auf der TOUR-Waage lag. Das war damals, als die Scheibenbremse ihren Durchbruch hatte und Rahmen-Sets dadurch schwerer wurden, ein ziemlich guter Wert. Inzwischen wird das von den leichtesten Rennradrahmen anderer Hersteller wie Trek (Émonda 706 Gramm), Specialized (Tarmac 723 Gramm) oder Giant (TCR 758 Gramm) relativ locker unterboten.
Freunde klassischer Rennräder dürfte freuen, dass das Verticale wohltuend unaufgeregt daherkommt. Weitgehend runde Rohre, ein fast waagerechtes Oberrohr – das Wilier orientiert sich an traditionellen Tugenden, ohne unmodern zu wirken. Das gilt auch für Sitzposition und Fahrverhalten. Wer auf dem Rad Platz nimmt, findet sich in einer extrem gestreckten Sitzposition wieder, das Vorderrad gefühlt fast vor der Nase. Weil die Kontaktpunkte bequem sind, fühlt sich das aber keineswegs unkomfortabel an – zumindest auf den ersten Kilometern.
Mit kurzem Radstand reagiert es spritzig auf Antritte und Lenkbefehle, fast etwas nervös, der Fahrspaß ist groß. Das Blatt wendet sich in rasanten Abfahrten, denn trotz üppiger 30-Millimeter-Reifen wirkt das Wilier in schnell gefahrenen Kurven wackelig. Das liegt an wenig Gewicht und aggressiver Lenkgeometrie, aber auch an nur durchschnittlichen Steifigkeitswerten, die unser Labortest offenbart: Sie liegen etwa 25 Prozent unter denen führender Wettbewerber.
Ein weiterer Kompromiss des konsequenten Leichtbaus offenbart sich im praktischen Gebrauch. Die elegant im Sitzknoten versteckte Sattelklemmung bereitete uns wiederholt Probleme. Zwar ist die Schraube in der Ecke des Rahmendreiecks auch mit einem Minitool gut zu erreichen. Wird sie gewohnt behutsam angezogen, rutscht die Stütze aber während der Fahrt nach und nach ins Sitzrohr. Mit erhöhtem Drehmoment fixiert, ließ sich die Stütze wiederum kaum wieder lösen – der Konus verklemmt sich dann so, dass er nur mit etwas Gewalt wieder gelöst werden kann. Auch die etwas lieblos wirkende, weil nicht passgenaue Gummiabdeckung der Klemmung fanden wir an einem so teuren Rad nicht angemessen.
Auf der Habenseite steht ein hervorragender Komfort, zu dem die sehr gut federnde Sattelstütze wie auch die breiten Reifen ihren Teil beitragen. Wer mit der Sitzposition klarkommt, wird auf dem Wilier auch lange Strecken unbeschwert genießen können. In seiner Paradedisziplin ist das Verticale gut, aber nicht überragend. Tatsächlich ist der Rahmen nur minimal leichter geworden, 887 Gramm sind heutzutage kein Fabelwert.
Hinzu kommt, dass die Ersparnis im Gesamtgewicht untergeht. Berücksichtigt man ein paar Gramm Mehrgewicht für die breiten Reifen und das leuchtend grüne Lackkleid – das Verticale gibt es auch in dezentem Schwarz mit Zierstreifen, dann wiegt es etwas weniger –, würde es sich mit etwa 6600 Gramm zwischen Klassikern wie Giant TCR, Canyon Ultimate und Specialized Tarmac einsortieren. Damit ist es eines der leichtesten Kompletträder am Markt. Dass die von Wilier gesponserten World-Tour-Profis dennoch lieber zum nur 100 Gramm schwereren Schwestermodell Filante greifen, dürfte dessen besserer Aerodynamik zuzuschreiben sein. Aber wer nicht von Berufs wegen Rennrad fährt, kann ja andere Prioritäten setzen – und einfach das Gefühl genießen, auf einem richtig leichten Rennrad zu sitzen.
Ein Rad mit hohem Spaßfaktor: spritzig, direkt und mit krasser Sitzposition. Viel Komfort und breite Reifen heben das Konzept in die Neuzeit. - Jens Klötzer, Tour-Redakteur