Julian Schultz
· 14.01.2024
Um es in Pep Guardiolas Worten zu sagen: Die neuen Marathonräder von Pinarello und Specialized sind “top, top, top”. Zumindest suggeriert das der exklusive Ruf, der Dogma X und S-Works Roubaix SL8 vorauseilt. Beide tragen im Modellnamen das jeweilige Luxuslabel der Branchengrößen. Beide erblickten im Herbst vergangenen Jahres das Licht der Welt. Und beide sind unverschämt teuer. Doch genügen die exklusiven Langstreckler auch höchsten Ansprüchen? Wie ist es um Federkomfort, Sitzposition und Zusatznutzen bestellt? Ohne zu viel zu verraten: Die guardioleske Lobhudelei, die im TOUR-Kosmos mit einer Gesamtnote im mittleren Einserbereich gleichbedeutend wäre, verdient sich nur ein Modell.
Wenn zwei Rennräder zusammengerechnet an die 30.000 Euro kosten, dann kann einem schon mal und völlig zu Recht schwindelig werden. Preisschilder dieser Dimension sind bei Rennrädern zwar längst keine Ausnahme mehr. Leider. Sie haften aber fast ausschließlich ausgereiften Wettkampfrädern an, die bei Gewicht, Aerodynamik und Ausstattung keine Kompromisse kennen. Die beiden Testkandidaten qualifizierten sich mit einem ähnlichen Ansatz für unser Duell. Sowohl das Pinarello als auch das Specialized strotzen vor Ingenieurskunst und interpretieren die Kategorie Marathonrad extrem unterschiedlich, was preisunabhängig zusätzliche Würze ins exklusive Kräftemessen bringt.
Die verschiedenen Konzepte der Marathonräder stechen schon vor der ersten Kurbelumdrehung der Duellanten ins Auge. Das Dogma X trägt seine Nähe zum fast gleichnamigen Race-Allrounder der italienischen Traditionsmarke offen zur Schau, indem es das aerodynamisch optimierte Rahmen-Set des Dogma F samt vollintegriertem Cockpit fast vollständig spiegelt. Lediglich die maximale Reifenfreiheit von 35 Millimetern und ein Federkonzept am Hinterbau geben das neue Modell als Marathonrad zu erkennen. Die filigranen Sitzstreben sind an zwei Stellen mit dem Sitzrohr verbunden, stützen sich gegenseitig per Kreuzverstrebung ab und sollen dadurch Erschütterungen absorbieren.
Dagegen wirkt das S-Works Roubaix beinahe bieder. Die achte Generation des US-Bikes mit geklemmtem Carbonlenker und externen Bremsleitungen knüpft nahtlos an die Vorgängerversion an. Eine neue Ausbaustufe des Federsystems unter dem Vorbau sowie Platz für 40-Millimeter-Pneus unterstreichen das einzigartige Komfortkonzept, durch das das Roubaix seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Vorreiterrolle im Endurance-Segment einnimmt – und im Modelljahr 2024 endgültig in der Kategorie der geländegängigen Allroadbikes angekommen ist.
Im Sattel bestätigen beide Rennräder ihre unterschiedliche Ausrichtung. Wie beim markeninternen Duell des Giant Propel mussten sich Pinarello und Specialized nacheinander auf identischer Strecke beweisen. Die High-End-Marathonräder sind in ihren Fahreigenschaften aber derart gegensätzlich, dass es den einheitlichen Rundkurs gar nicht benötigt hätte, um Stärken und Schwächen aus den Messungen im TOUR-Testlabor zu bestätigen. So muss das Dogma X im wichtigsten Kriterium eines Marathonrads, dem Fahrkomfort, dem S-Works Roubaix eindeutig den Vortritt lassen. Das Specialized rollt extrem geschmeidig über rauen Asphalt, feine wie grobe Schläge werden vorbildlich geglättet.
Ausschlaggebend dafür ist eine Reihe an Komfortelementen: Am Heck macht sich der überlange Auszug der tiefgeklemmten Carbonstütze bemerkbar, bei einer Prüflast von 80 Kilogramm gibt sie rund elf Millimeter nach. Am Lenker federt das Future-Shock-System und nimmt Kopfsteinpflaster oder Fahrbahnkanten die Wucht. Auf dem neuen TOUR-Komfortprüfstand ermittelten wir bei 40 Kilogramm Prüflast am Lenker einen maximalen Federweg von knapp 15 Millimetern. Dank zahlreicher Einstellmöglichkeiten lässt sich die Top-Version namens Future Shock 3.3 an Terrain und Fahrergewicht anpassen: auf dem Rad mit einem sechsstufigen Drehregler am Vorbau, in der Werkstatt mit drei unterschiedlich harten Federn, die in den Hydraulikzylinder gesteckt und mit Unterlegscheiben zusätzlich vorgespannt werden können. Klingt kompliziert? Ist es auch.
Für unseren Geschmack ist die umtriebige Entwicklungsabteilung des Herstellers an dieser Stelle etwas übers Ziel hinausgeschossen. Das Tuning-Potenzial des Future-Shock-Systems ist zwar konkurrenzlos, jedoch dürften sich nur wenige Hobbyfahrer die Mühe machen, die Federung vor jeder Ausfahrt ans Terrain anzupassen. Zumal die voluminösen Tubeless-Reifen, die sich 35 Millimeter breit über die Carbonfelgen wölben, auf asphaltierten Wegen bereits exzellent federn. In Sprintsituationen vermissten wir zudem eine Lockout-Funktion; auf Nachfrage lässt sich die Dämpfung aber selbst mit der härtesten Feder und maximaler Vorspannung nicht komplett blockieren.
Im Vergleich zu seinem italienischen Edelkonkurrenten relativieren sich die Kritikpunkte am S-Works Roubaix allerdings schnell. Einerseits ist auch das Pinarello nicht gerade servicefreundlich, da für Wartung und Einstellung ein Sammelsurium an verschiedenen Innensechskant- und Torx-Schlüsseln benötigt wird. Die Einstellschraube der integrierten Sattelstützenklemmung ist mit einem gewöhnlichen Mini-Tool kaum erreichbar, wodurch man während einer Ausfahrt die Sitzhöhe nicht anpassen kann. Dafür markiert das Pinarello das sportliche Extrem im Bereich der Marathonräder und geizt mit Federkomfort.
Die hochwertigen Reifen, die exakt die nominelle Breite erreichen, dämpfen zwar nach Kräften und können die Schwächen des Fahrwerks einigermaßen kompensieren. Auf schlechtem Belag kommen die Erschütterungen aber relativ ungefiltert an Sattel und Cockpit an. Bis zu 35 Millimeter breite Reifen könnten dies aber noch abmildern. Einerseits überraschen Fahreindruck und Laborwerte nur bedingt, da am Dogma X die gleiche aerodynamisch geformte Sattelstütze und Lenker-Vorbau-Einheit wie beim wettkampforientierten Dogma F verbaut sind, das verwindungssteifer konzipiert ist.
Andererseits kommt der geringe Rahmenkomfort angesichts der markanten Hinterbaukonstruktion unerwartet. Für ein modernes Marathonrad flext die Carbonstütze mit einem Federweg von lediglich sechs Millimetern unterdurchschnittlich. Die Zuspitzung als kompetitives Endurance-Modell setzt sich nahtlos bei der Sitzposition fort. Zwar ist das Steuerrohr etwas länger als beim seelenverwandten Dogma F, dennoch wird der Fahrer in eine sportlich gestreckte Haltung gebracht. Auch das extrem schmale Cockpit erinnert an ein Aero-Rennrad. Nach neuem Messverfahren, das Parameter wie Vorbaulänge sowie Lenker-Reach berücksichtigt, die im STR+ abgebildet sind, saß unser Testfahrer bislang nur auf dem S-Works Tarmac SL8 noch rennmäßiger. Trotz der kleineren Rahmengröße des Dogma X, die eigentlich für eine etwas gemäßigtere Position spricht.
Das S-Works Roubaix unterstreicht dagegen seinen Charakter als Spezialist für die Langstrecke, grenzt sich durch eine rückenschonende Sitzposition vom Pinarello ab und zieht damit außerdem eine klare Trennlinie zur Rennmaschine von Specialized. Die größte Schnittmenge existiert beim Fahrverhalten. Dank langer Radstände liegen beide Kandidaten satt auf der Straße und erweisen sich als laufruhige Begleiter.
Da beide Marathonräder zusammen mit Canyons Endurace CFR und dem Giant Defy Advanced SL zu den leichtesten Marathonrennern auf dem Markt zählen, lassen sie zudem eine sportliche Gangart zu. Speziell das Specialized beeindruckt mit geringem Rahmengewicht, das trotz Gewindeösen für Gepäcktäschchen und Schutzbleche fast 250 Gramm geringer als beim Pinarello ausfällt. Damit kompensiert es auch das Mehrgewicht des Federsystems. Zudem präsentiert sich das S-Works Roubaix fahrstabiler und antrittsstärker als das Dogma X. Vor allem bei Geschwindigkeiten ab 60 km/h, die man auf rasanten Abfahrten locker erreichen kann, offenbart der Italo-Renner ein Quäntchen weniger Spurtreue.
Insgesamt endet das Duell der luxuriösen Langstreckler eindeutiger, als es die Preisschilder vermuten lassen. Das neue Specialized lässt den Herausforderer aus Italien in fast allen Disziplinen hinter sich und bleibt ein äußerst komfortables Marathonrad, das sich in achter Generation endgültig zum vielseitigen Allroadbike emanzipiert und sogar in das Revier geländegängiger Gravelbikes vorstößt.
Im Vergleich dazu ist der Einsatzbereich des Pinarello enger gefasst, wenngleich das Dogma X mit seiner sportlichen Ausrichtung und der fein abgestuften Größenvielfalt – sagenhafte elf Rahmenhöhen sind verfügbar – ebenfalls Fans finden wird. Sofern das Portemonnaie groß genug ist. Schließlich dürften nur die wenigsten Rennradler bereit sein, 14.000 Euro für die Top-Version des Specialized und 15.050 Euro für die Basisversion (!) des Pinarello auf den Tisch zu legen. Erst recht, da die Konkurrenz preiswertere und technisch gleichwertige Alternativen im Sortiment hat.
Geometrie
Ausstattung
TOUR-Note: 2,4
Geometrie
Ausstattung
TOUR-Note: 1,7