Julian Schultz
· 29.04.2025
Gravelbikes hielt man bei Stevens zu Beginn für eine Modeerscheinung; klassische Crossräder, bis heute eine Spezialität der Hamburger, glaubte man schon längst da, wo die modischen Gravelbike erst noch hin wollten. Doch inzwischen hat man natürlich auch an der Alster das Potenzial der Gattung erkannt und deutlich komfortablere, vielseitigere und breiter bereifte Modelle aus Carbon und Aluminium im Programm. Das „Prestige“ wirkt dennoch klassisch und trägt die Referenz an die Querfeldein-Renner nicht nur im Namen. Der Rahmen ist wie mit dem Lineal gezeichnet, hoch angesetzte Sitzstreben und die für heutige Verhältnisse schmal wirkenden Stollenreifen erinnern an die Wurzeln des Geländerennrads. Dass dieses Rad aber nicht für Rennen gemacht ist, zeigt die Sitzprobe: Zusammen mit Giant, Radon und Rose gehört es zur Gruppe derer, auf denen man betont aufrecht sitzt. Schon auf den ersten Blick finden wir das Rad überraschend gut ausgestattet. Shimanos GRX-2x12-Schaltung liegt über dem Klassendurchschnitt, in den Ausfallenden drehen sich relativ leichte Markenlaufräder von Fulcrum, und auch die restlichen Anbauteile wirken hochwertig. Dass das Prestige beim Gewicht dennoch nur im Mittelfeld landet, liegt am schweren Rahmen-Set: Als einziges Modell im Test kommt es mit einer Gabel aus Alu statt Carbon.
In Fahrt finden wir am bequem geformten Lenker und dem Sattel auf Anhieb Gefallen; darüber hinaus wirkt das Stevens auf ausgedehnten Geländetouren recht unkomfortabel und bockig. Das liegt zum einen am Rahmen, der zwar extrem verwindungssteif ist, in Kombination mit der Alu-Sattelstütze aber eben auch nicht sonderlich nachgiebig. Zum anderen liegt es an den Reifen, die auf den Felgen nur 38 Millimeter breit ausfallen und entsprechend hart aufgepumpt werden müssen, damit sie nicht durchschlagen. Das ließe sich mit breiteren Pneus etwas entschärfen; Rahmen und Gabel gibt Stevens für bis zu 45 Millimeter breite Reifen frei, womit das Rad an Federkomfort und Geländegängigkeit gewinnen würde.
Grundsätzlich sehen wir das Prestige aber eher als Touren- und Reiserad auf Straßen und glatten Forstwegen. Dazu passen das vergleichsweise wendige Fahrverhalten, das sich mehr am Straßenrenner orientiert, der vergleichsweise schmale Lenker und das sehr fein abgestufte Getriebe mit zwei Kettenblättern und zwölf Ritzeln, in dem man immer den passenden Gang findet. Statt über breitere Reifen würden wir deshalb eher über solche mit etwas feinerem Profil nachdenken, die besser rollen als die griffigen Schwalbe G-One Bite.
Für längere Reisen ist das Rad geradezu prädestiniert, denn Gewinde zur Befestigung stabiler Gepäckträger gibt es am Heck und an den Gabelscheiden, Werkzeugbox und Oberrohrtasche finden am Rahmen ebenfalls einen festen Platz. Für ein Gravelbike ungewöhnlich, am Reiserad mitunter durchaus praktisch, sind stabile Aufnahmen für einen Seitenständer an der linken Kettenstrebe. Ein Lichtkabel kann durch die Gabel verlegt werden. Überhaupt offenbart der relativ nüchterne, traditionelle Ansatz des Rades seine Stärken besonders dann, wenn es individuell angepasst werden soll: Spezielle Spacer, Vorbauten oder Stützenklemmungen gibt es am Stevens nicht, die Leitungen verlaufen frei vor dem Steuerrohr, so lässt es sich mit wenig Aufwand und mit Teilen aus jedem gut sortierten Radladen umbauen, warten und reparieren.
Die Testrad-Ausstattung ist bei Stevens die hochwertigste für das Alu-Modell; unter dem Namen Gavere gibt es den gleichen Rahmen mit Shimanos 2x10-GRX für 1.649 Euro, als Tabor für 1.299 Euro, dann mit schwereren Laufrädern und mechanischen TRP-Scheibenbremsen. Unter den Namen Supreme und Supreme Pro laufen zwei Modelle, die mit Nabendynamo und Licht sowie Schutzblechen ausgerüstet sind. Das Carbon-Gravelbike Camino beginnt bei 2.699 Euro, die Top-Version mit SRAM Force und Carbonfelgen kostet 4.399 Euro.
Gewicht (25 Prozent der Gesamtnote): Für die Bewertung zählt das gewogene Komplettradgewicht in der einheitlichen Testradgröße 56–57 Zentimeter. Wir weisen zur Orientierung auch die Laufradgewichte aus. Die Notenskala ist so gelegt, dass die Note 1,0 technisch erreichbar ist: Für Gewichte unter 7,5 Kilogramm vergeben wir die Bestnote.
Komfort Heck (20 Prozent): Ein Maß für die Nachgiebigkeit bei Fahrbahnstößen, gemessen im TOUR-Labor. Es wird ein Federweg bei Belastung der Sattelstütze gemessen. Der Messwert korreliert sehr gut mit den Fahreindrücken und dem Komfortempfinden. Gute Noten bedeuten auch eine ordentliche Fahrdynamik, die sich auf schlechten Straßen und im Gelände positiv auf die Geschwindigkeit auswirkt.
Komfort Front (10 Prozent): Analog zum Heck wird die Verformung des Lenkers unter Last ermittelt. Eine gute Note bedeutet viel Federkomfort, was die Hände auf langen Touren entlastet. Starke Sprinter, die viel Steifigkeit wünschen, sollten aber eher auf einen steifen Lenker achten.
Frontsteifigkeit (10 Prozent): Wichtige Größe für die Lenkpräzision und das Vertrauen ins Rad bei hohem Tempo, ermittelt im TOUR-Labor. Es wird eine Gesamtsteifigkeit am fahrfertig montierten Rahmen-Set ermittelt, also inklusive Gabel. Die Steifigkeitswerte werden gedeckelt. Ziel sind nicht unendlich steife, sondern ausreichend fahrstabile Rahmen.
Tretlagersteifigkeit (10 Prozent): Verrät, wie stark der Rahmen bei harten Tritten, zum Beispiel im Sprint, nachgibt. Diese Messung findet ebenfalls im TOUR-Labor statt, mit einer realitätsnahen Aufspannung, bei der sich der Rahmen wie im Fahrbetrieb verformen kann.
Schaltung (5 Prozent): Die Schalteigenschaften werden im Fahrtest ermittelt. Bewertet wird nicht der Preis oder die Qualitätsanmutung einzelner Komponenten, sondern ausschließlich die Funktion des gesamten Getriebes. Dabei spielen das Gangspektrum, aber beispielsweise auch die Zugverlegung, die Qualität der Züge und die montierte Kette eine Rolle.
Bremsen (5 Prozent): Ähnlich wie beim Schalten zählt auch hier der Test auf der Straße, es fließen zusätzlich die Erfahrungen aus unseren unzähligen Tests von Bremsen mit in die Bewertung ein. Dabei wird nicht das Bauteil selbst, sondern die Funktion als Zusammenspiel von Bremskörper, Belägen und Scheiben bewertet: Wie gut lassen sich die Bremsen modulieren? Wie standhaft sind die Bremsen, wie reagieren sie bei Hitze oder Nässe, wie lang sind die Bremswege?
Reifen (5 Prozent): Bewertet werden Rollwiderstand und Grip – soweit bekannt aus einem unserer unabhängigen Reifentests oder anhand des Fahreindrucks. Die Reifenbreite hat auf die Bewertung keinen Einfluss, denn das ist eher eine Frage persönlicher Präferenzen.
Lack (5 Prozent): Der TOUR-Lacktest simuliert Steinschlag und erlaubt eine Aussage über die Haltbarkeit der schützenden Deckschicht. Ein Meißel simuliert Steinschlag oder Kettenschlagen. Beginnend bei zehn Zentimetern Höhe, wird um je zehn Zentimeter gesteigert, bis der Lack nachgibt oder die maximale Fallhöhe von 50 Zentimetern erreicht ist.
Wartung/Einstellung (5 Prozent): Bewertet wird, wie einfach sich ein Rad warten und einstellen lässt. Notenabzüge gibt es beispielsweise für benötigte Spezialwerkzeuge, besonders aufwendige Detaillösungen, herstellergebundene Komponenten oder Wartungsarbeiten, die sich nur in Fachwerkstätten durchführen lassen.
Die Gesamtnote wird arithmetisch aus den prozentual unterschiedlich gewichteten (Prozentangaben in Klammern) Einzelnoten gebildet. Sie bringt vor allem die sportlichen Qualitäten des Rades zum Ausdruck.