Unbekannt
· 02.09.2015
Gravelbikes schließen die Lücke zwischen Straßenrenner und Crossrad – falls da eine ist. Wir haben uns vier Modelle angeschaut, um das Potenzial der Multitalente zu entdecken.
Ein neuer Begriff macht in der Rennradwelt die Runde. Die Rede ist vom Gravelbike, manchmal auch vom Adventure-Roadbike. Doch egal, welches Etikett man dranpappt, gemeint ist in etwa das Gleiche. Es geht um Rennräder, die sich dank breiterer Reifen und spezieller Rahmengeometrien auf Asphalt wie auf unbefestigten Wegen gleichermaßen zu Hause fühlen sollen.
In den USA gehen die Verkaufszahlen der Alleskönner angeblich gerade durch die Decke. Dort, genauer im Mittleren Westen, liegen auch die Wurzeln der Gravelbikes. Vor rund zehn Jahren fanden erste Radmarathons statt, sogenannte Gravel Grinder, die nicht auf asphaltierten Highways, sondern auf den dort weit verbreiteten Schotterstraßen ausgetragen werden. Aus anfänglichen Insider-Treffs wurden bald Großveranstaltungen wie das Dirty Kanza 200 im Bundesstaat Kansas. Mehr als 1.500 Fahrer gingen dort im vergangenen Juli bei der Hatz über 200 staubige Meilen an den Start.
Anfangs fuhren die meisten Teilnehmer normale Cross-Rennräder. Doch allmählich bildete sich eine eigene Gattung heraus, die sich vom typischen Crosser, der für schnelle, technische Rundkurse ausgelegt ist, deutlich abgrenzt. Die Sitzposition auf vielen Gravelbikes ähnelt der auf Marathonrennern. Das Steuerrohr ist relativ lang, damit der Lenker höher liegt, das Oberrohr eher kurz. So ergibt sich eine entspannte, aufrechtere Sitzposition. Lange Radstände fördern den Geradeauslauf und erleichtern die Montage von breiten Reifen, Schutzblechen oder Gepäckträgern. Damit rücken Gravelbikes eng an Reiseräder und Randonneur-Modelle heran.
Ein weiteres Merkmal von Gravelbikes sind Scheibenbremsen, oft in Kombination mit Steckachsen. Das verleiht ihnen eine moderne Optik und das Image von technischen Vorreitern.
Waren es zunächst vor allem kleinere Marken, die das Thema besetzten, sprangen spätestens 2013 erste große Firmen auf den Trend auf. Modelle wie Anyroad und Revolt von Giant (TOUR-Test 1/2014) oder das Inflite AL von Canyon (TOUR 12/2013 und 11/2014) zeigen im Prinzip alle Merkmale von Gravelbikes. Schon jetzt ist absehbar, dass das Angebot für 2016 stark wachsen wird. Neben Cannondale und Scott haben auch Anbieter wie Bulls und Votec Gravelbikes angekündigt.
Gravel-Country Deutschland?
Ob die junge Gattung auch hierzulande den Sprung vom coolen Trend-Bike zum etablierten Rad-Typ schafft, wird sich zeigen. Skeptiker werfen ein, in Deutschland würden die passenden Strecken für die Räder fehlen. Anders als in vielen ländlichen Regionen der USA seien bei uns Nebenstraßen und Wirtschaftswege meist asphaltiert und damit auch für Straßenrenner geeignet. Sonderlich stichhaltig scheint dieser Einwand allerdings nicht. Im Prinzip ist jeder Feld- und Waldweg ideales Gravelbike-Terrain. Und davon gibt es auch in Deutschland wirklich mehr als genug.
Der Fachhandel, der für den Erfolg der Idee keine ganz unwichtige Rolle spielt, zeigt sich noch gespalten. Nicht alle Händler sind davon begeistert, in ihrem Laden eine weitere Nische zu öffnen und mit Rädern zu bestücken. Martin Klein von Cycle Klein im westfälischen Hagen will zumindest vorerst keine Gravelbikes anbieten. "Solange die Fachmedien nicht darüber berichten, kommt kein Kunde in den Laden und verlangt ein Gravelbike", sagt er. Etwas anders sieht das Dan Miessen, Geschäftsführer von Laufrad Hannover. "Wir haben in den letzten Jahren viele Crossräder verkauft. Wir wissen aber, dass die wenigsten Nutzer damit über Baumstämme springen. Eher rüsten sie Schutzbleche nach. Dafür sind Gravelbikes aber viel besser geeignet. Und selbst wenn jemand mal an einem Hobby-Crossrennen teilnehmen will: Was spricht dagegen, das mit einem Gravelbike zu tun?"
Um zu überprüfen, ob die Räder das Versprechen ihrer Vielseitigkeit einlösen, baten wir zehn Firmen, ihre Gravelbikes in den Test zu schicken. Wegen der fortgeschrittenen Saison und bevorstehender Modellwechsel waren aber nur vier in der Lage, Räder zu liefern. Zwei davon, Norco und Specialized, schickten 2015er-Modelle, die mit kleineren Änderungen auch 2016 angeboten werden.
Die gesamten Testergebnisse dieser Räder finden Sie unten als PDF-Download:
• Crema Cycles Schotter
• GT Grade Carbon Ultegra
• Norco Search Carbon Ultegra
• Specialized diverge Expert Carbon
Im Hinblick auf die Bewertung der Räder haben wir uns entschlossen, den für Crossräder gewohnten Maßstab anzuwenden; der betont die fürs Fahren im Gelände wichtige Bremsfunktion, lässt aber die Reifen außen vor, weil es Pneus, die auf Asphalt und Naturböden gleich gut funktionieren, nicht gibt. Welcher Gummi im Einzelfall der Beste ist, hängt immer davon ab, wo man gerade fährt. Weitere Aspekte, die die Schotterflitzer näher an die Crosser als ans Straßenrad rücken, sind Radstände von mehr als einem Meter und Platz für mindestens 35 Millimeter breite Reifen.
Fragt man die Hersteller, wer Gravelbikes denn kaufen soll, ist meist von zwei Gruppen die Rede. Neben sportlichen Radlern, die sich den mitunter engen Konventionen der Rennradszene entziehen wollen, werden auch immer wieder Einsteiger sowie Umsteiger vom Mountainbike genannt. Die Vielseitigkeit der Räder, ihr hoher Komfort und die moderne Technik mit starken Scheibenbremsen soll insbesondere solche Käufer überzeugen, die zwar prinzipiell mit einem Rennrad liebäugeln, sich aber nicht sicher sind, ob es ihnen ausreicht und dauerhaft Spaß macht, nur auf gut asphaltierten Straßen zu radeln.
Und was sagen die so umworbenen Zielgruppen dazu? Henri Lesewitz, Redakteur unseres Schwestermagazins BIKE, ist in vielen Sätteln zu Hause – mal als Extrem-Mountainbiker, als Rennradler, aber auch mit seinem Crosser in den Wäldern um München. Nach ausgiebiger Probefahrt konnte er die angepeilte Nische nicht so richtig entdecken. Jürgen Buchholz, 49 Jahre alter Lehrer aus Bottrop, erlag dem Reiz des neuen Konzepts jedoch schnell und bilanzierte: "Ich könnte mir vorstellen, so ein Rad zu kaufen." Buchholz fährt ansonsten regelmäßig Trekkingrad und steigt gelegentlich auf seinen 25 Jahre alten Stahlrenner. Trends in der Fahrradwelt verfolgt er höchstens am Rande.
Auf Glatten Gummis durchs Gelände gleiten?
Bei den Testfahrten wurde rasch deutlich, dass sich die Großserienmodelle von GT, Norco und Specialized in ihren Grundkonzepten sehr ähneln: Man sitzt entspannt wie auf einem Marathonrenner à la Specialized Roubaix. Mit Gewichten nahe neun Kilo sind sie weniger agil als Straßen- oder leichte Crossrenner. Sie laufen stoisch geradeaus, fahren sich unaufgeregt und federn angenehm, auch und vor allem dank der Reifen: Das GT und das Specialized rollen auf relativ voluminösen, gut dämpfenden profillosen Straßenpneus. Trotzdem bewältigen die Räder auch Schotterpassagen und Waldwege, ohne nennenswert zu rutschen. Erst auf tieferem oder nassem Untergrund spielen stärker profilierte Reifen, wie am Crema und Norco, deutlich ihre Vorteile aus.
Das Modell Schotter von Crema ist ein Sonderfall in unserem Test-Quartett. Ein Einzelstück mit toll verarbeitetem Stahlrahmen und High-End-Ausstattung, das nicht nur beim Preis in einer anderen Liga spielt; auch bei der Geometrie geht das Crema einen eigenen Weg. Mit weniger hoch positioniertem Lenker und relativ kurzem Radstand ähnelt es eher einem Crosser. Zum Gravelbike wird das Rad durch Ausstattungsdetails wie das perfekt auf die Gabel abgestimmte vordere Carbon-Schutzblech. Eingefleischte Cross-Rennfahrer können mit einem solchen Detail meist wenig anfangen. Was, bitte, soll ein Schutzblech an einem Sportgerät? Weil das Rad aber als Gravelbike deklariert ist, verpufft dieser Einwand. Der Begriff erlaubt den Herstellern neue Freiheiten, wie sie ihre Modelle auslegen. Ob als rennradähnliches Alltagsrad oder Trainingsgerät für den Winter, leichtes Reiserad oder als Spaßgerät für leichtes Gelände: Die Vorteile der Gravelbikes liegen in ihrer Vielseitigkeit. Das klingt zwar nicht unbedingt nach Trendsport, ist aber definitiv eine Bereicherung des Angebots.
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