Dass die Komponentenmarke Enve inzwischen auch als Rahmenhersteller aktiv ist, dürfte hierzulande noch wenigen Rennrad-Fans bekannt sein. Zwar ist die Tochter der finnischen Amer-Sports-Gruppe mit Carbonteilen vom Laufrad bis zur Sattelstütze global präsent. Doch das erste Enve-Rahmen-Set Custom Road, nach Auftrag und auf Maß für eine solvente Kundschaft gefertigt, wird nur im Produktionsland USA vermarktet. Mit dem Straßenrad Melee stellen sich die Amerikaner seit einem Jahr auch dem internationalen Wettbewerb. Statt im Heimatland wird das Rahmen-Set – wie die Rahmen der meisten Wettbewerber auch – von einem asiatischen Zulieferer gebaut. An die Stelle der Maßfertigung aus einzelnen Rohren tritt die übliche Monocoque-Bauweise; es gibt also vorgefertigte Geometrien in immerhin sieben verschiedenen Größen.
Das Melee, was übersetzt so viel wie „Handgemenge“ bedeutet, ist dennoch kein Rennrad von der Stange. Angeboten wird das Rahmen-Set mit Sattelstütze, Vorbau und Lenker, deren Abmessungen man selbst bestimmt – so ist man nicht auf eine Vorkonfektionierung des Herstellers angewiesen. Komplettiert wird das Rad in Eigenregie oder bei einem Vertragshändler; als Komplettrad wird das Enve Melee nur selten angeboten.
Unser Testrad kommt mit einer Ultegra-Di2-Schaltgruppe von Shimano, die angesichts der luxuriösen Carbonlaufräder und etlicher Kohlefaserteile fast wie eine Sparmaßnahme wirkt. Das Rad macht insgesamt einen dezenten und aufgeräumten, überaus edlen Eindruck; vor allem die metallisch glänzende Lackierung namens Damaskusgrau ist ein Augenschmeichler. Die Rahmenformen zeugen von einem sportlichen Anspruch, erkennbar stand ein ausgewogenes Verhältnis von guter Aerodynamik und geringem Gewicht im Lastenheft. Das ist dem Melee gut gelungen; der Rahmen ist trotz der satten Lackierung mit knapp unter 1000 Gramm relativ leicht, mit einer Top-Schaltgruppe wäre ein Komplettgewicht unter sieben Kilogramm drin. Im Windkanalversuch schneidet das Rad mit 218 Watt erforderlicher Tretleistung für 45 km/h besser ab als viele Allrounder größerer Hersteller. Das liegt auch an den schnellen, aber teuren Carbonlaufrädern. An ausgewiesene Aero-Experten kommt das Rad nicht heran, doch das ist auch nicht sein Anspruch.
Schon die Breite der montierten Reifen zeigt an, dass sich das Melee nicht nur auf Highspeed auf gut geteerten Rennstrecken beschränken will. Die nominell 29 Millimeter breiten Pneus blähen sich auf den breiten Felgen auf gut 30 Millimeter, was das ohnehin recht komfortable Rad uneingeschränkt langstreckentauglich macht. Mehr noch:
Mit einer zulässigen Reifenbreite von bis zu 35 Millimetern sind auch leichte Graveltouren denkbar, wodurch das Melee ziemlich einzigartig wird. Auch die integrierten Gewinde für fest montierte Schutzbleche sucht man an anderen Rädern mit solch sportlichem Zuschnitt vergebens.
Das Lenkverhalten ist auf die breite Bereifung abgestimmt und mit unserem Aufbau fährt sich das Rad wunderbar ausgewogen und berechenbar, auch Anfänger kommen damit spielend zurecht. Die Sitzposition ist durchaus sportlich, aber nicht extrem, sodass das Rad Rennfahrer ebenso ansprechen dürfte wie ambitionierte Tourenfahrerinnen. Ein Rad für einen großen Kundenkreis also – in der Theorie. Denn die Preisgestaltung wird den Kreis auf sehr anspruchsvolle und vor allem solvente Interessenten beschränken. Für das Rahmen-Set werden 5500 Euro aufgerufen, das ist trotz der perfekten Verarbeitung und vieler gut durchdachter Details ambitioniert. Der Aufbau des Testrades mit Shimanos elektronischer Ultegra dürfte laut Hersteller je nach Händlerkonditionen um die 12.000 Euro liegen. Mit einer (noch) exklusiveren Ausstattung und dem Aufbauservice eines Fachhändlers sind Preise über 15.000 Euro nicht ausgeschlossen.
*Gewogene Gewichte
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr; STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.
*****Einzelnoten, die unterschiedlich gewichtet in die Gesamtnote einfließen, drucken wir aus Platzgründen nur zum Teil ab. Die Noten werden bis zur Endnote mit allen Nachkommastellen gerechnet; zur besseren Übersichtlichkeit geben wir aber alle Noten mit gerundeter Nachkommastelle an.
******Aerodynamik theoretisch benötigte Tretleistung, um den Luftwiderstand bei 45 km/h zu überwinden, gemessen im Windkanal mit einem tretenden Bein.