Einst war Vitus ein Leuchtturm der französischen Fahrradindustrie, das Unternehmen begann als Hersteller von Stahlrohren und belieferte damit etliche französische Fahrradmarken. Berühmt wurde die Marke jedoch mit für die damalige Zeit konkurrenzlos leichten Rahmen aus Aluminium- und Carbonrohren, die mit Epoxidharz in Alu-Muffen geklebt wurden: In den 1970er-Jahren leistete das Unternehmen damit Pionierarbeit bei der Verwendung neuer Materialien im Fahrradbau.
Legendär wurden die Räder unter anderem durch den irischen Radprofi Sean Kelly, der in den 1980ern auf den Vitus-Carbonrennern etliche Klassikersiege errang. Auf den Durchbruch der Monocoque-Bauweise von Carbonrahmen folgte das wirtschaftliche Aus, bis die Marke 2009 vom britischen Versandhändler Chain Reaction (heute Wiggle) wiederbelebt wurde. Seit Kurzem werden Vitus-Räder auch vonfahrrad.de vertrieben – und damit zunehmend auch für deutsche Kunden interessant.
Das Venon ist die jüngste Neuvorstellung und eine Art Zwitter aus Endurance- und Gravelbike. Unser Testrad kommt mit 28 Millimeter breiten Straßenreifen; Rahmen und Gabel lassen aber ausreichend Platz für bis zu 45 Millimeter breite Geländereifen, entsprechende Ausstattungsvarianten sind in der Planung. Auch Aufnahmen für Schutzbleche sind vorgesehen: Nahe den Radnaben finden sich versteckte Gewinde, zwischen den Sitzstreben sitzt eine abnehmbare Brücke, an der sich das hintere Blech solide befestigen lässt.
Darunter passen dann immerhin noch 35 Millimeter breite Pneus. Unterschiedliche Positionen für die Flaschenhalter schaffen bei Bedarf Platz für Rahmentaschen. Mit wenig Aufwand lässt sich das Rad also theoretisch an verschiedenste Einsatzzwecke anpassen.
Das Design des Vitus Venon wirkt modern und wie aus einem Guss. Auch für weniger erfahrene Schrauber ist das Venon nicht allzu kompliziert aufgebaut. Die Leitungen an der Front sind mittels Großserienteilen von FSA integriert, die Bremsleitungen laufen an der Unterseite des Vorbaus unter einer Abdeckung in den Rahmen. Vorbau und Lenker lassen sich also mit vertretbarem Aufwand austauschen und Ersatzteile sind vergleichsweise problemlos verfügbar. Im Sitzrohr steckt eine klassische runde Sattelstütze mit Standardmaß.
In Fahrt zeigt sich, dass der Ansatz, Straßen- und Geländefähigkeiten zu vereinen, auch in diesem Rad nicht ganz ohne Kompromisse funktioniert. Weil das Lenkverhalten von der Reifenbreite (oder besser Reifenhöhe) abhängt, verändert sich das Fahrverhalten je nach gewählten Pneus.
Mit der vergleichsweise schmalen 28-Millimeter-Bereifung neigt das Vitus Venom dazu, meist stoisch geradeaus fahren zu wollen, um bei scharfen Lenkmanövern ab einem gewissen Punkt von selbst in die Kurve zu kippen. Mit betont breiten Reifen dürfte sich die Geradeausfahrt dagegen etwas nervös anfühlen. Man kann sich sicher an beide Varianten gewöhnen, am ausgewogensten dürfte sich das Rad aber mit etwas breiteren Reifen um 35 Millimeter fahren.
Auffällig ist die für diese Kategorie recht sportliche Sitzposition auf dem Rad. Auf schlechtem Belag federt zumindest die Carbonstütze ordentlich, die Gabel kann Vibrationen dagegen kaum filtern. Das bestätigen auch unsere Messungen im TOUR-Labor, bei denen Carbongabeln leider überwiegend schlecht abschneiden. Hier offenbart sich zudem eine für moderne Carbonrahmen unübliche Schwäche: Die Rahmensteifigkeit im Lenkkopf liegt – bei durchschnittlichem Rahmengewicht – unter den heutigen Möglichkeiten und etwa auf dem Niveau klassischer Stahlrahmen.
Auf der Straße äußert sich das in etwas teigigem und unpräzisem Lenkverhalten, besonders bei hohem Tempo. Das sollten insbesondere groß gewachsene und schwere Piloten beachten, denn sie sind davon mehr betroffen als leichte Fahrerinnen und Fahrer oder kleine Rahmengrößen. Wer damit klarkommt, findet im Venon aber möglicherweise das eine Rad, das gleich mehrere ersetzen kann: Mit kleinen Abstrichen und wenigen Umbauten lässt es sich für einen Marathon ebenso einsetzen wie für Ausflüge ins Gelände oder eine Radreise mit Gepäck und Schutzblechen.
Dazu ist das Rad für heutige Verhältnisse vergleichsweise günstig, unser Testrad mit elektronischer SRAM-Force-Schaltung und Carbonfelgen soll 5800 Euro kosten; eine Version mit der schwereren SRAM Rival wird bei rund 5000 Euro liegen. Geplant sind außerdem Varianten mit der Gravelgruppe GRX von Shimano sowie der Straßengruppe 105 Di2, Ausstattungsdetails und Preise dafür standen bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
>> Das Vitus Venon bekommt eine TOUR-Gesamtnote von 2,3
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr;
STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
*****Einzelnoten, die unterschiedlich gewichtet in die Gesamtnote einfließen, drucken wir aus Platzgründen nur zum Teil ab. Die Noten werden bis zur Endnote mit allen Nachkommastellen gerechnet; zur besseren Übersichtlichkeit geben wir aber alle Noten mit gerundeter Nachkommastelle an.