Das leichteste Testrad, das je in die TOUR-Redaktion rollte, wog 4750 Gramm und kam von der Firma AX-Lightness. Gut 15 Jahre ist das her, Felgenbremsen und Rundrohrrahmen waren Stand der Technik und 22 Millimeter schmale Schlauchreifen noch salonfähig. Der Leichtbautrend war damals auf seinem Zenit, die Besten dieser Disziplin waren deutsche Carbonspezialisten. Laufräder von Lightweight, Lenker von Schmolke, Sättel von Tune oder Kurbeln von THM wurden wie Skulpturen aus Carbon verehrt und standen nicht nur bei Tunern hierzulande, sondern weltweit hoch im Kurs. 2024 sieht die Welt bekanntlich anders aus: Scheibenbremsen, Elektroschaltungen mit mehr Ritzeln, breite Tubeless-Reifen, aerodynamische Optimierungen und die Integration von immer mehr Bauteilen haben Rennräder nicht nur schneller, komfortabler und sicherer gemacht. Sie wurden auch deutlich schwerer, und geringes Gewicht ist im Strauß konkurrierender Eigenschaften nur noch eines von vielen Zielen. Gleichzeitig verloren die renommierten Gewichtstuner an Bedeutung, weil sich immer seltener Bauteile einfach austauschen lassen – oder Funktionseinbußen mit sich bringen.
Mit neuen Kompletträdern wollen zwei dieser Hersteller zeigen, dass sie Rennräder auch heute noch deutlich leichter bauen können als die großen Marken mit ihren leichtesten Modellen. Das leichteste uns bekannte Rennrad aktuellen Jahrgangs war bis zu dieser Ausgabe das Specialized Aethos, es stand mit 6200 Gramm an der Spitze der Gewichtstabelle unserer Datenbank. Das war ein Mega-Vorsprung, die Top-Modelle anderer Hersteller wiegen um die sieben Kilogramm. Doch abgesehen von Scheibenbremsen und Tubeless-Reifen sieht das Aethos ein bisschen aus wie ein Rennrad vor 15 Jahren: Rundrohrrahmen, geklemmter Lenker, außen verlaufende Bremsleitungen. Stefan Schmolke, der sich seit den 90er-Jahren mit ultraleichten Teilen aus Carbon in der Rennradszene einen Namen gemacht hat, tritt nun an seine Stelle. Exakt 5400 Gramm wiegt das Leggerissima, das auf den ersten Blick wirkt wie ein Aethos-Klon.
Die Leitungen hat Schmolke integriert, doch darüber hinaus findet sich von den aerodynamischen Formen und dem integralen Design moderner Rennräder keine Spur. Dafür Carbon, wohin das Auge blickt: Sattel und Stütze, Lenker und Vorbau, Kurbel und Kettenblätter und sogar Speichen und die Steuersatzschraube sind aus dem Faserwerkstoff. Das meiste davon wird in Konstanz gefertigt, die Einzelgewichte sind teils irrwitzig niedrig. Ein Herausforderer ist der Hersteller Benotti, der in gewisser Weise ebenfalls Wurzeln in der deutschen Tuningszene hat. Denn 2020 holte sich Bernd Nolte, Inhaber der Radmarke, mit dem Kauf von AX-Lightness das Leichtbau-Know-how ins Haus und betreibt die Komponentenmarke weiter. Viele Mitarbeiter und Maschinen sind inzwischen ins niedersächsische Duderstadt gewechselt, wo ausgesuchte Teile gefertigt werden.
Das Fuoco Carbon Ultra trägt eine andere Handschrift, die integrierte Lenkerkombi und ein aerodynamisch optimierter Rahmen entsprechen dem Zeitgeist. Dennoch kann auch das Benotti das Aethos knapp unterbieten: 6,1 Kilogramm sind nach unserer Kenntnis für ein vollintegriertes Rennrad konkurrenzlos. Die Komponenten bei Benotti sind etwas schwerer, dafür belastbarer: Insgesamt wirkt das Rad solider und weniger empfindlich, es ist bis 120 Kilogramm Fahrergewicht freigegeben. Schmolke zieht die Grenze bei seinem Modell bereits bei 100 Kilo, was angesichts der extremen Nachgiebigkeit von Stütze und Lenker nicht verwunderlich ist. Geht man den Fabelgewichten auf den Grund, zeigt sich, dass die Hersteller ihren Vorsprung ausschließlich über die Komponenten schaffen.
Zwar versucht auch Schmolke in Kooperation mit einem koreanischen Rahmenhersteller ein besonderes Leichtgewicht zu schaffen, Benotti fertigt die Rahmen der Ultra-Serie gar selbst in Deutschland am eigenen Standort. Doch beide Rahmen, die witzigerweise fast exakt das Gleiche wiegen (786 bzw. 787 Gramm), sortieren sich ein auf dem Niveau von Leichtrahmen großer Hersteller wie Giant TCR, Cervélo R5 oder Trek Émonda. Zum Vergleich: Bei der Referenz von Specialized bleibt die Waage bereits bei 623 Gramm stehen. Theoretisch geht also noch ein bisschen was. Doch auch wenn die Gewichtsrekorde aus Felgenbremsen-Zeiten mit so viel Aufwand noch nicht fallen: Das Fahrgefühl auf so leichten Rennern ist betörend – mit Scheibenbremsen und Elektroschaltung gleich doppelt.