Nie war die Rennradfamilie größer als jetzt, und die Schar der Sprösslinge wird immer bunter. Fast ein Dutzend unterschiedlicher Typen offerieren die Hersteller inzwischen dem geneigten Publikum, vom schnellen Spezialisten für den Kampf gegen die Uhr bis zum Geländerad, das fast schon an ein Mountainbike erinnert (siehe große Rennrad-Kaufberatung). Das neue, große Ding sind sogenannte Allroadbikes. Seit knapp zwei Jahren tummeln sie sich in der Nische – ob da überhaupt eine ist, wäre zu diskutieren – zwischen langstreckentauglichen Marathonrädern und geländegängigen Gravelbikes. Sprichwörtlich mit dem Anspruch, alle Straßenbeläge unter die Reifen zu nehmen. Mit den vermeintlichen Alleskönnern sollen sich Fahrerin oder Fahrer nicht mehr die Frage nach dem Einsatzbereich stellen müssen. Auch die beiden Neuheiten in unserem Testduell wollen den schwierigen Spagat zwischen Asphalt und Schotterpiste hinbekommen. Das Salz in der Suppe: BMC und Cervélo, die beide mit üppigen Reifenfreiheiten auf ein Publikum abzielen, das sich nicht nur auf glatte Straßen beschränken will, interpretieren diesen Anspruch höchst unterschiedlich.
Bei der Roadmachine des Schweizer Fahrradbauers deutet qua Namensgebung zunächst wenig daraufhin, dass sie auch für den Geländeeinsatz gewappnet ist. Doch einerseits markiert BMC die Neuheit mit einem X, wodurch das Modell in Anlehnung an die Gepflogenheiten bei Autos oder Motorrädern eine gewisse Geländegängigkeit impliziert. Andererseits greift das Rahmen-Set typische Merkmale eines Allroadbikes auf. Cervélo wählt beim Caledonia-5 einen subtileren Ansatz und verzichtet auf eine vergleichbare Kennzeichnung im Modellnamen. Überhaupt erweckt das aerodynamisch optimierte Rahmen-Set eher den Eindruck eines Wettkampfrenners. Gleichwohl rücken auch die Kanadier die zweite Ausbaustufe ihres Endurance-Modells in Richtung Gelände. De facto rollen damit zwei moderne Allroadbikes in die TOUR-Redaktion, die auf Prüfständen und bei Testfahrten die unterschiedlichen Ansätze ihrer Konstrukteure offenbaren. Die Roadmachine 01 X One ist als Derivat des fast gleichnamigen Marathonrads zu verstehen, dem die Marke aus Grenchen im Vorjahr ein Update verpasste. Bis auf Geometrie und Carbonqualität teilen sich beide Versionen jedoch kaum Gemeinsamkeiten. Vielmehr ist der „Gravel-Road-Hybrid“, wie BMC die Neuheit beschreibt, betont komfortabel ausgelegt. Der Lenker thront hoch über dem Vorderrad und bringt den Fahrer in eine aufrechte Sitzposition, wie man sie sonst von echten Gravelbikes kennt. Neben dem langen Steuerrohr zeichnet dafür zusätzlich ein nach oben weisender Federvorbau aus Aluminium verantwortlich, den BMC einst am abenteuertauglichen Gravelbike namens Urs eingeführt hatte. Das System, das zusammen mit Komponentenspezialist Redshift entwickelt wurde, federt Stöße mittels zweier integrierter Elastomere, die an das Fahrergewicht angepasst werden können.
Insgesamt gibt es fünf Härtegrade. Die Konstruktion adelt die Roadmachine zu einem der wenigen Bikes mit gebogenem Lenker, das Unebenheiten an der Front besser glättet als am Heck. Knapp 18 Millimeter Federweg sind rund dreimal so viel wie bei einem Rennrad mit konventionellem Cockpit aus Carbon. Damit kann auch das Cervélo dem BMC in dieser Wertung nichts entgegensetzen, Erschütterungen gibt es am Lenker fühlbar direkter weiter. Insgesamt fährt sich das Caledonia-5 aber ebenfalls nicht unkomfortabel, da es enorm von den schlauchlos montierten Reifen profitiert. Die nominell 30 Millimeter breiten Slicks von Vittoria sind für ein Allroadbike auf den ersten Blick knapp bemessen, vergleichbare Modelle rollen mindestens auf 32er-Pneus. Durch die Kombination mit voluminösen Carbonfelgen von Reserve fallen die Gummis aber satte drei Millimeter breiter aus und erreichen das Standardmaß eines Cyclocrossers. Noch üppiger ist die Roadmachine X bereift, wobei zusätzlich das geländetaugliche Stollenprofil der WTB-Reifen die Blicke auf sich zieht. Die Schweizer weichen damit die Trennlinie zum Gravelbike auf und verlagern das Hoheitsgebiet der Neuheit auf unasphaltierte Wege. Indem Rahmen und Gabel sogar Platz für 40 Millimeter breite Pneus lassen, wildert die Roadmachine X endgültig im Revier von speziellen Schotter- und Geländerädern. Im direkten Fahrvergleich über gemischtes Terrain unterstreichen beide Modelle ihre Gegensätzlichkeit.
Zwar nimmt das Cervélo planierte Feldwege ohne Murren unter die Reifen, geschmeidiger bügelt allerdings das BMC über Stock und Stein. Auf Asphalt wiederum spielt die kanadische Interpretation eines Allroadbikes seine Stärken aus, indem es sportlicher konzeptioniert ist und durch den Gewichtsvorteil von rund 520 Gramm direkter am Gas hängt. Das direktere Lenkverhalten und eine gestrecktere, eher rennorientierte Sitzposition passen zur kompetitiven Ausrichtung des Caledonia-5. Auf Asphalt hinterlässt der Federvorbau an der Roadmachine zumindest einen etwas zwiespältigen Eindruck. Rennen muss oder will man mit dem BMC zwar vielleicht nicht gewinnen, im Wiegetritt mit viel Last auf dem Lenker gibt das Cockpit allerdings spürbar nach. Die PS lassen sich dadurch nicht ganz so verlustfrei auf die Straße bringen wie mit dem Cervélo, das den im Vergleich konsequenteren Sportler markiert.
Auch beim Schaltgetriebe machen beide Räder deutlich, auf welchem Untergrund sie sich am wohlsten fühlen. Das BMC bietet mit einem geländetauglichen 1x12-Antrieb von SRAM etwas mehr Reserven für steile Anstiege auch auf losem Untergrund. Shimanos Straßenrad-Gruppe Ultegra am Cervélo ist mit zwei Kettenblättern dagegen feiner abgestuft und hält für schnelle Asphaltjagden ausreichend große Gänge parat. Ein Powermeter ist bei beiden Kandidaten serienmäßig. Die Scheibenbremse der Ultegra benötigt weniger Handkraft und verzögert präziser als die etwas in die Jahre gekommene Version der Force. Ein Update der Mittelklassegruppe der US-Marke steht allerdings in den Startlöchern und dürfte im Sommer präsentiert werden. Erste Bilder im Netz deuten daraufhin, dass die neue Version technisch von der bereits überarbeiteten Top-Version (siehe TOUR 7/2024) profitieren dürfte.
Zusammengefasst treffen mit der Roadmachine 01 X One und dem Caledonia-5 zwei gegensätzliche Räder im Feld der Allroadbikes aufeinander. Die Anforderungen an ein vielseitiges und alltagstaugliches Rennrad erfüllt das Rad der Kanadier besser, da ihm der Wechsel zwischen den Untergründen spielerischer gelingt. Auch was den Zusatznutzen angeht, hat das Cervélo leichte Vorteile, indem es im Gegensatz zum BMC feste Schutzbleche aufnehmen kann und damit für Regenfahrten gerüstet wäre. Die Roadmachine kann nur mit einem Steckschutzblech an der Sattelstütze nachgerüstet werden. Dafür punktet es mit einem teilintegrierten, StVZO-zugelassenen LED-Rücklicht.
Ein “Kofferraum” im Unterrohr für ein Pannen-Set zeichnet beide Räder aus. Weiteres Gepäck, wenn auch in kleiner Form, lässt sich am BMC in einer anschraubbaren Oberrohrtasche verstauen. Beim Schweizer Hersteller lohnt ein Blick auf die Versionen ohne X im Modellnamen. Denn auch die konventionelle Roadmachine bietet durch die riesige Reifenfreiheit mehr als genügend Spielraum, um das Rad für den Einsatz auf Straße und Gelände abzustimmen.
Die Auswahl ist riesig, insgesamt sind neun Ausstattungsvarianten erhältlich. Die Top-Versionen, gekennzeichnet mit 01, basieren auf einem leichteren Rahmen-Set. Ohne den Federvorbau, der nur an die Hybridmodelle geschraubt wird, entspricht die Sitzposition eher einem Marathonrad. BMC hält außerdem vier Modelle mit Motorunterstützung vor.
Etwas übersichtlicher ist das Portfolio bei Cervélo, das fünf Versionen des Caledonia-5 auf die Straße bringt. Das Rahmen-Set der neuen Plattform ist moderner und leichter als beim normalen Caledonia (siehe TOUR 3/2025). Durch die integrierten Leitungen erhöht sich jedoch der Wartungsaufwand, auch im Vergleich zum BMC. Die beiden Testräder kosten mit 7999 Euro exakt dasselbe. Bei BMC reicht die Preisspanne von 3199 bis 13.999 Euro. Bei Cervélo startet das Basismodell des Caledonia-5 bei 5999 Euro, die Top-Version kostet 12.999 Euro.
+ exzellenter Frontkomfort, hohe Laufruhe, riesige Reifenfreiheit
- vergleichsweise schwer, relativ teuer
+ agil, antrittsstark, schnelle und komfortable Reifen
- relativ teuer