Als das Diverge 2014 erstmals im Specialized-Programm auftauchte, konnte noch niemand vorhersehen, welchen Stellenwert Gravelbikes in der Fahrradwelt einige Jahre später erlangen würden. Auch konnte niemand prognostizieren, welche technische Entwicklung die Gattung einmal nehmen würde. Mit Blick auf die Modellgeschichte ist das durchaus bemerkenswert. Das erste Diverge positionierte sich noch deutlich als Straßenrennrad, das mit maximal 32 Millimeter schmalen Slick-Reifen auch mal einen trockenen Feldweg ohne Defekte bewältigen konnte. Es füllte damit eine sehr kleine Nische und konkurrierte hausintern mit dem Langstrecken-Rennrad Roubaix. Die vierte Diverge-Generation, die seit diesem September auf dem Markt ist, hat mit dem frühen Ansatz fast nur noch Namen und Rennlenker gemein. Die aktuelle Stoßrichung erschließt sich schon mit Blick auf die Reifen, die inzwischen 45 Millimeter breit und gut profiliert sind: Das bevorzugte Terrain des jüngsten Sprosses liegt klar im Gelände, und das darf gern auch matschig und verblockt sein.
Gegenüber dem direkten Vorgänger wirken die Veränderungen am neuen Diverge zunächst subtil. Der Rahmen bekam eine etwas kantigere Linienführung, der Reifendurchlauf wurde auf bis zu 50 Millimeter vergrößert, es gibt im Unterrohr ein voluminöseres Staufach mit größerer Öffnung und an der Gabel weitere Befestigungsösen. Damit ist die Verwechslungsgefahr zwischen den Generationen drei und vier relativ groß, zumindest, was die Äußerlichkeiten betrifft. Markant sind weiterhin die FutureShock-Federung unter dem Vorbau, die seit Generation zwei an Bord ist, und die frei vor dem Lenker verlaufenden Bremsleitungen. Letztere sind ein Tribut an den Komfortanspruch, weil sich die Federung mit der Leitungsintegration, die heute selbst bei günstigen Gravelbikes üblich ist, kaum sinnvoll vereinen lässt.
Fans der Federung werden das klaglos hinnehmen, denn mit seinem Komfortkonzept bietet das Diverge weiterhin ein klares Alleinstellungsmerkmal. Die bis zu 20 Millimeter Federweg schlucken grobe Stöße vom Vorderrad sehr gut weg, ohne dass sich das Gesamtsystem ansatzweise unkontrolliert oder im Wiegetritt weich anfühlt. Auch ist es viel leichter und trägt optisch weniger auf als ein Gravelbike mit Federgabel. Specialized bewirbt mit dem neuen Diverge die Einführung von FutureShock 3, das besser abgedichtet und wartungsfreundlicher sein soll. In den Genuss der Top-Version 3.3, deren Ansprechverhalten sich mit einem Stellrad auf dem Vorbaudeckel während der Fahrt anpassen lässt, kommen wir mit unserem Testrad jedoch nicht. Es bleibt den beiden teuersten Varianten Pro und LTD vorbehalten. Die Modelle Expert und Sport lassen sich nur über unterschiedliche Federhärten ans Fahrergewicht anpassen. Das ist empfehlenswert, denn an unserem Testrad fanden wir die Federung deutlich zu straff und sie konnte ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Durch die Neukonstruktion ist das nun leicht in der Heimwerkstatt zu bewerkstelligen, während vorher der Gang zum Händler empfohlen wurde. Ergänzt wird die Federung am Heck durch eine nachgiebige Carbonsattelstütze, die extrem viel Flex erlaubt. Auf dem Diverge fühlt man sich damit regelrecht vom Untergrund entkoppelt.
Damit noch nicht genug der Geländetauglichkeit: Die US-Amerikaner haben auch an der Geometrie des Diverge gefeilt. Das ist vielleicht die prägendste Änderung am neuen Modell, weil sie sich spürbar aufs Fahrverhalten auswirkt. Abgeleitet vom Mountainbike wurde der vordere Rahmen länger, der Vorbau dafür kürzer. Der Lenkwinkel ist nun flacher, das Tretlager tiefer und das Hinterrad sitzt weiter hinten. Das alles folgt einem Ziel: Besserer Geradeauslauf und stabilere Pistenlage. Wirklich wendig war das Rad nie, auch ist es trotz der Carbonfelgen relativ schwer. Dennoch sind wir bei der Testfahrt zunächst irritiert, wie schwierig sich das Rad auf engen Trails und um Hindernisse steuern lässt. Besonders bei hohem Tempo müssen wir ungewohnt viele Schläge einfach mit den Reifen mitnehmen. Doch wir können uns nach einer Weile gut vorstellen, dass das Fahrverhalten für fahrtechnisch weniger Versierte recht gut funktioniert. Nicht jede oder jeder möchte hochkonzentriert durchs Gelände zirkeln wie mit einem klassischen Cyclocrossrad. In Verbindung mit der Federung und der aufrechten Sitzposition wirkt das Konzept durchaus schlüssig. Mit Gepäck dürfte sich bergab ein sichereres Gefühl ergeben, bergauf ist weniger Ausgleich auf der Fahrspur nötig – einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Canyon mit dem neuen Grizl. Die Modellpalette umfasst sechs Varianten, bis auf das Einstiegsmodell mit mechanischer Shimano GRX 1x12 für 3499 Euro kommen alle mit elektronischen Ein-Kettenblatt-Schaltungen. Das Top-Modell mit SRAM Red XPLR liegt bei 9999 Euro.
sehr komfortabel, extrem fahrstabl im Gelände
relativ schwer, vergleichsweise teuer